Winterabend in Hellersdorf

„Das darf doch nicht wahr sein: noch so spät so’n Winter!“, sagt spät am Abend im Eiffel, meinem Stammlokal am oberen Kudamm, die freundliche Bedienerin; aber bis dahin ist es noch eine lange Zeit.
Morgens früh war es der winterlichste Wintertag, den dieses Jahr bisher lieferte. Ich hatte die Absicht, nach Hellersdorf zu fahren, sobald ich Zeit dazu hätte. Aber von 9 Uhr an bin ich unabkömmlich; die Sitzung der Berufungskommission hatte schon zu spät begonnen. „Ein bisschen Schnee“, sagte der Kollege, der pünktlich war, „und der Zeitplan der Metropole kommt durcheinander.“
In einem früheren Leben war ich an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, die ihren Sitz jetzt in Friedrichsfelde hat, wo früher die Berliner Stasi ihr Unwesen organisierte, Rektor, Prorektor, Dekan und betrieb Hochschulpolitik.
Der Kollege, der damals Rektor der Fachhochschule für Sozialarbeit war, ist heute ganz was anderes; der Prorektor dagegen ist – hörte ich – immer noch (oder wieder) derselbe; die Hochschule allerdings liegt nicht mehr in Schöneberg in einem alten, engen Gebäude, über das sie Klagen führte, sondern in Hellersdorf, in einem ganz neuen, weiträumigen Gebäude, über das sie auch Klagen führt.

„Hellersdorf ist Sibirien“, soll ein Professor der Hochschule gesagt haben, die am liebsten ihren Standort in Mitte bekommen hätte. Die Wiedervereinigung Berlins hat manchen an Plätze gebracht, von denen er früher nicht mal wusste, dass es sie gibt. Aber Berlin war es trotzdem schon.
Berlin ist immer vollständiger gewesen, als manche, hüben wie drüben, es wahrgenommen haben. Die Stadt – das sind ja nicht die Gebäude und die Straßen, sondern die Menschen… Nein, das ist auch nur ein Proverb. Aus Menschen allein kann man keine Stadt machen. Stadt ist: Menschen in Gegend, und die Gegend muss so-und-so sein, damit wir sie eben nicht eine „Gegend“ nennen, sondern Stadt. Wie denn? Gehört Geschichte dazu? Stadt fängt erst an, wenn ein Stück Geschichte da ist, das man vergessen kann.
Ehe ich loskomme von Friedrichsfelde ist es fast dunkel, und als ich aus der U5 am Bahnhof Hellersdorf aussteige, ist es ganz dunkel. Der Schnee fällt dicht. Er behütet nichts, denn er ist nicht sanft und leise, sondern heftig und nass.
Hellersdorf hat schöne Straßennamen. Aus dem Bahnhof komme ich zuerst auf die Nelly-Sachs-Straße. Die Dichterin hat in Charlottenburg gewohnt, solange man sie in Deutschland wohnen ließ. Ob sie je hier war, wo jetzt ihre Straße an der Bahn entlang führt? Das glaube ich nicht. So lange ist es ja nicht her, dass das hier Feld war, Wiese, Brache, Pappelwäldchen. Auch jetzt sind die Häuser hinten noch nicht fertig, deren Bewohner unter dem Namen der in Schweden gestorbenen Nobelpreisträgerin ihre Liebesbriefe bekommen werden.
Auch Peter Weiss beendete – aus seinem unwirtlichen deutschen Vater- und Mutterland vertrieben sein Leben in Schweden. Ich gehe durch seine Straße, die sich eine Gasse nennt, aber eigentlich nichts Gassenhaftes hat, um die Hochschule herum, der über den Platz ihrer aus ihrer Vater- und Mutterstadt ausgebürgerten Namensgeberin der Schnee entgegenweht. Die Mensa ist erleuchtet, aber geschlossen. Das Studentenwerk macht bloß bis 15 Uhr auf. Viele Fenster der Hochschule sind jetzt – gegen 18 Uhr – dunkel. Zu unserer Zeit waren Hochschulen lebhafte Abendveranstaltungen. Das hat sich überall geändert. Das Fernsehen fordert uns alle.

Gegenüber der Hochschule auf beiden Seiten: Foren, Center. Das sind in ihrer aktuellen Verwendung zwei ganz moderne deutsche Wörter. Eigentlich ja keine deutschen. Aber eine Sprache, die Kraft hat, fängt sich aus anderen Sprachen die Wörter auf, die Glanz verbreiten. Marktplatz Center, Helle Zentrum.
Mehrere kleinere Örtlichkeiten hier herum heißen „Platz“, nach Alice Salomon, wie gesagt, nach Fritz Lang, nach Kurt Weill, nach Peter Weiss, sie versuchen deutsche Örtlichkeit solchen Menschen zu geben, die ein anderes Deutschland rausgeschmissen hatte; aber eigentliche Plätze sind es darum noch nicht; die eigentlichen Plätze, öffentlichen Orte der Gegend, liegen nicht draußen unterm freien Himmel, der sich jetzt so unwirtlich aufführt, sondern drinnen, im Zentrum, im Center, im Forum. „Stadt ist: Straßen und Plätze unter freiem Himmel“ – das ist vorbei.
Ich bin froh, dass ich den schneeschweren Schirm zuklappen und abklopfen kann und eintreten aus dem Halbdunkel des Straßenabends in die gepflegte Helle und Ruhe des Helle- und des Marktplatz-Zentrums, Centers. Beide Einrichtungen sind gut sortiert, genügend Snack-Bars, Café-Grills, Imbissstände, Geschäfte aller Arten, für alles, was man braucht, in sanfter Farbigkeit, freundlich bewacht von Männern, die aussehen wie aus einem amerikanischen Vorabendfilm.
Hellersdorf, denke ich, ist vielleicht eines der modernsten Stadtstücke in ganz Berlin: dieses Stück von Hellersdorf, das sich um den Markt herumordnet, dessen Attraktion auch zu dieser Abendstunde noch die Eislaufbahn ist, auf der sich die Jugend vergnügt. Die DDR hat die Menschen hierher gebracht, aber die Stadt noch nicht. Die Stadt kommt jetzt in ihrer postmodernsten Modernität: als die Kommerz- und Fastfoodstadt unterm Kunsthimmel: als die Forum- und Center-Stadt: die Innenstadt, die Stadt, die aus einer Öffentlichkeit besteht, von der man nicht weiß, ob sie nicht eigentlich Privatheit ist, die der Inhaber auch schließen kann, zumachen; dann ist die Stadt aus, zu, nicht geöffnet.
Die Öffentlichkeit, die wir dann noch erleben, besteht aus einer Vereinzelung, von der wir allerdings wissen, dass ihr Inhalt der Vereinzelung des Nachbarn gleicht: Fernsehen, für alle dasselbe Programm, auch wenn man es über fünfunddreißig Kanäle empfängt.

Hellersdorf ist viel eher New York als Sibirien, das müssten sie doch in der FHS wissen. Einen besseren Platz kann es für eine Sozialarbeiterhochschule doch gar nicht geben, als eine Stadt, die erst Stadt wird, nachdem sie längst Menschen in Großstadtmenge hat; deren Zentrum nachwächst und die also mit den Straßennamen ihre städtische Postmoderne nach ideologischen Eltern benennen kann, die eigentlich noch ganz unmodern waren.
Ästhetik der Zustimmung. Das ist der Begriff, der mir einfällt, als ich auf dem Bahnsteig die Leute betrachte, die mit mir den Zug Richtung Alex erwarten. Es herrscht eine Stimmung der Wohlerzogenheit. Hellersdorf ist ein wohlerzogener und junger Bezirk.
Die U-Bahn kommt mit einem Ganz-Raum-Zug des modernsten Typs. Ich habe ein In-Gefühl. Die Leute sind gut angezogen. Sie benehmen sich freundlich.
Neben mir sinkt sich ein Paar in die Arme, mit dem Ernst und der leisen Traurigkeit, die die Liebe begleitet, wenn sie ernst wird. Das Männerpaar auf der Bank gegenüber mit den glanz-geputzten Budapestern blickt verstohlen und – wie mir scheint – ein bisschen neidisch. Nein, sage ich mir nach einiger Zeit: nicht neidisch … eher mitfühlend.
Dieser Zug der U5 ist eine Center-Straße auf Reisen. Hellersdorf erstreckt sich bis zum Alex. Dreiunddreißig Minuten. Ich habe ganz vergessen, dass es draußen Winter ist. Die Modernität kommt von der Peripherie, das Zentrum muss sich erst noch fügen. „Unser Abend wird auch schön“, sagt der ältere Mann zum jüngeren.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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