Von Adlershof nach Chicago

Die sich ans Adler­ge­stell anleh­nende, besser: sich von ihm fort­ent­wi­ckelnde Stadt­ge­gend zwischen Glie­ni­cker Weg, Hand­jery- und Dörp­feld­straße ist ein eige­ner Kiez. Ich nenne ihn “Süßer Grund”. Als Mitte des 18. Jahr­hun­derts die Besied­lung der Gegend begann, soll das Gras, das aus dem frucht­ba­ren Boden spross, süß geschmeckt haben. Süßer Grund hieß lange Zeit der mit der Zeit immer städ­ti­scher werdende Platz, der auch heute noch den Beginn des Kiezes darstellt. Am Sonn­abend saß ich dort in der Früh­lings­sonne. Platz der Befrei­ung heißt der süße Ort seit 1948. Drei Jahre zuvor war hier die letzte große Schlacht des Zwei­ten Welt­krie­ges zu Ende gegan­gen; man sagt: auf dem Adlers­ho­fer Bahn­hofs­vor­platz hätten sich zwei sowje­ti­sche Angriffs­ar­meen verei­nigt, und damit war die Schlacht um Berlin aus. Das Denk­mal, das auf dem Befrei­ungs­platz an dieses fast welt­his­to­ri­sche Ereig­nis erin­nert, kann man in seiner zurück­hal­ten­den Beschei­den­heit kaum ein Denk­mal nennen. Jetzt denkt ja auch, denke ich, das Land nicht mehr an den Krieg von gestern, nach­dem es vorige Woche begon­nen hat, die Kriege von heute zu führen.
Auf den Platz laufen zwei Stra­ßen zu; die eine heißt nach Georg Weerth, einem revo­lu­tio­nä­ren deut­schen Schrift­stel­ler, für den es, hörte ich, in Havanna auf Cuba, wo er gestor­ben ist, ein Denk­mal gibt, aber in Detmold, wo er gebo­ren ist, nicht; Leben und Taten des berühm­ten Ritters Schnapp­hahn­ski, 1849 bei Hoff­mann und Campe, Heines Verle­gern, erschie­nen: das wäre beispiels­weise Lektüre für den “Bismarck von Adlers­hof” gewe­sen, jenen Ritt­meis­ter von Oppen, der die Toch­ter des Schnaps­fa­bri­kan­ten Radi­cke gehei­ra­tet hatte und damit auch dessen Vermö­gen, und nun die ganze Gegend mit Poli­zei­ge­walt regierte, die Sozi­al­de­mo­kra­ten verfol­gend, wo er nur konnte. Er ist verges­sen; die Oppen­straße heißt längst nach dem ehema­li­gen Sozi­al­de­mo­kra­ten (und späte­ren Einheits­so­zia­lis­ten) Otto Franke, sie ist auch nicht zurück­ge­nannt worden ins Ritt­meis­ter­li­che; das war der Senats-Geschichts-Berei­ni­gungs-Kommis­sion doch zuviel; die Radi­cke­straße dage­gen hat sie wieder aus dem Verges­sen hervor­ge­holt, den KP-Schrift­stel­ler Peter Kast aus der Erin­ne­rung verab­schie­dend.

Die Herr­schen­den denken zu allen Zeiten, dass die Geschichte ihnen gehört. Dafür gibt es in Berlin Beispiele die Masse. Andere Typen halten sich dage­gen völlig unbe­trof­fen von den Ideo­lo­gien. Der Herr Abt zum Beispiel. Ein Mann des 19. Jahr­hun­derts, Hofka­pell­meis­ter in Braun­schweig, ein Kompo­nist belieb­ter Männer­chöre, die das in den Ersten Welt­krieg taumelnde deut­sche Bürger­tum gern schmet­terte: “Gute Nacht, du mein herzi­ges Kind”.
Die Weerth­straße hieß noch nach einem gräf­li­chen kaiser­lich-könig­li­chen Innen­mi­nis­ter, aber die Abt- war längst Abt‑, als der Mann hier wirkte, dessent­we­gen ich heute zunächst hier­her gekom­men bin. Ludwig Hilbers­hei­mer; die Lexika nennen ihn heute einen Ameri­ka­ner, ein Haup­theo­re­ti­ker des Städ­te­baus, schließ­lich Profes­sor in Chicago; gebo­ren war er aber in Karls­ruhe und berühmt gewor­den in Berlin und in Dessau, am Bauhaus. 1927 hat er ein Buch geschrie­ben, aus dem in Zustim­mung und Kritik die erste deut­sche Nach­kriegs­zeit dieses Jahr­hun­derts viel zitierte: “Groß­stadt­ar­chi­tek­tur”. Viel gebaut hat Hilbers­hei­mer nicht. Ich kenne in Zehlen­dorf ein klei­nes Einfa­mi­li­en­haus; hier in der Abt-/Ecke Anna-Seghers-Straße steht eine kleine Wohn­an­lage, an der er mitge­baut hat, Wohn­an­lage Süßer Grund. Die Fassa­den sind nicht in bestem Zustand, der Putz bröckelt ab, aber dass die Fassa­den­ent­wer­fer sich was gedacht haben, sieht man auch nach 70 Jahren noch.

Mancher, der Bescheid weiß, wird heute viel­leicht diese Bauten eines Spit­zen­theo­re­ti­kers der Moderne verglei­chen mit der gerade reno­vier­ten Haus­burg aus dem 19. Jahr­hun­dert an der gegen­über liegen­den Stra­ßen­ecke, deren Archi­tekt in keiner Ruhmes­liste aufge­führt wird. Je mehr wir von der Geschichte verges­sen (oder niemals gewusst haben), umso befrie­di­gen­der erschei­nen uns ihre Hinter­las­sen­schaf­ten. “Die Groß­stadt ist mit ihrer Raub­bau­ten­denz eine Schöp­fung des allmäch­ti­gen Groß­ka­pi­tals”, sagte Hilbers­hei­mer, “gegen die Profit­gier muss ange­baut werden”.
Als dieser Häuser­block im Auftrag der Mecha­ni­schen Fein­we­be­rei Adlers­hof entstand, war Deutsch­land erst seit gut zehn Jahren eine Repu­blik mit einer — in Weimar bedeu­tungs­voll verab­schie­de­ten — Verfas­sung. Eine berühmte Bestim­mung aus dieser Verfas­sung, die als Teil des Grund­ge­set­zes auch heute noch gilt, heißt: “Es besteht keine Staats­kir­che”. Das bedeu­tet u. a.: an den Schu­len ist Reli­gi­ons­un­ter­richt kein Pflicht­fach. Die Berli­ner Gedenk­ta­fel aus KPM-Porzel­lan an der gelb-rot bezie­gel­ten Anna-Seghers-Schule ist schwer zu lesen, weil man nicht rankommt. Das mäch­tige Schul­ge­bäude steht gegen­über der Frie­den­straße wie ein Schloss. “In einem Teil dieses Gebäu­des … wurde 1920 die erste welt­li­che Schule in Berlin einge­rich­tet. Anders als im konfes­sio­nell gebun­de­nen preu­ßi­schen Schul­sys­tern war hier der Reli­gi­ons­un­ter­richt kein Pflicht­fach mehr.” Deutsch­land hatte eine Verfas­sung und fing sogar an, sich daran zu halten.

Es ist eine ruhige, gesetzte Gegend, die sich viel­fach restau­riert. Solche Kieze gibt es viele in Berlin. Sie gehö­ren zu den Charak­te­ris­tika der Metro­pole. Wer hier verweilt, kann sich mitten in Berlin fühlen, obwohl er nicht mal mitten in Trep­tow ist. Das gedeckte neue Weiß der Häuser hinten am Ende der Nipkow­straße unter­bricht alle Zeit­ge­dan­ken mit “Oh” und “Ah”. Die Wohn­an­lage zwischen Nipkow‑, Otto-Franke-Straße und Glie­ni­cker Weg sieht — aufs Preis­wür­digste restau­riert — schon auf den ersten Blick toll aus, aber erst wenn man verweilt, durch die Höfe prome­niert, die Berta-Waterst­radt-Straße bis zu ihrem Sack­gas­sen­ende geht, wo die Tisch­ten­nis­ti­sche stehen und alte Frauen in der Sonne sitzen, sieht man, dass diese auch 70 Jahre alte Wohn­an­lage in viele Muster- und Lobe­bü­cher hinein­ge­hörte, in denen sie bisher nicht steht, weil sie nicht von einem Archi­tek­ten entwor­fen ist, der zu den Stars der Moderne zählt, sondern von einem — ich weiß gar nicht, was er gedacht und sonst getan hat und wie er endete -, ohne die die Kultur schließ­lich nichts ist als ein Versuch und Entwurf: Er hieß Werner Berndt, ich kenne sonst von ihm nur die Brot­fa­brik in der Weddin­ger Maxstraße, die kein Brot mehr bäckt. Wer wissen will, was aus der welt­li­chen Weima­rer Repu­blik hätte werden können, der kann hier­her kommen. Und sich die Glas­bän­der angu­cken, die die Trep­pen­häu­ser abbil­den, die bunten Kera­mik­plat­ten und die Farb­leis­ten, vor allem die Balkon­gon­deln, die mit einem einfa­chen Metall­schwung um die Haus­ecken den Wohn­blocks Möglich­kei­ten abge­win­nen zu träu­men.
Aus der Hand­jery­straße sehe ich zurück zu den weiß­strah­len­den Berndt-Häusern, die an einem Sonn­abend wie diesem sogar die gedrückte Zeit­stim­mung verbes­sern. Gleich werde ich bei Vene­zia vor der Markt­pas­sage einen café latte trin­ken und denken: Was wäre Berlin ohne die Auslän­der? In bezug auf Ludwig Hilbers­hei­mer, den Baumeis­ter aus der Abtstraße, könnte ich auch sagen: Was wäre die euro­päi­sche Moderne ohne das trans­at­lan­ti­sche Amerika? Das wollen wir nicht verges­sen, während wir über die kapi­ta­lis­ti­schen Rüstungs­bosse klagen, die jetzt mit Bomben auf den Balkan ihre Kassen füllen. “Gegen die Profit­gier muss ange­baut werden!” rief Hilbers­hei­mer; die Deut­schen hauten ihm dafür auf den Mund, die Ameri­ka­ner gaben ihm eine Profes­sur. “Ich weiß nicht: soll ich weinen? / Oder wein ich lieber nicht?”

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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3 Kommentare

  1. Sie loben die Archi­tek­tur bestimm­ter Häuser in Adlers­hof. Sie ordnen die Bauten WERNER BERNDT zu. Kann es sein, dass das ein Sohn des Archi­tek­ten und Baumeis­ters KURT BERNDT ist ? Gern wüsste ich das. Es gäbe verwandt­schaft­li­che Bande. Danke für Info.

  2. ich bin der orts­chro­nist dipl.-ing.rudi hinte von adlers­hof, von dem auch manche der anga­ben stam­men, aus meinen beiden büchern über Adlershof.Artike ln in der “Adlers­ho­fer Zeitung” und Vorträgen.Wir könn­ten ihrer Frage nach­ge­hen. mit freund­li­chen grüs­sen rudi Hinte

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