Der Halbpart des Vergessens

Der Name Vinetas wird – weil er die Endstation der U2 benennt – oft gehört in Berlin. Ruhleben – Vinetastraße: eine sehr mythologische Reisebezeichnung, von der Friedhofsstadt zur Stadt unter den Wassern, vom Ende zum Untergang, in einem nachdenklichen Hinunter-und-hinauf: Die U2 ist eine Attraktion; man fährt in Sichtbarkeiten und in Träumen. Ich bin ein bisschen benommen, als ich aus der Station Vinetastraße unter der Straße heraufkomme.
Wo man wohnt, bedeutet die Stadt jeweils ihre Gegenwart, solange man nicht selbst ganz aus Vergangenheit ist, und kann mit Gestrigkeiten verglichen werden. Für den puren Besucher (der nur aus dem benachbarten Bezirk zu sein braucht und nicht erst aus Bad Schwartau) besteht sie dagegen oftmals nur aus den abstrakten Vorstellungen von einer allgemeinen Vergangenheit, in der die Lokalitäten nur die Glitzerpunkte eines zufälligen Lichtscheins abgeben.

Das erste Licht wirft Elsa Brändström. Zuerst gehe ich durch ihre breite Straße, bis sie sich an der Max-Lingner- vor vorragenden Vorgärten zusammenzieht. Ehe ich nach Norden abbiege durch die Siedlung der neueren, schnell alternden Häuser, die den Namen von Arnold Zweig hochhalten mit einer platzweiten Vorderund der eigentlicheren Hinter-Straße, suche ich mir zusammen, was ich über Elsa Brändström weiß: die schwedische Diplomatentochter, die sich um deutsche Kriegsgefangene in Sibirien kümmerte: der „Engel von Sibirien“; gerade an ihrem 48. Geburtstag, 1936, benannte Berlin, als Hitler es der Welt vorzeigte, diese Straße nach ihr. Weil sie geholfen oder weil sie Deutschen geholfen hatte?
In DDR-Zeiten, heißt es, hat man die Straße in Lindenpromenade zurücknennen wollen. Das Licht, das die Geschichte auf die Vergangenheit wirft, flackert. „Aufbau der Republik“ heißt das Bild, mit dem in den beginnenden 50er Jahren Max Lingner das Reichsluftfahrtministerium in der Wilhelmstraße ins Haus der Ministerien umfunktioniert hat. Ich versuche mir, hier in der Max-Lingner-Straße, dieses bekannteste Max-Lingner-Bild vorzustellen, aber ich kann nur den Eindruck von Buntheit reproduzieren, vielleicht war es Kind- und Vertraulichkeit, über der jetzt die Planen des Bundesfinanzministeriums hängen. Die DDR hat ihre Unschuld spätestens beim Einmarsch der NVA in die CSSR verloren, aber vielleicht schon längst früher, vielleicht schon 1950 bei den Prozessen gegen die Zeugen Jehovas, die Hilde Benjamin aus dem Obersten Gericht drakonisch führte.

Ich stehe jetzt in der Binzstraße. Das Haus Nummer 50 erstaunt durch die unrenovierte Schwärze, mit der es zwischen seinen hell erneuerten Nachbarhäusern sozusagen übriggeblieben ist und herüberragt in diese Berliner Republik, die die friedliche Unschuld ihrer Bonner Vorgängerin mit Bombenflügen gerade bricht. Wer hat die Gedenktafel fortgenommen, die an Nr. 50 seit 1986 angebracht war? Die schlichte Ersatztafel sagt: Hier hat Georg Benjamin gewohnt, Schularzt im Wedding, Stadtverordneter der KPD, 1942 ermordet in Mauthausen.
Die Benjamins aus dem Berliner Westen waren reiche Leute; der Vater war Teilhaber des Lepkeschen Auktionshauses in der Kochstraße, Aktionär, Aufsichtsrat anderer Firmen, Anteilseigner an der legendären Scala; später hat er wohl nur noch Aktiengeschäfte gemacht; aber sich darüber ausgeschwiegen. Deshalb schweigt – wie über ein Geheimnis – auch sein berühmter Sohn Walter darüber, der Schriftsteller, Kritiker, Essayist, den seine Freunde von der kritischen Theorie (kann man sagen) zweimal verrieten, bevor und nachdem er sich, von Emigration und Verfolgung erschöpft, auf halbem Wege nach Amerika am 26. September 1940 in dem Pyrenäenort Port Bou das Leben genommen hatte; seit 1993 gibt es dort eine Gedenkstätte mit einem Kunstwerk, das sich einen Titel nach einem berühmten Benjamin-Titel gibt: Passagen; Wege hindurch.

Der andere Sohn des reichen Juden studierte Medizin und widmete sich – wie übrigens viele jüdische Ärzte – sozialen Aufgaben in den Berliner Armenquartieren. Auch das bestrafte das deutsche Vaterland mit dem Tode. Walter Benjamin, der auch über Berlin viel geschrieben hat, hat über seinen Bruder völlig geschwiegen (übrigens auch über seine Schwester, mit der er eine Zeitlang zusammengelebt hatte und die den Deutschen entkam). Von der Geschichte ist die Hälfte fort, ehe sie erzählt wird. Georg Benjamin, der Arzt, war mit der Juristin Hilde Lange verheiratet. Rechtsanwältin, Staatsanwältin, Richterin, Professorin, die „rote“ Hilde, nach Max Fechner, der sich erinnerte – wer erinnert sich noch an ihn? Justizministerin der DDR. Eine Unrechtsrichterin wird man sagen können, ebenso wie: eine verdiente Frau. Wenn wir im Augenblick unseres Todes, unser „ganzes Leben“ schnell an uns vorüberlaufen sehen, ist es doch bloß die Hälfte.
Das bucklichte Männlein“ heißt der Text von Walter Benjamin, in dem das steht; er beschließt sein schönes Buch „Berliner Kindheit um 1900“. Als ich versuche, die Kinderverse über das bucklichte Männlein zusammenzukriegen, bin ich über Obernburger Weg und Laudaer Straße bis in den Retzbacher Weg vorgewandert, der den grasgrünen, aschenroten Sportplatz begrenzt und an dem die Häuser tatsächlich liegen wie gelandete Luftschiffe.
Angeblich haben die Bauten an Prenzlauer Promenade und Retzbacher Weg den Volksmundnamen „Zeppelinhäuser“. Die weltberühmten Zeiss-Werke in Jena hatten das Problem, für ihre weltberühmten Himmelsanimationen, die Zeiss-Planetarien, Himmelsabbildungen in Beton: Kuppeln zu bauen; das Patent bekamen Zeiss-Ingenieure zusammen mit der Betonfirma Dyckerhoff und Widmann; deren Tochterfirma Dywidag baute Ende der 20er Jahre hier um den Kissingenplatz; wollte den ganzen Sportplatz umbauen; dazu ist es mit den Tonnenschalen-Dächern nicht gekommen, die Zeppeline sind am Retzbacher Weg liegen geblieben; 70 Jahre liegen sie also jetzt da.
Freundliche junge Frauen kommen aus dem Hof und grüßen mit freundlichen Namensausrufen den hinter seinem Hundchen die Blöcke umschlurfenden Alten, von dem ich mir vorstellen könnte, dass er seit 1930 hier wohnt, seine eigene Geschichte der deutschen Geschichte entgegenhaltend, aber vielleicht auch streichend, verdrängend, was der Anteil des bucklicht Männleins ist.

Die Gegend um den Kissingenplatz ist in vielfacher Hinsicht ein Höhepunkt. Die Wohnsiedlung an Kissingen-, Stubnitz-, Granitz-, Karlstadter Straße und Miltenberger Weg, die die GSW gerade so geschmackvoll renoviert, dass sie teilweise wie neu wirkt, diese Siedlung – wie gesagt – die teils noch so bedürftig aussieht, ist ein Höhepunkt des Wohnungsbaus der Weimarer Republik. Mebes und Emmerich (und ein bisschen Jacobus Goettel) die Architekten, Richter und Schädel die Baufirma, der Beamten-Wohnungs-Verein Neukölln und die Baugenossenschaft Steglitz die Bauherren, 1925 bis 1930. Das waren die besten Jahre der Republik von Weimar; aber 1925 wurde Hindenburg, der Kriegsherr, zum Republikpräsidenten gewählt, weil die Republikaner sich nicht einigen konnten, und manche Bürger sowieso die Achseln zuckten; 1929 starb Stresemann, an den sich ein Vielleicht noch immer knüpfte und Hermann Müller, der letzte SPD-Kanzler vor Willy Brandt, trat zurück.
Und der jetzige SPD-Kanzler? … Nein nein, so schnell geht die Geschichte nicht. Oder doch? Die Hälfte ist immer schon fort: „Will ich in mein Stüblein gehn,/ Will mein Müslein essen:/ Steht ein bucklicht Männlein da,/ Hat’s schon halber ‚gessen.“: der graue Vogt – von dem Walter Benjamin wusste, dass er von jedwedem Ding, das an uns kommt, den Halbpart des Vergessens eintreibt. Das Kinderlied bittet, fürs Vergessene zu beten. Wir müssten uns stattdessen wirklich erinnern.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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