Fischerinsel

Viel­leicht ist Berlin nirgendwo mehr Berlin als auf der Fischer­insel. Wenn das wahr ist, dann ist Berlin im Mittel­punkt seines Wesens ebenso Berlin wie Nicht­ber­lin: etwas Gegen­sätz­li­ches, sich selbst Wider­spre­chen­des, aber nichts Wider­sprüch­li­ches.
… Na ja, mag sein, viel­leicht: aber mehr von solchen philo­so­phi­schen Sätzen darf ich nicht versu­chen, wenn es berli­ni­sche Sätze blei­ben sollen. Hegel hat zwar viele Jahre in Berlin gelebt, aber ein Berli­ner war er nicht.
Es ist gerade sechs Uhr am Abend. Ich hätte mich früher aufma­chen sollen, zu einer leben­di­ge­ren Zeit. Als ich am Spit­tel­markt, der jetzt wenig Mark­ti­ges hat, aus der Unter­welt der U2 herauf­komme, sind nur Stra­ßen­bau­ar­bei­ter da; sie verstel­len die Wall­straße, auf der sie den damp­fen­den Asphalt platt­wal­zen mit ener­gi­schen klei­nen roten Walzen; der Walzen­füh­rer steigt zum Pissen nur eben von seinem hohen Sitz herun­ter und blickt sich nach Passan­ten nicht mal um.

Die Fischer­insel liegt jenseits des Spree­arms. Sie besteht aus sechs Punkt-Hoch­häu­sern, die man viel­leicht auch als sieben zählen kann. Diese Fischer­insel ist gerade mal 30 Jahre alt. Ich war in West­ber­lin schon Rich­ter am Land­ge­richt (und hatte das jugend­li­che Gefühl, Einblick und Durch­blick zu besit­zen), als es hier noch ganz anders aussah. Aber ich kam selten hier­her. Als ich das zweite Mal kam, hatte der Aufbau von P2 schon begon­nen. Die Fischer­insel ist mir fremd gewor­den, ehe sie mir vertraut war. Jetzt finde ich sie … welches Adverb kann ich wählen? ein schlich­tes: schön. Mir gefällt die Fischer­insel sehr. Die Häuser müssen reno­viert werden. Die Mieter, manche, soll­ten freund­li­cher mit ihnen umge­hen. Auch die BeWoGe sollte viel­leicht Vorkeh­run­gen tref­fen … Aber abge­se­hen davon: Wo in Berlin könnte man berli­ni­scher wohnen als hier? Das Büro der BeWoGe in Nummer 9 bietet im 1. Stock von Nummer 4 eine 4‑Zim­mer-Wohnung, 97,91 qm, an für 1250 DM warm, in Nummer 6 73,02 qm für 1000 DM. Mitten in Berlin, doch ganz für sich, Blick über die ganze Stadt, nichts entginge mir.

Ich gehe nun am Ufer entlang, über den Sand­weg, der früher bis an die südöst­li­che Spitze der Spree­insel Fischer­gracht hieß. Ist es über­haupt rich­tig, frage ich mich, sich hier die Vergan­gen­heit vorzu­stel­len, von der nichts mehr, aber auch gar nichts, vorhan­den ist? Die edlen Häuser gegen­über am Märki­schen Ufer, das über Jahr­hun­derte “Neu-Cölln am Wasser” hieß, sind künst­lich hier, hier­her versetzt von ande­ren Stadt­stel­len, sie sind nicht hier gewach­sen: eine Muse­ums­front, Pseu­do­ge­schichte.
Die Fischer­insel — das ist Alt-Cölln, nicht Berlin, das weiter nörd­lich lag; dann kam die Stadt­mauer, die Festungs­bas­tio­nen, die die Fried­richs­gracht zu einer engen Gasse mach­ten, dann ein schma­les Stadt­stück, nicht mal bis zur Neuen Komman­dan­ten- und Alten Jakobstraße: das nennt Sotz­mann auf seinem Plan von 1798 — da war Moses Mendels­sohn schon tot und die Aufklä­rung war aus -: Neu-Cölln. Während ich also nun auf einer der Bänke gegen­über der Mühlen­damm­schleuse sitze, die Hoch­häu­ser vom Typ P2 vor Augen, könnte ich also denken: hier fing Berlin an, wenn es auch Kölln hieß; aber ich denke es lieber nicht, denn das wären ganz will­kür­li­che Gedan­ken. Geschichte ist gar nichts Loka­les. Wo die Gedenk­ta­feln stehen, ist die Besich­ti­gungs­ge­schichte, die Kaffee­tisch­ge­schichte: ich war da, wo auch … Aber wir waren ja nicht da; die Zeit, die vergan­gen ist, ist vorbei, an uns ist sie vorüber­ge­gan­gen, ohne uns zu sehen.

Bis zu den Hoch­häu­sern auf der Fischer­insel, die jetzt reno­vie­rungs­be­dürf­tig daste­hen und klas­sisch schön ausse­hen, sobald sie reno­viert sind (aber nicht mit solchen Pissoir-Plat­ten wie sie an Haus Nr. 1 probiert werden!), bis zu ihrer Geburt wären unge­fähr andert­halb Jahr­zehnte DDR-Geschichte, vom IV. Partei­tag an, zu erzäh­len, mit Kurt Lieb­knechts Rede: “Breite Einfüh­rung der Metho­den unse­rer Neue­rer… “Es dauerte aber ziem­lich lange, bis Stall­knecht, Felz, Kuschy, Schmie­del und Zumpe den (oder das?) P2 fertig hatten: einen inter­na­tio­na­len Haus­typ, in dem Corbu­sier und Scharoun zu erken­nen sind und über­haupt die neue Zeit, die nun auch längst eine alte ist: Einfach­heit und Varia­bi­li­tät: “Die Wohnung wird zu einer vom Archi­tek­ten vorbe­rei­te­ten Möglich­keit für die Bewoh­ner, sich selbst an der Gestal­tung der Umwelt zu betei­li­gen”. Ach, sagt da heute mancher, der nicht Bescheid weiß. Tatsäch­lich sind aber Jahr­hun­derte vergan­gen, in denen die Leute, die hier auf der Fischer­insel wohn­ten, über­haupt gar nichts zu sagen hatten. Daran hilft kein Michael Kohl­haas vorbei, nicht Zille oder Otto Nagel: das war alles nur Verklä­rung. Oben auf der Insel wohnte der Fürst, hier unten wohn­ten die Armen, die Opfer der Geschichte, die selten wuss­ten, wie ihnen geschah. Auch die nicht, die — Günter Still­mann erzählt es, ein Jude von hier — erst Kommu­nis­ten, dann Nazis waren. Scher­lin­sky, der KP-Führer des Fischer­kiezes, beklagte sich — Herbert Wehner berich­tet das — über den zu großen Einfluss von Juden in der KP. Auch Gers­hom Scholem wäre ein Beispiel, der große jüdi­sche Kabba­list, ein fast fana­ti­scher Anti­kom­mu­nist, der auch von hier­her stammt und der schon vor der Nazis, weil er sah, was kommen würde, nach Paläs­tina ging — wenn man sein Leben vergli­che mit dem seines jüngs­ten Bruders, des kommu­nis­ti­schen Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ten Werner Scholem, der also auch von hier stammte und dessen Leben in Buchen­wald endete: die Lebens-Voraus­set­zun­gen diesel­ben, aber die Ausfüh­rung eine ganz andere.
Die Fischer­insel, früher: der Fischer­kiez, ist nur eine Episode. Früher gab es hier neun kleine Stra­ßen und Gassen, die im Laufe der Geschichte 14 Namen hatten, jetzt heißt die Adresse aller 2000 Insel­be­woh­ner einfach “Fischer­insel”, und keine Fischer­insel-Geschichte ist älter als 30 Jahre. Schon die Nazis woll­ten hier alles abrei­ßen, sie haben sich dann für den Ghet­to­kiez hinter der Volks­bühne entschie­den: da wohn­ten mehr Juden, anfangs sagten sie noch “nicht-arische Damen und Herren Eigen­tü­mer”.

Ein älte­res, nein: ein altes Paar geht auf dem roten Sand­weg spazie­rend vorüber, Hand in Hand, in rühren­dem Einver­ständ­nis, die Liebe über­stand die Jugend. Drüben unter der Pergola an der Gertrau­den­brü­cke können sie Halt machen und das letzte Stück des städ­ti­schen Sonnen­un­ter­gangs betrach­ten. Kaiser’s hinter der Well­blech­fas­sade hat bis 20 Uhr auf. Das “Ahorn­blatt”, ein Anfangs­lo­kal, ist zu; wie es aussieht: für immer; Petra Pau lächelt noch von den verblass­ten Plaka­ten; sie hat den Bundes­tags­wahl­kreis hier gewon­nen, knapp gegen Thierse, der den Bundes­tag jetzt durch einen Krieg steu­ert; auch im Abge­ord­ne­ten­haus wird die Gegend von einer PDS-Abge­ord­ne­ten vertre­ten. Im Bier­gar­ten “Zum Fischer­kiez” gibt es sechs Sorten Bier vom Fass. Die Fischer­insel gefällt mir. Sie gefällt mir sehr. Weil sie sie selbst ist. Und ein Beispiel für die Belang­lo­sig­keit der Geschichte.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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