Lebenswandel

Der junge Mann sah genauso aus, wie ich es echt nicht leiden kann: Dunk­ler Anzug, Krawatte, dazu ein etwas affek­tier­tes Verhal­ten. Nach dem Motto “Verwöhn­ter Junge aus reichem Haus”. Er kam nach Mitter­nacht aus dem Ritz Carl­ton, vor dem ich mit dem Taxi bereits seit einer drei­vier­tel Stunde wartete. Hier kann man nachts manch­mal gute Touren abfas­sen. Manch­mal.
“Könn­ten Sie mich bitte in den Club Felix fahren?”
Immer­hin gehörte er nicht zu der Sorte Snob, die mich ihre Verach­tung für meinen Job spüren lassen.
“Klar kann ich, er ist ja nur 500 Meter weiter.”
Insge­heim hatte ich gehofft, dass er das nicht wusste (was auch stimmte) und sich dann entschei­den würde, die kurze Stre­cke zu laufen (was er nicht tat).
In den zwei Minu­ten während der Fahrt saß er neben mir und sagte kein Wort. Dort ange­kom­men stieg er aus, gab noch einen Euro Trink­geld und ich stellte mich als etwa Zehn­ter hinten an die Taxi­schlange an.

Wenige Minu­ten später klopfte er wieder ans Fens­ter, ob er wieder bei mir mitfah­ren dürfte. Natür­lich darf er.
Er erzählte, dass er wegen seines jugend­li­chen Ausse­hens nicht rein­ge­las­sen wurde, obwohl er doch schon 20 ist. Aber leider hatte er seinen Ausweis verges­sen.
“Also zurück zum Ritz Carl­ton?”, wollte ich wissen.
“Nein. Können wir einfach irgendwo hinfah­ren, wo es schön ist?”
Ok, mit dieser Antwort hatte ich nun nicht gerech­net. Und wirk­lich schön ist es im Berli­ner Winter auch nirgends. Aber ich bin dann um das Bran­den­bur­ger Tor und den Reichs­tag herum gefah­ren und hab dort neben der Spree ange­hal­ten.

In den weni­gen Minu­ten habe ich schon eini­ges von ihm erfah­ren. Dass sein Vater reich ist und die Freun­din für ihn ausge­sucht hat — “Wie bei den Arabern!” Dabei mag er sie über­haupt nicht. Eigent­lich mag er über­haupt keine Frauen. Aber das zuzu­ge­ben, wäre wohl das Ende der fami­liä­ren Bezie­hung, jeden­falls was seinen Vater betrifft.
“Komisch, ich habe bisher noch mit nieman­den darüber gespro­chen. Aber jetzt plötz­lich mit Dir.”
“Das ist ok, kein Problem. Ich habe mein schwu­les Coming out ja recht früh gehabt, aber diesen Konflikt hab ich schon bei vielen live miter­lebt. Und ich weiß, wie sehr einen das belas­ten kann. Trotz­dem gibt es auf Dauer keine Alter­na­tive dazu, zu seinem Gefühl zu stehen und auch die Konse­quen­zen zu tragen.”
“Für meinen Vater bin ich dann kein rich­ti­ger Mann.”
“Das biste ja auch noch gar nicht. Aber wenn Du das tust, dann verhältst Du Dich konse­quent und so, wie DU willst. Manche würde das sicher erst recht männ­lich nennen.”
“Ich habe schon 1000 mal darüber nach­ge­dacht, aber ich trau es mich einfach nicht.”
“Stell Dir einfach vor, wie es wäre, das noch jahre­lang oder sogar Dein ganzes Leben hindurch zu verste­cken. Ist das wirk­lich weni­ger schlimm, als einmal über den Schat­ten zu sprin­gen?”
“In meinem Leben würde sich dann vieles zum Nega­ti­ven ändern.”
“Ja, viel­leicht. Aber das ist nicht so schlimm. Dann musst Du Dein Leben eben mehr selber orga­ni­sie­ren. Unab­hän­gig zu werden ist ja nicht schlecht, oder?”
Wir saßen dann einige Minu­ten schwei­gend da, das Taxa­me­ter zählte eben­falls schwei­gend lang­sam vor sich hin. Ein biss­chen hatte ich ein schlech­tes Gewis­sen deswe­gen, immer­hin war er in einer Krise und ich verdiente daran. Ande­rer­seits war zu wenig Geld nicht sein Problem.
“Lass uns mal zurück­fah­ren, ok?”

Am Hotel ange­kom­men, bezahlte er die 16 Euro mit einem Zwan­zi­ger und meinte dann, ob ich noch kurz in sein Zimmer mitkom­men könnte. Klar, warum nicht, endlich sehe ich mal ein Hotel­zim­mer, das ich mir mein Leben lang nicht leis­ten kann. Der Door­man begrüßte mich wie einen Gast des Hauses, obwohl er mich natür­lich als Taxi­fah­rer kennt.
Oben ange­kom­men, mit Blick auf den Pots­da­mer Platz, sagte mein Fahr­gast, den ich mal Ludwig nenne, dass er eigent­lich gar nicht weiß, ob er wirk­lich schwul ist. Denn sexu­elle Erfah­run­gen hatte er bisher nur mit seiner Freun­din.
“Du musst Dich ja auch nicht für eine einzige Seite entschei­den. Viele fühlen sich zu beiden Geschlech­tern hinge­zo­gen, da kommts eben auf den jewei­li­gen Menschen an.”
Darauf ging Ludwig aber gar nicht ein. “Hättest du Lust auf mich?”
Mit diesem Ange­bot hatte ich nun nicht gerech­net, auch wenn das Mit-nach-oben-kommen ja meis­tens sowas bedeu­tet.
Ohne Jacket und seine blöde Krawatte fand ich ihn schon recht attrak­tiv und er brauchte sich auch nicht wirk­lich viel Mühe zu geben.

Als wir uns ein paar Minu­ten später wieder anzo­gen, sagte er plötz­lich barsch: “Ich bin nicht hetero und auch nicht bi. Ich will das nicht mehr. Und ich mache jetzt mit meiner Freun­din Schluss!” Dabei holte er sein Handy raus, wohl um ihr eine SMS zu schi­cken. Aber als er mein skep­ti­sches Gesicht sah, schal­tete er es wieder ab: “Nicht so gut?”
“An Deiner Stelle würde ich lieber direkt mit ihr spre­chen. Ich finde Bezie­hun­gen per Handy zu been­den einfach nur feige.”
“Das stimmt, da hast du recht.”

Auf meinem Weg nach unten dachte ich darüber nach, ob Ludwig am nächs­ten Tag wirk­lich den Mut haben würde, zu seinen Gefüh­len zu stehen. Oder ob er wieder seíne lang einge­spielte Fassade aufstellt und nur in Gedan­ken oder im Gehei­men seine Befrie­di­gung findet. Jeden­falls wünsche ich ihm, dass er es schafft und dass es eine gute Rich­tung nimmt.
Wenn, dann will er mir eine E‑Mail schrei­ben. Ich bin gespannt.

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6 Kommentare

  1. Hallo,

    schö­ner Arti­kel. Ich bin Vater von zwei Jungs die um die 15 sind und ich mache mir auch oft Gedan­ken wie es wär wenn sich einer outet. Nicht von meiner Warte aus, sondern aus der Perspek­tive meiner Jungs. Es ist so das Alter mit dem über­trie­be­nen Macho­ge­habe. Ausser­dem spie­len sie beide Fußball. Ich denke sich zu outen ist ziem­lich schwer und wenn es so wäre das meine Jungs sich zu dieser Seite beken­nen würden, wäre ich einfach nur stolz das sie den Mut hatten es zu tun.

  2. Erst hatte ich eine lustige Geschichte erwar­tet, zum Ende war ich berührt, irgend­wie fast betrof­fen. Ich drücke ihm die Daumen, dass er tatsäch­lich die für ihn beste Entschei­dung trifft.

  3. @Bernd
    Du meinst ein verdeck­tes Rollen­spiel? Das kann ich mir kaum vorstel­len. Ich glaube, dass das echt war. Aber wenn nicht, dann war er echt gut :-)
    Aber die Begeg­nung mit mir war ja sicher nicht der Auslö­ser, sondern nur ein Moment in dieser Entwick­lung.

  4. Diese emotio­na­len Outings sind mir irgend­wie suspekt. Für ein plötz­li­ches Sich-Selbst-Erken­nen ging mir der Rest viel zu glatt.
    Aro, meinst du nicht, daß das auch seine ganz normale Anmach­ma­sche sein könnte?

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