Der Hauptmann von Köpenick in der damaligen Presse

Am 16. Okto­ber 1906 führt der Streich eines aus Rixdorf ausge­wie­se­nen vorbe­straf­ten Schus­ters zu einer der größ­ten Blama­gen des Wilhel­mi­ni­schen Systems. Der Filz­schuh­step­per Wilhelm Voigt erobert mit einer Hand­voll aufge­grif­fe­ner Garde­fü­si­liere das Rathaus Köpe­nick und wird als “Haupt­mann von Köpe­nick” für alle Zeiten bekannt.

Ein Einblick in die Presse der folgen­den zwei Tage:

Unge­heu­res Aufse­hen hat gestern eine geheim­nis­volle Affäre in Köpe­nick verur­sacht. Es geht uns darüber folgen­der ausführ­li­cher Bericht zu: Seit gestern nach­mit­tag 4 Uhr befin­det sich die Bürger­schaft von Köpe­nick in großer Aufre­gung. Mit dem Vorort­zuge 2.16 traf von Berlin eine 20 Mann starke Abtei­lung Solda­ten unter Führung eines Haupt­manns auf dem Köpe­ni­cker Bahn­hofe ein, marschierte nach der Stadt und besetzte das Rathaus. Vor dem Haupt­por­tal nahm ein Doppel­pos­ten mit aufge­pflanz­tem Bajo­nett Aufstel­lung, während die beiden ande­ren Eingänge in der Bött­cher­straße und am Rathaus­kel­ler mit einfa­chen Posten besetzt wurden. Jeder Verkehr nach innen und außen wurde sofort unter­bro­chen. Die Beam­ten erhiel­ten Anwei­sung, sich in ihren Büros aufzu­hal­ten, und auch der Rathaus­kel­ler wurde für den Verkehr gesperrt. Einige Gäste wurden dort sogar zurück­ge­hal­ten. Selbst den Mitglie­dern der städ­ti­schen Behörde verwei­ger­ten die Solda­ten den Zutritt zum Rathaus, mit der Erklä­rung: “Auf Befehl Seiner Majes­tät!” Inzwi­schen hatte sich, da die Sensa­ti­ons­nach­richt sich mit Windes­eile in der Stadt verbrei­tete, vor dem Rathaus eine nach Hunder­ten zählende Menschen­menge ange­sam­melt, die von Minute zu Minute größer wurde, so dass einige hinzu­ge­zo­gene Gendar­men den Stras­sen­ver­kehr regeln muss­ten. Das Publi­kum erging sich natür­lich in den mannig­fachs­ten Vermu­tun­gen über die Ursa­che dieser so unge­heu­res Aufse­hen erre­gen­den mili­tä­ri­schen Einschrei­tung. Man fand hierzu um so mehr Grund, als aus dem Rathause selbst keiner­lei Kunde drang. Die Erre­gung stieg natür­lich aufs höchste, als plötz­lich der Herr Bürger­meis­ter Dr. Lang­erhans und Haupt­kas­sen­rendant von Wilt­berg als Arrestan­ten abge­führt und in Drosch­ken nach Berlin geschafft wurden. Außer den Genann­ten war auch der Ober­stadt­se­kre­tär Rosen­kranz für verhaf­tet erklärt, von seiner Fort­schaf­fung aber schließ­lich Abstand genom­men worden. Soweit wir uns über den Verlauf der geheim­nis­vol­len Affäre infor­mie­ren konn­ten, hatte der Haupt­mann erklärt, dass er in höhe­rem Auftrage das Rathaus und die Kassen zu beset­zen habe. Er ließ sich dann die Kasse aufzäh­len, angeb­lich 4000 Mark, und verließ mit dem Auftrage, nach einer halben Stunde die Wachen einzu­zie­hen und nach Berlin zurück­zu­keh­ren, mit dem Gelde das Rathaus. So der Sach­ver­halt … Der Magis­trat von Köpe­nick hat durch sofor­tige tele­gra­fi­sche Anfrage schleu­nigste Aufklä­rung erbe­ten. Um 7 Uhr lief vom Land­rats­amt die tele­fo­ni­sche Nach­richt ein, dass man dort keine Ahnung von der Sache habe und Gründe für die rätsel­hafte Ange­le­gen­heit nicht geben könne. Inzwi­schen ist, wie wir noch erfah­ren, der Bürger­meis­ter zurück­ge­kehrt, dafür hat aber der Ober­kom­man­dant der feind­li­chen Trup­pen, der Herr Haupt­mann, das Wieder­kom­men verges­sen. Der Magis­trat hat sich an die Mili­tär­be­hör­den gewandt, bis zur Stunde ist noch kein Bescheid einge­trof­fen.
Vorwärts, 17. Okto­ber 1906

Ein Köpe­ni­cker Restau­ra­teur macht über den “Haupt­mann” und dessen Uniform folgende Mittei­lung: Bei ihm erschien in aller Morgen­frühe gegen 1/4 6 Uhr, als es drau­ßen noch stark dunkelte, ein Offi­zier, der beim Eintritt sofort die Mütze abnahm und Guten Morgen sagte. Der Mann machte einen stark über­näch­tig­ten Eindruck und sah aus, “als ob er gerade aus dem Zucht­hause käme”. Seine Wangen waren sehr blass und tief einge­fal­len. Die Augen lagen tief. Die Schärpe saß nicht vorschrifts­mä­ßig, sondern war wie ein Strick gedreht. Auch die Mütze war nicht echt, es fehlte die obere Kokarde …
Die Krimi­nal­po­li­zei von Berlin und Köpe­nick hat sofort einge­hende Nach­for­schun­gen nach dem Helden der Komö­die ange­stellt. Auf dem Klein­bahn­hof Hermann­straße-Rixdorf will man den Säbel, aber sonst weiter nichts gefun­den haben. Vermut­lich hat er sich dort umge­zo­gen, und da er den Säbel nicht mehr einpa­cken konnte, ihn einfach liegen­las­sen. Fest­ge­stellt ist auch, dass dort gestern abend eine mili­tä­ri­sche Person gese­hen worden ist, die einen Karton unter dem Arme trug und deren Beschrei­bung genau auf den “Haupt­mann” in Köpe­nick passt. Ferner hat man jetzt auch fest­ge­stellt, dass er als Infan­te­rie­of­fi­zier geklei­det ging mit Mütze und Haupt­manns­ab­zei­chen des 1. Garde­re­gi­ments zu Fuss. Er trug Zugstie­fel, lange Hose, weiße Glace­hand­schuhe, Feld­binde und den Offi­ziers­de­gen mit Garde­s­tern. Wohin er sich vom Bahn­hof Hermann­straße-Rixdorf gewandt hat, dafür fehlt jeder Anhalt.

Vorwärts, 18. Okto­ber 1906

Die “Berli­ner Volks­zei­tung” fasst den Symbol­ge­halt des Köpe­ni­cker Gauner­streichs zusam­men:

So unsag­bar komisch, so unbe­schreib­lich lächer­lich diese Geschichte ist, eine so beschä­mend ernste Seite hat sie. Das Köpe­ni­cker Gauner­stück­chen stellt sich dar als der glän­zendste Sieg, den jemals der mili­ta­ris­ti­sche Gedanke in seiner äußers­ten Zuspit­zung davon­ge­tra­gen hat. Das gest­rige Inter­mezzo lehrt klipp und klar: Umkleide dich in Preu­ßen-Deutsch­land mit einer Uniform, und du bist allmäch­tig. Die Uniform ist der Talis­man, dem nichts wider­steht. Ein Mili­tär­kom­mando, das dir auf der Land­straße begeg­net, steht dir zur Verfü­gung. Das Rathaus einer Stadt kannst du beset­zen wie eine eroberte Festung. Verhaf­ten kannst du lassen, wen du willst. Geld kannst du rauben, soviel da ist. Unbe­hel­ligt kannst du von dannen ziehen … Einbre­chen wie ein gewöhn­li­cher Geld­schrank­kna­cker? Wie veral­tet! Aber die über­ra­gende Macht, das über­ra­gende Anse­hen des Mili­ta­ris­mus verwer­ten, das ist klug! Das ist fein! Das ist modern! In der Tat: Der Held von Köpe­nick, er hat den Zeit­geist rich­tig erfasst. Er steht auf der Höhe intel­li­gen­tes­ter Würdi­gung moder­ner Macht­fak­to­ren. Der Mann ist ein Real­po­li­ti­ker aller­ers­ten Ranges … Der Sieg des mili­tä­ri­schen Kada­ver­ge­hor­sams über die gesunde Vernunft, über die Staats­ord­nung, über die Persön­lich­keit des einzel­nen, das ist es, was sich gestern in der Köpe­ni­cker Komö­die in grotesk-entsetz­li­cher Art offen­bart hat.
Berli­ner Volks­zei­tung, 17. Okto­ber 1906

Die Denun­zia­tion durch einen frühe­ren Mitge­fan­ge­nen setzt den Berli­ner Poli­zei­ap­pa­rat in die Lage, nach zehn Tagen den Schus­ter Voigt aufzu­spü­ren. Er sitzt fried­lich beim Morgen­kaf­fee, als ihn ein Trupp von Krimi­nal­po­li­zis­ten verhaf­tet. Noch während Voigt in Haft sitzt, profi­tie­ren die Thea­ter­di­rek­to­ren weid­lich von der Affäre. Im Passage-Thea­ter probt man “Sher­lock Holmes in Köpe­nick”. Im Deutsch-Ameri­ka­ni­schen Thea­ter wird in die Posse “Im Wilden Westen” die Einlage “Der Haupt­mann von Köpe­nick” einge­baut. In der Metro­pol-Revue “Der Teufel lacht dazu” marschiert eine Gruppe Solda­ten auf, die ein zacki­ger Offi­zier in Voigts Maske komman­diert. Als Wilhelm Voigt “gnaden­hal­ber” vorzei­tig aus der Tege­ler Straf­an­stalt entlas­sen wird, wird er voll­ends zum Objekt der Unter­hal­tungs­in­dus­trie:
Am Sonn­tag und Montag wurden in Rixdorf von den Perso­nen, die den Schuh­ma­cher Wilhelm Voigt durch­aus von Ange­sicht zu Ange­sicht sehen woll­ten, sieb­zehn wegen Ruhe­stö­rung, Krawall und so weiter poli­zei­lich sistiert. Der Andrang dürfte nun endlich nach­las­sen, zumal Voigt von heute ab auf kurze Zeit im Passage-Panop­ti­kum sich sehen lässt.
Vorwärts, 20. August 1908

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