Die einsame Oma

Ich hatte gerade eine Kurz­stre­cke zur Ranke­straße und wollte mich ans Stei­gen­ber­ger-Hotel stel­len, als mich am Los-Ange­les-Platz eine sehr alte Dame winkte. Sie machte einen etwas verwirr­ten Eindruck und bekam die Tür nicht gleich auf. Ich stieg sofort aus, um ihr zu helfen. Als sie dann im Wagen saß, sagte sie “zur Lynar­straße, Span­dau”. Span­dau, das hörte sich gut an, aber mir kamen doch Zwei­fel, ob die Dame wirk­lich wusste, wo sie hinwollte. Sie lallte beim Spre­chen, machte einen alko­ho­li­sier­ten Eindruck.

Während der Fahrt entwi­ckelte sich ein sehr gutes Gespräch. Sie meinte, dass sie eine Krank­heit hat, wegen der die Leute denken, sie sei betrun­ken. Schon mancher Taxi­fah­rer hätte sie deshalb auch nicht mitge­nom­men.
Mir waren meine Gedan­ken vom Anfang pein­lich, aber sie meinte, dass sie das verste­hen würde. Betrun­kene Fahr­gäste seien ja bestimmt nicht ange­nehm.

Dann erzählte sie von ihrer Toch­ter, die wegen dieser Krank­heit keinen Kontakt mehr zu ihr wollte, weil es ihr zu anstren­gend sei. Dabei habe sie die Toch­ter durch den Krieg gebracht und nun lässt sie sie allein. Im Auto war es einen Moment sehr still, nur der Funk piepste leise vor sich hin. Dann haute sie aber raus: “Die olle Kuh!”.
Ich dachte, ich höre nicht rich­tig und musste losla­chen. “Ist doch wahr”, sagte sie, “das ist doch kein Beneh­men”. Sie wech­selte das Thema, die Tour war dann viel zu schnell vorbei.

Am Ziel ange­kom­men zeigte die Taxi­uhr 20,40 Euro. Sie gab mir 30 Euro und meinte “das ist in Ordnung”. Als ich sie noch­mal auf den Fahr­preis hinwies, sagte sie “ich bin ja nicht taub, junger Mann. Aber Sie anschei­nend: Es ist in Ordnung so! Ich fand es sehr schön, mich mit Ihnen zu unter­hal­ten, ich habe leider nicht oft Gele­gen­heit dazu, meis­tens hört mir doch niemand zu. Es war dies­mal eine sehr ange­nehme Fahrt für mich.”

“Für mich auch”, antwor­tete ich, und das war ernst gemeint. Sie lächelte, schloss unbe­hol­fen die Tür und schlich lang­sam zu ihrer Haus­tür.

März 2006

print

Zufallstreffer

Moabiter Orte

Humboldthafen

Direkt neben dem Haupt­bahn­hof liegt der Humboldt­ha­fen. Dass es ihn über­haupt gibt, daran ist der Bau des Berlin-Span­­dauer Schiff­fahrts­ka­nals schuld. Denn als dieser 1848 aus dem alten Schön­hau­ser Graben gebaut wurde, musste der Wein­berg abge­tra­gen […]

2 Kommentare

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*