Sie sind hier!

Morgens um sechs Uhr hämmert es an der Tür.
Sie brüllen „Aufmachen, sofort“.
Eben noch warst du mit deinem Traum am See.
Voll Panik springst du aus dem Bett.
Du weißt nicht genau, was gleich passiert, aber du weißt es doch.
Während du noch versuchst, einen klaren Gedanken zu fassen, öffnest du die Wohnungstür.
Da stehen sie: Maschinenhafte, wütende Gesichter, die dich allein durch den Blick bedrohen.
Sie brüllen dich mit deinem Namen an.
Er ist als Frage verpackt, aber er ist wie der Schlag mit einem Beil.
Und so ist sie auch gemeint.
Dein leises „Ja?“ ignorieren sie.
Sie drücken dich in die Wohnung, fluten den Flur, von draußen hörst du Befehle.
Du überlegst, was du tun kannst.
Es ist nichts.
Du bist in ihrer Hand.
Du suchst deine Hose, aber sie stoßen dich auf den Boden.
Sie treten dich, ziehen dich wieder hoch, um dir besser ins Gesicht schlagen zu können.
Sie brüllen Fragen. Wo ist deine Frau? Dein Sohn? Wo ist Karl?
„Welcher Karl?“, fragst du.
„DIESER Karl“, schreien sie und eine Faust zertrümmert dein rechtes Auge.

Dann wachst du ein zweites Mal auf.
Du liegst in deinem Bett, niemand tritt an deine Tür.
Aber du weißt, dass es passieren kann. Jederzeit.
Dass es passiert ist.
Hier in deiner Wohnung, an deiner Tür.
Es ist schon lange her, Jahrzehnte.
Aber wenn es still ist und du dich konzentrierst, dann spürst du es.
Die Geister der Zusammengeschlagenen, der Abgeholten, der Deportierten, der Ermordeten.
Sie sind noch in deiner Wohnung.
Und du kriegst sie nicht raus, denn hier war ihre letzte Heimat.
Ignoriere sie nicht nicht mehr.
Denke an sie, wenn du in der Küche stehst.
Hier haben sie vor lange Zeit auch gestanden.
Und sie haben über die Zukunft gesprochen.
Über bessere Zeiten, über Hoffnung.
Du weißt, was sie nur ahnten.
Also respektiere sie!
Sie sind hier.

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