“Sternberg — das klingt doch sehr jüdisch”

Ich sollte ihn drei Jahre zum Lehrer haben — und die ganze Zeit über hasste ich ihn! Das lag nicht an seinem Sport­un­ter­richt, das lag an Brei­ten­stet­ter selbst.
Wie er an jenem ersten Tag als unser neuer Klas­sen­leh­rer mit dem Klas­sen­buch in der Hand durch die Bank­rei­hen schritt! Ein stol­zer Riese vor jämmer­li­chen Zwer­gen. Wie er dabei einen Namen nach dem ande­ren aufrief! Er wolle sich unsere Gesich­ter einprä­gen, erklärte er uns, wir soll­ten ihn dann später prüfen. Wenn er nämlich einmal zu einem Namen ein Gesicht gese­hen habe, vergesse er nie wieder, welcher Name zu welchem Gesicht gehöre.
Das impo­nierte mir noch.
Dann aber rief er Julian auf — uns stutzte: “Stern­berg? Ist das nicht jüdisch?”
Zu jener Zeit war es schon zwei Jahre her, seit die Juden von allen staat­li­chen Schu­len verwie­sen worden waren. Jule und ich hatten das nur am Rande mitbe­kom­men und auf diese Weise auch erfah­ren, das “Juden” wohl doch keine Hunde waren, sondern Menschen, die von den meis­ten ande­ren nicht gemocht wurden. Tiefer berührt aber hatte uns das nicht; wir waren ja keine Juden. Und so sagte Jule denn auch voller Über­zeu­gung zu Brei­ten­stet­ter, dass er nicht jüdisch, sondern evan­ge­lisch sein. So stehe es ja auch im Klas­sen­buch.
“Ja, ja, das steht hier.” Brei­ten­stet­ter runzelte seine hohe, klare Stirn. “Aber Stern­berg — das klingt doch sehr jüdisch.”
Alle in der Klasse hiel­ten den Atem an: Jule — einer von diesen Juden, mit denen keiner etwas zu tun haben wollte? Wenn das stimmte, war das ja jetzt wie im Krimi­nal­film; der Hansi Schmidt, unser Klas­sen­bes­ter, ein dick­li­cher, blon­der Junge, der viel Angst von den Lehrern hatte, sich ihnen aber trotz­dem irgend­wie zuge­hö­rig fühlte, meldete sich: “Wie haben Sie denn so schnell gemerkt, dass Julian ein Jude ist?”, fragte er voller Ehrfurcht.
Eine Frage, die Brei­ten­stet­ter freute. Er befahl Jule, vor die Tafel zu treten, so dicht wie möglich, und dann zeich­nete er mit der Kreide seine Kopf­form nach. Als er damit fertig war, blickte er sich in der Klasse um, entdeckte mich und befahl mir, mich eben­falls vor die Tafel zu stel­len. Er zeich­nete auch die Umrisse meines Kopfes nach und wies mit vielen wissen­schaft­li­chen Argu­men­ten nach, dass ich einen ausla­den­den Hinter­kopf, Julian aber einen nur sehr schwach ausge­präg­ten Hinter­kopf habe. “Der Paul ist ein typi­scher Arier. Er besitzt einen nordi­schen Lang­schä­del, grau­blaue Augen und eine gerade Nase. Dem Stern­berg hinge­gen sieht man sein Unter­men­schen­tum schon an der nur wenig ausge­präg­ten Kopf­form an. Außer­dem hat er sicher Platt­füße. Stünde nicht zu befürch­ten, dass seine Füße stin­ken, würde ich euch das vorfüh­ren.”
Fast alle lach­ten und Brei­ten­stet­ter schickte Jule und mich auf unsere Plätze zurück. “Es gibt aber noch drei weitere Merk­male, an denen man den Juden erkennt”, fuhr er danach fort. “Erstens: die große, hängende Nase, zwei­tens: die spit­zen Ohren, drit­tens: die wuls­ti­gen Lippen.”
Da kuck­ten auch alle ande­ren verblüfft: Julian hatte weder eine große, hängende Nase, noch spitze Ohren oder wuls­tige Lippen.
Brei­ten­stet­ter sah uns unsere Ratlo­sig­keit an und läch­telte groß­zü­gig. “Das kann man jetzt noch nicht sehen, da der Jude Stern­berg noch ein Kind ist. Später, wenn er größer gewor­den ist, erkennt man seine Jüdisch­keit auf den ersten Blick.”
Das war zu viel, dem musste ich wider­spre­chen. Und so meldete ich mich und sagte, das Juli­ans Eltern aber auch keine eine große, hängende Nase, spitze Ohren oder wuls­tige Lippen hätten.
Grin­send stell­ter er sich vor mich hin, der groß gewach­sene, breit­schult­rige Mann, sah voller Spott auf mich herab und fragte, ob ich etwa klüger als die Wissen­schaft sein wolle. Den Unter­scied zwischen der arischen und der semi­ti­schen Rasse hätten schließ­lich Profes­so­ren fest­ge­stellt. “Und da kommt nun so ein Drei­kä­se­koch wie du, der noch nicht mal über seine eige­nen Schnür­sen­kel pinkeln kann, und will alles besser wissen?”
Er wollte, dass die ande­ren wieder lachen, und wurde prompt bedient. …
Brei­ten­stet­ter wanderte weiter durch die Reihen und setzte seinen Vortrag fort. Dass Juden viel weni­ger Gehirn­masse hätten als “Arier”, erzählte er uns, dafür aber sehr geschickte Betrü­ger seien. “Sie verste­hen es, uns zu blen­den. Damit wir nicht bemer­ken, wie sie uns besteh­len.”
Er sagte das, blieb vor Jule stehen und fügte an, dass Julian seine Worte nicht persön­lich nehmen solle. Schließ­lich könne er ja nichts dafür, ein Juden­balg zu sein — so wie ein Schwein oder Affe nichts dafür könne, ein Schwein oder Affe zu sein.
Wieder wurde gelacht, einige grunz­ten belus­tigt, andere psute­ten die Backen auf, um Affen­ge­sich­ter zu schnei­den. Jule liefen während­des­sen die Tränen herun­ter und ich heute vor Wut mit.
Wie der Unter­richt zu Ende ging, weiß ich nicht mehr. Doch erin­nere ich mich noch sehr genau daran, dass Julian an diesem Tag zum ersten Mal gehän­selt wurde. “Julian Juuude”, riefen die Kinder ihm nach Schul­schluss nach, “Jüdchen, Jüdchen, ab ins Tütchen!” und “Jude Itzig Leber­tran hat im Arsch ’ne Rodel­bahn.”
Ich wollte Julian vertei­di­gen und rief zurück: “Selber Juden!” Ein Beweis dafür, dass ich immer noch nicht so recht verstan­den hatte, worum es eigent­lich ging; ich hielt die Bezeich­nung “Jude” für ein Schimpf­wort.
Julian war auch nicht klüger. Und so stell­ten wir uns an diesem Nach­mit­tag auf einen Stuhl, um im Spie­gel über der Küchen­was­ser­lei­tung unsere Köpfe mitein­an­der zu verglei­chen. Ein Lehrer war doch ein Lehrer, der durfte doch keinen Blöd­sinn erzäh­len. Größere Unter­schiede jedoch konn­ten wir trotz aller Mühen nicht fest­stel­len. …

Klaus Kordon: “Juli­ans Bruder”

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Zufallstreffer

1 Kommentar

  1. Danke für den Tip! Ich werde mir deshalb mehrere Texte von Klaus Kordon ange­schaut und bin über­rascht. Werde mir jetzt das Buch kaufen.

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