Stromern im Virchow

Schon als Kind war ich immer neugie­rig, musste meine Nase über­all rein­ste­cken und habe nicht auf die Warnun­gen der Erwach­se­nen gehört. Im Alter von etwa 10 Jahren war ich wegen einer Opera­tion am Ohr für einige Tage im Weddin­ger Virchow-Kran­ken­haus. Das bestand damals noch haupt­säch­lich aus rela­tiv klei­nen Gebäu­den, ein bis zwei Stock­werke hoch, die wie in einem großen Park verstreut lagen. Vor allem aber waren sie teil­weise unter­ir­disch verbun­den, was mich natür­lich beson­ders inter­es­sierte. Und da ich ja nicht bett­lä­ge­rig war, streunte ich unbe­merkt durch die Keller der vielen Gebäude.
Die meis­ten Abtei­lun­gen hatten selt­same Namen, die ich nicht zuord­nen konnte und so wurde ich auch nicht stut­zig, als ich in der Patho­lo­gie ankam. Dort aller­dings merkte ich schnell, wo ich gelan­det war, mehrere Leichen lagen auf Metall­ti­schen, andere zuge­deckt auf Bahren. Von diesem Moment an ging ich nie wieder in den Virchow-Keller.

In der vergan­ge­nen Nacht nun verschlug es mich zufäl­lig wieder auf dieses Kran­ken­haus­ge­lände. Mehrere Jahr­zehnte später sieht es dort völlig anders aus, im Zentrum der Anlage stehen jetzt moderne Massen­ab­fer­ti­gungs­ge­bäude, weiß, hell ausge­leuch­tet, steril. Viel lackier­tes Metall, das Neon­licht ist viel­leicht notwen­dig, keine Ahnung, auf jeden Fall aber absto­ßend. Als es in den 1980er Jahren fertig­ge­stellt wurde, war es das modernste Kran­ken­haus Euro­pas.

Durch einen klei­nen Neben­ein­gang kam ich auf das Gelände, zu Fuß kann man auch nachts an mehre­ren Stel­len hinein. Gleich neben der Einfahrt am Nord­ufer stand ich am Hubschrau­ber­lan­de­platz. Manch­mal höre ich zuhause, wie ein Rettungs­he­li­ko­pter dort hinfliegt. Meis­tens sehr hoch, weil direkt neben dem Kran­ken­haus noch die Hoch­span­nungs­lei­tun­gen des Kraft­werks Moabit verlau­fen, nachts leuch­ten dort starke rote Lampen an der Spitze. Tags­über wahr­schein­lich auch, ich habe noch nie darauf geach­tet. Unmit­tel­bar neben dem Lande­platz ist ein Betten­haus mit der Rettungs­sta­tion. Ich stelle mir den Lärm vor, wenn hier ein Hubschrau­ber herun­ter­kommt. Wahr­schein­lich wachen nachts sämt­li­che Kranke auf, die auf dieser Seite des Hauses liegen. Ob das gesund­heits­för­dernd ist?

Über die Südal­lee ging ich ins Innere des Gelän­des. Hier verläuft die eigent­li­che Haupt­straße des Virchow-Kran­ken­hau­ses, die Mittel­al­lee. Sie hat einen brei­ten Grün­strei­fen zum Spazie­ren­ge­hen, an den Seiten stehen die großen moder­nen Betten­häu­ser. Chir­ur­gie, Frauen, Kinder, jedes spezi­elle Gebäude ist so groß wie woan­ders eine ganze Klink. Am Anfang und Ende der Allee stehen noch ein paar der alten Häuser, auch sie wurden saniert und sehen fast aus wie neu. Ich will nicht “schön” sagen, denn ich kann sie nicht betrach­ten, ohne an ihre Funk­tion zu denken. Kran­ken­häu­ser sind mir schon immer ein Gräuel, mögen die einzel­nen Gebäude teil­weise auch anspre­chend sein. Sie sind wie Gigo­los, man darf sich von ihnen nicht täuschen lassen.

Auf dem Mittel­strei­fen stehen Bänke zum Ausru­hen, ein Buddy-Bär, Brun­nen, Skulp­tu­ren, tags­über ist hier bestimmt eine Menge los. Das nörd­li­che Ende der Mittel­al­lee führt zum alten Haupt­ge­bäude am Augus­ten­bur­ger Platz, dies ist für die vielen Besu­cher der Haupt­ein­gang, weil dort auch die U‑Bahn hält. Wer mit dem Auto kommt, muss von der Seestraße rein­fah­ren. Jetzt um 2 Uhr morgens ist aber die Allee und auch der Platz am Haupt­haus menschen­leer. Nur am Eingang der Chir­ur­gie steht ein Mann und raucht, anschei­nend ein Medi­zi­ner. Ansons­ten ist es ruhig, auch von außen dringt nur wenig Stra­ßen­lärm herein. Mitten im Block ist man von der Außen­welt wie abge­schnit­ten, es ist ein merk­wür­di­ges Gefühl, wie ausge­lie­fert sein.

Ich verdrückte mich Rich­tung Norden, hinter einem der beiden Gesund­heits­klötze steht noch heute der alte Wasser­turm. Man sieht ihn auch von außen sehr gut, wenn man z.B. aus Moabit kommend über die Putlitz­brü­cke fährt, er über­ragt alle Gebäude des Kran­ken­hau­ses. Natür­lich ist er nicht mehr in Betrieb, jeden­falls nicht in der ursprüng­li­chen Funk­tion.
Mitt­ler­weile hatte ich ein Gefühl, als wäre ich ein Eindring­ling. In der Nord­straße kam mir ein Arzt oder Pfle­ger entge­gen, der mich ganz miss­trau­isch anschaute. Deshalb lief ich nun einen Bogen bis zum soge­nann­ten Forum, das tags­über anschei­nend von Studen­ten genutzt wird, das Virchow-Kran­ken­haus ist ja eine Uni-Klinik, Teil der Charité, also der Humboldt-Univer­si­tät. Hier am Forum gibt es eine Biblio­thek, ein Café und einen Platz, auf dem Stühle und Tische stehen. Eine Menge Dreck, Essens­reste und leere Flaschen liegen herum. Vom West­ring führt ein klei­ner Fußweg in die Büsche, wieder war ich neugie­rig und landete auf einem Holz­steg, er führt durch hohen Gestrüpp in einen Garten.

Rechts die hohe Mauer, die das gesamte Gelände umgibt, etwa zwei­ein­halb Meter, mit einem roten Ziegel­dach. Davor steht ein etwa 1,80 Meter hoher Grab­stein, die Inschrift kann ich in der Dunkel­heit nicht lesen. Der Weg führt noch an der Mauer entlang zu einem stei­ner­nen Pavil­lon, viel­leicht sitzen hier im Sommer Leute im Schat­ten und genie­ßen das warme Wetter. Zur ande­ren Seite hin kam ich an einen Fußball­platz, hohe Gitter umzäu­nen das Spiel­feld. Etwas weiter biegt der Weg wieder zum West­ring. Dort versperrt aber eine Gitter­tür den Weg, mit einer fetten Kette abge­schlos­sen. Dieser Teil des Kran­ken­haus­ge­län­des hat etwas Unheim­li­ches, Fins­te­res, was nicht nur daran liegt, dass dort die meis­ten Later­nen ausge­fal­len sind. Es hätte mich nicht gewun­dert, wenn auf dem Rück­weg der Holz­steg verschwun­den gewe­sen wäre.
So aber kam ich wieder auf den West­ring, der mich direkt zu einem drecki­gen Beton­hoch­haus führte. Ich bin mir nicht sicher, dass in diesem Klotz auch Kranke liegen, auf jeden Fall wünsche ich es ihnen nicht.

Aller­dings ist es hier wie bei fast allen Häusern auf dem Gelände: Mitten in der Nacht sind die meis­ten Fens­ter zwar dunkel, hier und da aber brennt Licht und manch­mal sieht man jeman­den dahin­ter. Da mache ich mir Gedan­ken, ob es eine Kran­ken­schwes­ter ist, oder ein Pati­ent der nicht schla­fen kann. Viel­leicht auch ein Arzt, der sich gerade auf eine OP vorbe­rei­tet.
Nur ein paar Meter weiter führt ein Weg raus aus dem Gelände. Ein altes, viel zu großes Pfört­ner­haus steht neben der moder­nen Schran­ken­an­lage, aber es gibt hier keinen Nacht­wäch­ter. Als ich auf die fins­tere Sylter Straße hinaus­trete, fühle ich Erleich­te­rung. Ich musste dann noch ein langes Stück an der Mauer entlang, die von hier viel höher aussieht, als von innen. Wie eine Burg, sie ist abwei­send und trotz ihrer hellen Farbe beklem­mend.

(Dieser Text erschien hier erst­mals 2008)

Foto: Lm-berlin / CC BY-SA 4.0

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