Erinnerung an Rosel

Vor 30 Jahren nannte man sie “rote Socken”. Dieje­ni­gen, die in der DDR auf Seiten des Staa­tes stan­den und sich danach nicht davon distan­zier­ten. Auch Rosa Näser gehörte dazu. Sie war Kommu­nis­tin, Mitglied der SED, nach der Wende in der PDS. Als ihr Staat zusam­men­brach und ihr lang­jäh­ri­ger Ehemann starb, war ihr Leben für sie vorbei. Das sagte sie mir mehr­mals, wenn wir uns trafen. In Köpe­nick oder in Chem­nitz, das für sie noch immer Karl-Marx-Stadt hieß. Sie konnte nicht begrei­fen, dass sich so viele alte Genos­sen plötz­lich so gewan­delt haben. Sie lasen jetzt Bild-Zeitung statt Neues Deutsch­land und inter­es­sier­ten sich mehr für die Vorgänge in euro­päi­schen Königs­häu­sern, als für das Elend afri­ka­ni­scher Völker. Die Verfla­chung und Verdum­mung der Gesell­schaft, die wach­sende Ober­fläch­lich­keit — das machte ihr sehr zu schaf­fen.
Kein Wunder, wenn man ihre Geschichte betrach­tet. Denn schon als Mädchen wurde ihr bewusst, dass man im Leben für die eige­nen Rechte kämp­fen muss. Als ihr Vater im Konzen­tra­ti­ons­la­ger ermor­det wurde und um sie herum die Mitschü­le­rin­nen in den Bund Deut­scher Mädel gingen, Fahr­ten und Häkel­nach­mit­tage veran­stal­te­ten, hielt sie sich an ganz andere Freunde. Damals gab es in Weimar eine Gruppe sehr junger Anti­fa­schis­ten. Nur ein paar von ihnen waren bewusst poli­tisch, die meis­ten aber hatten einfach keine Lust auf die Nazi-Erzie­hung, auf’s Marschie­ren und den para­mi­li­tä­ri­schen Drill in der Hitler-Jugend.

Von Köln kam ein Junge zur “Land­ver­schi­ckung” nach Thürin­gen. Er brachte den Namen “Edel­weiß-Pira­ten” mit und die Idee, sich konspi­ra­tiv zu orga­ni­sie­ren. Viele Jahre später wurde dieser Junge Rosels Ehemann, zuerst war er aber derje­nige, der die Edel­weiß-Pira­ten in der Gegend um Weimar aufbaute. Sie orga­ni­sier­ten Lebens­mit­tel für Zwangs­ar­bei­ter. Spek­ta­ku­lä­rer war die Aktion, als sie eines Nachts heim­lich die Stie­fel eines bekann­ten und bruta­len SA-Mannes stah­len, seine Abdrü­cke rund um ihre Fabrik hinter­lie­ßen und Anti-Nazi-Flug­blät­ter auf die Maschi­nen legten. Die Schuhe brach­ten sie wieder zurück. Als am nächs­ten Morgen die Zettel durch die Fabrik­halle flogen, war die Gestapo schnell vor Ort. Sie kontrol­lie­ren die Schuhe aller Arbei­ter und verhaf­te­ten den SA-Mann, der über­haupt nicht begriff, was da vor sich ging.
Ein ande­res Mal verklei­de­ten sich die Edel­weiß-Pira­ten als HJ-Jungen und über­fie­len ein Zelt­la­ger der Nazi-Jugend­or­ga­ni­sa­tion. Die Jungna­zis und ihre Führer wurden verprü­gelt und verstan­den nicht, wieso.

Mit der Grün­dung der DDR als sozia­lis­ti­schen Staat erfüllte sich Rosels Traum einer anti­fa­schis­ti­schen Gesell­schaft. Dass dort von Anfang an auch viele mitlie­fen, die kurz zuvor noch den rech­ten Arm geho­ben hatten, wollte sie nicht wahr haben. Genau­so­we­nig wie die Tatsa­che, dass es bald erneut die ehrlichs­ten, aufrich­tigs­ten und fort­schritt­lichs­ten Menschen waren, die nun wieder in den Gefäng­nis­sen lande­ten. Diese Lebens­lüge wurde ihr erst ganz zum Schluss bewusst und brach ihr endgül­tig das Genick. Erst in den letz­ten Wochen ihres Lebens akzep­tierte sie, dass man nicht Kommu­nist sein muss, um für eine gerechte Gesell­schaft einzu­tre­ten. Und dass die Führung ihres unter­ge­gan­ge­nen Staa­tes viel zu große Fehler gemacht hat, die eine Entwick­lung zur Demo­kra­tie unmög­lich mach­ten.
Rosa Näser symbo­li­siert für mich die Tragik derje­ni­gen Menschen, die einen besse­ren Staat aufbauen woll­ten, die sogar ihr Leben dafür riskier­ten — aber dann an sich selbst geschei­tert sind.

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