Drei Tage an der Flut

August im Jahr 2002: Seit Tagen habe mir ich die Berichte über die Hoch­was­ser­ka­ta­stro­phe im Fern­se­hen ange­schaut — erschüt­tert, wie wohl die meis­ten. Anfangs war noch alles wie in einer ande­ren Welt, bis mir ein guter Freund von seiner Freun­din aus Dres­den erzählte. Die Fami­lie hatte ein Lokal, das in den Fluten versun­ken ist. Plötz­lich war die Kata­stro­phe nicht mehr weit weg von mir. Statt­des­sen wuchs der Zorn über all die, die nicht halfen — mich selber einge­schlos­sen. Das Schlüs­sel­er­leb­nis aber war bana­ler: Ein Einkauf bei Hertie, ein mitge­hör­tes Gespräch zweier Frauen, die eine bezeich­nete es als Kata­stro­phe, dass ihr teures Kleid bereits nach einem Jahr nicht mehr modern war. Dabei verlo­ren nur 200 Kilo­me­ter entfernt die Menschen ihr Zuhause, all ihr Hab und Gut und ihre Arbeit.
Meine Entschei­dung war klar: Am nächs­ten Tag wollte ich ins Hoch­was­ser­ge­biet, um den Menschen zu helfen, die dort uner­müd­lich gegen das Wasser kämpf­ten. Noch hatte ich ja ein paar Tage Urlaub, die wollte ich nutzen.

Ein Freund hatte mir schon vorher erzählt, dass er mit dem Tech­ni­schen Hilfs­werk nach Dessau fahren würde, dort wollte ich mit. Doch der Zug war schon abge­fah­ren, früher als geplant. Im Radio sagten sie, dass nun auch Witten­berg bedroht sei, die Stadt, in der Martin Luther einst seine Thesen an die Tür der Schloss­kir­che gena­gelt hatte, stand unmit­tel­bar als nächs­tes auf der Liste des Hoch­was­sers.
Meine Entschei­dung für Witten­berg fiel aber auch aus einem ande­ren Grund: Von allen in Frage kommen­den Städ­ten lag sie als einzige östlich der Elbe, also auf der “Berli­ner Seite”. Da man damit rech­nen musste, dass auch die Elbbrü­cken gesperrt werden, wollte ich nicht plötz­lich auf deDas Technische Hilfswerk war überall präsentr “falschen” Seite des Flus­ses stehen.
Also Witten­berg.

Am nächs­ten Tag gings los, von Berlin aus dauert es nur etwas mehr als eine Stunde. Bei der Auto­bahn­ab­fahrt Coswig/Anhalt über­holte mich ein Zug des Tech­ni­sches Hilfs­werks, mit Blau­licht und Martins­horn fuhr das THW die 16 Kilo­me­ter in die Stadt. Da ich ein Auto im glei­chen Blau fahre, habe ich mich einfach dran­ge­hängt, so gings auch über rote Ampeln und durch die Stra­ßen­sper­ren in Witten­berg selbst. Dort stellte ich den Wagen an einer etwas höher gele­ge­nen Straße ab, die zur Elbe gewand­ten Stra­ßen waren bereits über­schwemmt. Schon auf der Hinfahrt habe ich über Radio SAW erfah­ren, wo derzeit in Witten­berg am Deich gear­bei­tet wird. Pratau, ein am ande­ren Elbufer gele­ge­ner Vorort, mit zwei- bis drei­tau­send Einwoh­nern, sollte geschützt werden. Witten­berg liegt beid­sei­tig der Elbe, der größte Teil auf der rech­ten Seite, also nord­öst­lich. Von hier aus führt nur eine einzige Brücke zum ande­ren Ufer, wo noch mehrere Stadt­teile und Ortschaf­ten liegen.

Die Stadt hatte am Bahn­hof für frei­wil­lige Helfer einen Anlauf­punkt aufge­baut, doch soweit kam ich nicht mehr. Auf der Straße hielt neben mir ein Jeep, der auf einem Anhän­ger Sand­sä­cke gela­den hatte. Der Fahrer, ein höchs­tens 17-jähri­ger Glatz­kopf, nahm mich mit. Er sagte, dass er sich das Auto von seinem Vater “gelie­hen” hätte, ohne dessen Wissen. Er hätte auch keinen Führer­schein, aber die Poli­zei hatte im Moment auch andere Probleme. Wir fuhren über die lange Brücke über’s Wasser, direkt am ande­ren Ufer liegt Pratau. Der Stadt­teil war jedoch von der Feuer­wehr abge­sperrt, sie schick­ten uns Rich­tung Westen. Es ging etwa einen Kilo­me­ter weit über eine enge Straße nach Kien­berge, einem weite­ren Vorort Witten­bergs. Hier musste sich mein Fahrer an eine Schlange verschie­dens­ter Fahr­zeuge anstel­len: Große Sattel­schlep­per stan­den hinter klei­nen Liefer­wa­gen, sogar mit Sand­sä­cken bela­dene Pkws warte­ten darauf dass sie ihre Fracht abla­den konn­ten.

Kien­berge sah aus, als läge es direkt an der Elbe. Zwischen dem Ort und dem Fluss lag nur noch der Schutz­damm. Norma­ler­weise aber fließt die Elbe etwa 500 Meter entfernt, aber bis hier zum Deich hatte sie sich schon gescho­ben.
Ich verließ mein Spezi­al­taxi und lief vor zum Deich. In mehre­ren Reihen stan­den hier die Helfer, unten, in der Mitte und auf der Deich­krone wurden die Säcke weiter­ge­reicht. Ich fand eine bunte Mischung von Menschen vor, die meis­ten zwischen 20 und 40 Jahre alt, gut gelaunt und voller Zuver­sicht. Dazwi­schen Grüpp­chen von Bundes­wehr­sol­da­ten und von Jugend­li­chen, die anschei­nend als Cliquen herge­kom­men sind. Auch eine Gruppe Pfad­fin­der aus Thürin­gen stand am Deich. Dort wo eine etwas größere Lücke war, stellte ich mich rein und war sofort in die Kette einge­bun­den.
Sand­sä­cke sind schwer. Vor allem, wenn die Zeit vergeht und zwischen­durch immer wieder mal ein Sack mit doppel­ter Menge rumgeht. Wer ihn nicht halten kann, lässt ihn fallen, der Deich muss schließ­lich an allen Stel­len verstärkt werden… Ich versuchte in der schrä­gen Deich­wand Halt zu finden, unter mir nur noch Sand­sä­cke. Wenn ich hoch­schaute, konnte ich hinten die Altstadt von Witten­berg sehen, die Türme des Doms und der Schloss­kir­che. Und das Wasser, das höchs­tens noch 20 cm unter der Deich­krone stand. Der Damm war an dieser Stelle drei bis vier Meter hoch — und nass. Auch die Sand­sä­cke wurden nach und nach aufge­weicht, das Wasser presste sich vom Fluss aus hinein. Bisher war mir nie wirk­lich klar, wie so ein Deich funk­tio­niert und warum er brechen kann. Hier habe ich es erfah­ren: Der Damm besteht ja aus Sand und Erde, bewach­sen mit Gras, innen viel­leicht auch noch verstärkt. Wenn nun von der Fluss­seite aus das Wasser stän­dig dage­gen gedrückt wird, dann saugt er sich lang­sam voll. Der Deich weicht auf und irgend­wann bricht er unter dem Druck. Das Legen der Sand­sä­cke hat also nur den Zweck, die Deich­krone zu erhö­hen, damit das Wasser nicht oben rüber­fließt. Außer­dem sollen die Deiche damit verstärkt werden, doch die paar Tonnen Sand sind nichts gegen die Gewalt eines Flus­ses.

Einige Stun­den stand ich so am Deich, links von mir ein ehema­li­ger Bundes­wehr­sol­dat, rechts eine junge Frau, die stän­dig davon sprach, dass ihre Mutter weiter bei Pratau hilft, obwohl doch ihr Haus in Kien­berge gefähr­det ist. Sie erzählte, dass sie die Keller­fens­ter zuge­mau­ert haben und die Eingangs­tür bis auf 1,5 Meter, es könne also nicht viel passie­ren. Am nächs­ten Tag sollte sich zeigen, dass das nicht genug war.
Die Arbeit war sehr anstren­gend, zumal es uns die Sonne mit 30 Grad nicht gerade leicht machte. Aber immer noch besser als Regen, der die Elbe noch weiter anschwel­len lassen würde. Zwischen­durch gab es immer mal eine kurze Pause, immer wenn einer der Wagen entleert war und der nächste sich bereit stellte. Wir wuss­ten, dass die Zeit drängt, deshalb waren wir nicht auf längere Pausen scharf. Ab und zu gingen einige Flaschen Selters herum, man nahm einen Schluck und gab sie weiter. War sie noch geschlos­sen, ging sie eben­falls weiter nach hinten.
In Minu­ten­ab­stän­den kamen die Wagen, ein paar Mann spran­gen auf die Lade­flä­che und sofort geriet die Kette wieder in Bewe­gung. Von weiter weg sah es sicher aus wie ein Uhrwerk, mecha­nisch wurden die Säcke weiter­ge­reicht.
Wir waren viel­leicht 500 Leute an dieser Stelle, davon etwa 100 junge Solda­ten, alles Wehr­pflich­tige. Sie waren bereits seit Frei­tag hier, sahen erschöpft aus, aber hatten trotz­dem gute Laune. Die hatten wir eigent­lich alle, man macht sich die Laune, um sich selbst anzu­trei­ben. Es wäre schlimm, wenn man hier frus­trie­ren würde, denn die Kräfte die man hier braucht bekommt man durch das posi­tive Denken. Aller­dings: Zuviel Denken sollte man in dieser Situa­tion auch nicht, denn dann würde man sich bewusst machen, dass dies alles hier nicht viel Sinn hat.
Dazu kommen Gerüchte und falsche Meldun­gen wie die, dass der Deich in Pratau gebro­chen wäre, was zu diesem Zeit­punkt nicht stimmte. Doch diese Meldun­gen nagen auch an einem, wenn man nicht weiß, was nun wirk­lich stimmt.

Mitt­ler­weile war es dunkel gewor­den, die Bundes­wehr karrte einige Hänger mit Schein­wer­fer­an­la­gen heran. Plötz­lich zogen die Solda­ten ab, ohne Erklä­rung, nur drei von ihnen blie­ben vor Ort, offen­bar um die Schein­wer­fer zu bewa­chen. Der plötz­li­che Aufbruch der Solda­ten hinter­ließ ein ungu­tes Gefühl, zumal wir nun viel weni­ger Helfer waren. Kurz darauf kam die Order, dass wir mit den Arbei­ten aufhö­ren soll­ten, nur die vorhan­de­nen Säcke soll­ten noch auf den Deich gelegt werden. Die letz­ten Lkw-Fahrer boten an, die Menschen auf der Lade­flä­che mitzu­neh­men, die meis­ten aber waren aus der Gegend mit dem Fahr­rad da oder hatten ein Auto auf dem Feld stehen.

Ich selber fuhr mit einem Fahrer mit, der nun, um 22 Uhr, bereits 18 Stun­den lang unter­wegs war, den ganzen Tag schon hatte er Sand­sä­cke zu den Deichen gefah­ren. Auf der Straße zurück zur Brücke staute sich dann der Verkehr. Etli­che Lkw und Liefer­wa­gen kamen uns entge­gen, bela­den mit Sand­sä­cken! Die Fahrer sagten, dass sie von der Bundes­wehr zum Damm nach Kien­berge geschickt worden seien. Also genau dort­hin, wo die Armee gerade die Leute wegge­schickt hatte. In uns stieg Wut auf. Die rich­tete sich nicht gegen die Solda­ten vor Ort, aber gegen dieje­ni­gen, die den Einsatz hier koor­di­nier­ten. Es sind Profis, aber sie krie­gen es nicht hin, an einem einzi­gen Deich den Über­blick zu behal­ten.
Am Ende der Straße, dort wo es zur Brücke hinauf geht, liegt Pratau. Hier stan­den einige hoch­ran­gige Solda­ten, die offen­sicht­lich völlig über­for­dert waren. Sie stan­den in völli­gem Kontrast zu den jungen Rekru­ten, die vorher kraft­voll und opti­mis­tisch am Deich gear­bei­tet haben.
Da die Solda­ten an der Stra­ßen­sperre nach Pratau keinen Über­blick mehr hatten, stieg ich aus dem Lkw und lief zum Deich. Hier waren etwa 20 Feuer­wehr­leute und circa 10 Frei­wil­lige, die den Deich “sicher­ten”. Viel war aber nicht mehr zu retten, es war klar, dass es bald einen Deich­bruch geben würde. Wir konn­ten den Damm kaum betre­ten, so weich war er bereits. Trotz­dem kamen hier noch verein­zelt Wagen mit Sand­sä­cken an, die wir weiter auf den Deich legten bzw. warfen, denn betre­ten konn­ten wir ihn nicht mehr. Irgend­wann gegen Mitter­nacht passierte dann das, was wir erwar­tet hatten. Jemand schrie “Deich bricht”, alle rann­ten ein paar Meter zur Seite, da schoss auch schon das Wasser oben aus der aufbre­chen­den Damm­krone heraus. Der Riss verbrei­terte sich in Sekun­den, es war wie ein wildes Tier, das dort durch­brach. Sand­sä­cke, gerade noch als Befes­ti­gung am Deich aufge­sta­pelt, wurden zur Seite gedrückt. Sofort stan­den wir im Wasser, die Feuer­wehr, die Solda­ten und wir frei­wil­li­gen Helfer liefen in Rich­tung der Brücke. Neben mir stürzte eine Frau, die zusam­men mit ihrem Freund (einem Feuer­wehr­mann) und mir am Rand des Durch­bruchs gestan­den hatte. Wir hoben sie aus dem Wasser, in diesem Moment verbrei­tete sich der Spalt. Die Elbe warf mit Erde und Sand­sä­cken nach uns, die Frau wurde leicht am Rücken verletzt, ich am Knie und am Hand­ge­lenk. Davon merkte ich in diesem Moment jedoch nichts. Zusam­men mit den ande­ren zogen wir uns auf die höher­ge­le­gene Zufahrt zur Brücke zurück, wo die Feuer­wehr nach Verletz­ten fragte. Die Frau wurde mit einem Kran­ken­wa­gen wegge­fah­ren.

Ich selber hatte für diesen Tag auch genug, außer­dem war ich plötz­lich sehr müde.
Ich fragte einen der Feuer­wehr­leute, ob es eine Schlaf­mög­lich­keit für Auswär­tige gibt, aber er konnte mich nur an die Feuer­wehr­zen­trale in Teuchel verwei­sen. Teuchel ist ein Stadt­teil am nörd­li­chen Ende von Witten­berg, also einige Kilo­me­ter von hier entfernt. Ein Lkw-Fahrer, der gerade von Kien­berge zurück­ge­kom­men war, nahm mich mit in die Stadt. Ich war ja noch völlig nass, aber bei dem warmen Sommer­wet­ter war das nicht so schlimm. Nur die Müdig­keit drückte nun auf meine Augen.

Außer­dem wollte ich auch unbe­dingt wieder über den Fluss rüber, weil dort mein Auto stand und da auch die eigent­li­che Stadt liegt. Außer­dem musste man damit rech­nen, dass die Brücke bald gesperrt wird, das Wasser stand bereits bis zur Unter­kante. Der Fahrer fuhr mich direkt zu meinen Auto in Witten­berg City, von dort war ich in zehn Minu­ten bei der Feuer­wehr­zen­trale.
Aller­dings war mir schon beim Eintref­fen klar, dass ich mich wohl selbst um einen Schlaf­platz kümmern müsste. Die Zentrale bestand neben vielen Gebäu­den aus einem großen, hell erleuch­te­ten Platz, auf dem alle paar Minu­ten Bundes­wehr-Hubschrau­ber anka­men und abho­ben. Sie holten dort spezi­elle Sand­sä­cke ab, etwa einen Kubik­me­ter groß, die unten dran­ge­hängt wurden. Diese wurden irgendwo zu den Deichen gebracht und dort abge­wor­fen.

Ich sah auch noch Dutzende Feuer­wehr­leute, die alle umher­rann­ten, dazu einige hundert frei­wil­lige Helfer, die Sand­sä­cke füll­ten. Aber das hat mich zu diesem Zeit­punkt nicht mehr inter­es­siert, ich wollte nur noch schla­fen. Also fuhr ich 500 Meter zurück in ein Wohn­ge­biet. Das Auto stellte ich an den Rand eines Park­plat­zes, holte meine Decke raus und legte mich neben das Auto, fast so wie sich ein Hund neben sein Herr­chen rollt. Aller­dings ließ mich das Erlebte noch mindes­tens ein Stunde wach liegen.

Ich dürfte etwa drei Stun­den geschla­fen haben, als ich gegen sechs Uhr aufwachte. Das erste was ich spürte waren die Schmer­zen in meinem Hand­ge­lenk und am Knie. Die Hand konnte ich fast nicht bewe­gen, auch das Knie war kaum zu gebrau­chen. So lädiert humpelte ich erst­mal ein paar hundert Meter weiter zu einer Tank­stelle, um dort drei Tassen Kaffee zu trin­ken. Am Tag vorher bin ich über­haupt nicht mehr zum Essen gekom­men, das machte sich jetzt bemerk­bar. Es gab hier frische Schrip­pen, für die über­mü­dete und verdreckte Menschen nichts zahlen brauch­ten — ich muss recht übel ausge­se­hen haben, denn sie haben mir gleich drei Bröt­chen hinge­legt.
In der Tank­stelle hörte ich die neues­ten Nach­rich­ten: Bei Kien­berge, dort wo ich als erstes gewe­sen bin, war der Deich eben­falls gebro­chen, im Ort steht das Wasser 1,80 bis 2,00 Meter hoch. Die Damm­brü­che sind aber nicht nur eine Kata­stro­phe für Pratau und Kien­berge: insge­samt wurden aus den weiter hinten liegen­den Ortschaf­ten mehr als 30.000 Menschen evaku­iert, 400–500 Quadrat­ki­lo­me­ter soll­ten nun allein durch diese Deich­brü­che über­schwemmt werden. Ich stand da in der Tank­stelle und hätte heulen können, die ganze Arbeit war umsonst. In diesem Moment sagte ein Feuer­wehr­spre­cher im Radio, dass nur durch die Hilfe der Bevöl­ke­rung am Deich südlich von Witten­berg die massen­weise Evaku­ie­rung möglich war. Na gut, es war doch nicht umsonst gewe­sen, denn wir hatten damit Zeit gewon­nen, die gut genutzt wurde. Sie sagten auch, dass insge­samt 5.000 Helfer an dem Deich gewe­sen waren. Die letz­ten sind dann beim zwei­ten Damm­bruch nicht mehr recht­zei­tig wegge­kom­men. Sie rette­ten sich auf eine Anhöhe und wurden von dort aus mit Hubschrau­bern einzeln in Sicher­heit geflo­gen.

Nach dem ausgie­bi­gen Früh­stück bei Aral ging ich zurück in das Wohn­ge­biet, das auf dem Gelände einer ehema­li­gen Russen­ka­serne liegt. Am Rand war ein freier Platz und dies war auch der Ort, wo die Sand­sä­cke für die vielen Helfer auf den Deichen gefüllt wurden. Der Platz war etwa 200 Meter lang und 100 Meter breit und voller Menschen. An zwei großen Sand­hau­fen wurden die Säcke gefüllt und nach hinten gelegt, an ande­ren Stel­len gab es Menschen­ket­ten, die die Fahr­zeuge mit den Säcken belu­den. Alle paar Minu­ten kam ein neuer Lkw mit Sand, die Haufen schmol­zen aber schnell wieder dahin. Auch hier waren es wieder Lkws und Liefer­wa­gen, die die Sand­sä­cke auflu­den und wegfuh­ren. Dazwi­schen immer wieder Pkws mit Hängern, teil­weise Kombis, die nur wenige Säcke trans­por­tie­ren können. Selbst ein Motor­rad­fah­rer mit Anhän­ger lud Säcke auf. Die Fahrer der klei­nen Fahr­zeuge holten viel­leicht auch Säcke, um ihr eige­nes Haus zu sichern. Zwar war die gesamte Südseite der Elbe im Wasser versun­ken, aber auch nörd­lich des Flus­ses liefen schon Keller voll.

Ich nahm mir eine herum­lie­gende Schau­fel und versuchte trotz der Schmer­zen in der Hand beim Säcke­fül­len zu helfen. Das musste ich aber gleich beim ersten Versuch wieder aufge­ben. Da ich mich mit nur einer Hand auch bei einer Kette kaum nütz­lich machen konnte, stieg ich auf einen der Lkw und nahm mit der ande­ren Hand die hoch­ge­reich­ten Sand­sä­cke entge­gen und plat­zierte sie oben auf der Lade­flä­che. Aber auch das ging aufgrund der Schmer­zen im Bein nicht gut. Nach­dem ich umständ­lich herun­ter­ge­stie­gen war, wurde ich von einem der Helfer ange­spro­chen, ob ich Schmer­zen hätte. Er war Arzt und tastete meine Hand und das Knie ab. Dann gab er mir die Adresse von einem Kran­ken­haus in der Stadt, ich sollte mich wegen Verdacht auf ein gebro­che­nes Hand­ge­lenk rönt­gen lassen. Das Knie hatte nur Prel­lun­gen. Er bot mir sogar an, mich auf dem Fahr­rad zum Kran­ken­haus zu fahren, aber ich konnte ja laufen.

So machte ich nun eine kurze Stadt­be­sich­ti­gung. Die Stra­ßen in der Nähe der Elbe waren jetzt auch im Stadt­ge­biet komplett über­schwemmt. Hinter dem Bahn­hof stan­den Fabrik­ge­lände und ein Fried­hof unter Wasser, bei einem Hotel und zahl­rei­chen Wohn­häu­sern wurden gerade Sand­sä­cke vor Eingangs­tü­ren und Keller­fens­ter gelegt. Das THW versuchte Unter­füh­run­gen frei­zu­pum­pen, aber es sah nicht sehr erfolg­reich aus.
Im Kran­ken­haus ging alles sehr schnell, die Hand war nur verstaucht, man riet mir zur Heim­fahrt. Das kam für mich aber nicht infrage, schließ­lich war ich zum Helfen hier. Also fuhr ich zurück nach Teuchel und sprach einen Feuer­wehr­mann an, ob er eine Verwen­dung für einen ange­schla­ge­nen Helfer hätte. Nach einem kurzen Gespräch und der Aufnahme meiner Perso­na­lien schickte er mich als Einwei­ser auf das Gelände der Russen­ka­serne, bei der ich morgens schon gewe­sen bin. Hier hatte ich nun bis in die Nacht hinein die Aufgabe, zusam­men mit einem Feuer­wehr­mann den reibungs­lo­sen Ablauf zu orga­ni­sie­ren. Ankom­mende und abfah­rende Lkws muss­ten durch die Menge geschleust werden, Fahrern von Liefer­wa­gen wurden Adres­sen genannt, wo sie Sand­sä­cke hinfah­ren soll­ten. Wir muss­ten zuse­hen, dass immer an den rich­ti­gen Stelle ausrei­chend Leute zur Verfü­gung stan­den, auch der Nach­schub der leeren Sand­sä­cke musste orga­ni­siert werden. Jede Stunde wurde über Funk nach­ge­fragt, ob über die Radio­sen­der weitere Helfer ange­for­dert werden soll­ten. An “unse­rem” Platz arbei­te­ten etwa 200 bis 300 Leute. Dazu gab es noch den Platz direkt bei der Feuer­wehr, dort dürf­ten es viel­leicht 500 Menschen gewe­sen sein.
Und es waren wirk­lich alle Alters­grup­pen vertre­ten. Die Kleins­ten brach­ten die Stapel mit den leeren Säcken dort­hin wo sie gebraucht wurden, die Erwach­se­nen mach­ten eine Menschen­kette zum Bela­den der Lkws, andere schipp­ten Sand in die Säcke, die ihnen die ganz Alten aufhiel­ten. “Bitte immer nur drei Schip­pen voll” — ich wusste noch aus eige­ner Erfah­run­gen, dass zu schwere Sand­sä­cke die Arbeit am Deich behin­dern. Außer­dem passen sich halb­volle Säcke besser dem Unter­grund an.

Die Stim­mung hier am Platz war sehr gut, trotz der schwe­ren Arbeit wurde viel gelacht, zwischen­durch spielte ein alter Mann auf dem Akkor­deon. Am Rande des Plat­zes, unter ein paar Bäumen, gab es eine Verpfle­gungs­sta­tion. Hier konn­ten die Helfer kosten­los heiße und kalte Getränke bekom­men, es wurden belegte Brote, Suppe und Obst ange­bo­ten. Am frühen Abend kamen einige junge Leute aus Thürin­gen, die einen mobi­len Würst­chen­stand aufbau­ten. Stän­dig kamen Leute an, die Nahrungs­mit­tel spen­de­ten. Es herrschte eine Stim­mung der Soli­da­ri­tät, trotz der schlech­ten Nach­rich­ten, die immer wieder eintra­fen. Aber was hatten wir für eine Wahl? Solange in der Stadt Sand­sä­cke zum Schutz gebraucht wurden, solange soll­ten sie auch gefüllt werden. Und es war ja auch nicht verge­bens. Dies­seits der Elbe wurden schon etli­che Häuser durch “unsere” Säcke geschützt.

Aber es war auch eine Trotz­stim­mung, bei den Erwach­se­nen genauso wie unter den Jugend­li­chen. Also woll­ten alle der Elbe bewei­sen, dass sie sie beherr­schen könn­ten. Einige der Jugend­li­chen sprach ich nach ein paar Stun­den an, sie soll­ten doch mal eine Pause machen. Es war nicht leicht, sie dazu zu über­re­den, aber manche waren einfach schon zu erschöpft, um ohne Unter­lass weiter zu schip­pen.
Am späten Abend wurden keine Säcke mehr abtrans­por­tiert, die Helfer soll­ten nur noch Sand abfül­len. So sollte es am frühen Morgen an den Deichen gleich weiter­ge­hen können.
Dann die Meldung, dass in der Umge­bung von Witten­berg weitere sieben Deiche gebro­chen sind. Die meis­ten liegen an der Elbe vor der Stadt, einer gehört zu Seegrehna, dem Nach­bar­ort von Kien­berge. Damit waren die Elb-Auen den Fluten völlig ausge­lie­fert. Der Ort Pret­tin war voll­stän­dig vom Wasser einge­schlos­sen.
Über ein Auto­ra­dio hörten wir Radio SAW, einen regio­na­len Dudel­sen­der, der nun aber die Flut zu seinem Haupt­thema gemacht hat und für viele zur wich­ti­gen Infor­ma­ti­ons­quelle gewor­den war. Über diesen Sender lief auch die Mobi­li­sie­rung von Frei­wil­li­gen und von hier aus wurde Druck auf die Krisen­stäbe gemacht, Infor­ma­tio­nen sofort zu veröf­fent­li­chen. Denn daran hatte es in den letz­ten Tagen geha­pert. Im Radio hörten wir von nun 50.000 Menschen, die südlich von Witten­berg auf der Flucht sind oder evaku­iert werden. Eine Verbrei­te­rung des Deich­bruchs bei Pratau konnte durch das massive Abwer­fen von großen Sand­sä­cken aus Hubschrau­bern verhin­dert werden.

Nach der nächs­ten Nacht neben dem Auto war mir klar, dass das mit meiner Hand nicht besser, sondern schlim­mer wird. Trotz­dem wollte ich noch nicht weg. Bei meinem tradi­tio­nel­len Aral-Kaffee hörte ich im Radio wider­sprüch­li­che Infor­ma­tio­nen: Der Pegel­stand der Elbe soll um 28 cm gesun­ken sein, der soge­nannte Schei­tel­punkt der Flut sei vorüber. Ande­rer­seits erzähl­ten sich Kunden, dass mehrere Chemie­be­triebe in der Stadt ihre Produk­tion einge­stellt haben. Das war aber nur ein Gerücht.
Bis zum späten Nach­mit­tag stand ich wieder auf “meinem” Platz, noch immer wurden Sand­sä­cke gefüllt und abtrans­por­tiert, noch immer betei­lig­ten sich hunderte Menschen daran. Manche sagten, dass sie eigent­lich zur Arbeit müss­ten, aber die Hilfe ist ihnen wich­ti­ger. Die Jugend­li­chen dage­gen brau­chen nicht zur Schule: Der Land­kreis hatte am Sonn­tag bekannt gege­ben, dass die Ferien um eine Woche verlän­gert werden.

Dann wieder neue Nach­rich­ten: Zwei weitere Deiche sind gebro­chen. Aber auch die, dass das Wasser lang­sam zurück­geht. Das könnte jedoch mit dem Deich­bruch in Pratau zu tun haben. Durch den Bruch dort und bei Seegrehna waren mitt­ler­weile 600 Quadrat­ki­lo­me­ter Land voll­ge­lau­fen, dieses auslau­fende Wasser ließ den Fluss­pe­gel sinken.
Am Ende der Elbbrü­cke, kurz vor Pratau, hatte sich ein THW-Last­wa­gen zu weit ins Über­schwem­mungs­ge­biet gewagt, die unter­spülte Straße ist aufge­bro­chen und der LKW umge­kippt. Mehr erfuh­ren wir noch nicht, aber wenigs­tens von Verletz­ten wurde nichts berich­tet.

Im Laufe des Tages wich die Span­nung, das Schlimmste schien vorbei zu sein, oder: es konnte nicht verhin­dert werden. Ich entschloss mich zur Rück­kehr am Abend.
Dreckig und verschwitzt machte ich mich noch­mal auf den Weg: Ich wollte unbe­dingt noch Dirk besu­chen, den ich am Sonn­tag auf dem Platz kennen­ge­lernt hatte. Der junge Mann war mit seinen Eltern und Groß­el­tern am Frei­tag aus Eutzsch, einem Dorf südlich von Witten­berg evaku­iert worden. Die ganze Fami­lie war nun in einer Turn­halle nahe der Feuer­wehr unter­ge­bracht. Er selber hielt es dort nicht aus, die verzwei­felte Stim­mung, die Hoff­nungs­lo­sig­keit, vor allem als nach dem Deich­bruch klar war, dass sich die Elbe ihr Haus genom­men hat.
Auf dem Weg zur Halle ging ich noch auf den Schloss­turm. Aus ca. 60 Metern Höhe schaute ich in Rich­tung des Flus­ses. Aber ich sah nur Wasser, dazwi­schen Baum­kro­nen und Haus­dä­cher. Das andere Ufer der Elbe war nicht mehr zu sehen, sie war nun etli­che Kilo­me­ter breit.

In der Sport­halle fand ich Dirk nicht, statt­des­sen Dutzende von Schlaf­stel­len, kleine Inseln von Matrat­zen, von den ande­ren nur durch einen schma­len Gang getrennt. Intim­sphäre gab es hier nicht. Nur wenige Menschen saßen auf den Matrat­zen, die Hitze hatte die ande­ren raus­ge­trie­ben, manche mach­ten viel­leicht Besor­gun­gen, versuch­ten Doku­mente aufzu­trei­ben oder Bekannte zu finden. Diese Turn­halle ist ein Ort, an dem die Tragik des Gesche­hens sehr deut­lich wurde. Mitten im Raum saß eine sehr alte Frau mit ihrer Toch­ter, wie sich heraus­stellte sind sie aus dem glei­chen Dorf wie der Mann, den ich besu­chen wollte. Die alte Frau war apathisch, sie hatte sich in ihr Schick­sal erge­ben, ohne sich noch dage­gen zu wehren. Man sah, dass sie aufge­ge­ben hatte. Die Jüngere unter­hielt sich mit mir, leise, wie in einer Kirche. Sie weinte in ihren Worten, nicht mit Tränen, auch sie konnte nicht begrei­fen, was passiert war. Sie erzählte mir, dass ihr Sohn Markus versucht, ins Dorf zurück­zu­keh­ren um irgend­was zu retten. Die Menschen klam­mern sich an irra­tio­nale Hoff­nun­gen, sie wollen sich nicht in ihr Schick­sal fügen.

Was konnte ich noch machen? Ich kam mir schä­big vor, weil ich zurück­fah­ren kann in meine trockene Wohnung in Berlin. Doch hier konnte ich nichts mehr tun, die Dämme sind gebro­chen, und das Aufräu­men wird Monate und Jahre dauern. Eine Seel­sor­ge­rin setzte sich zu uns, aber sie hatte das Gefühl zu stören und ging wieder. Die jüngere Frau wünschte mir viel Glück; ausge­rech­net sie, die in dieser Situa­tion war. Ich gab ihr mein letz­tes Geld das ich noch dabei hatte, eine Geste der Hilf­lo­sig­keit.

Aber die Hilf­lo­sig­keit, die war in diesen Tagen das vorherr­schende Gefühl. Trotz der Tatkraft und der vielen Soli­da­ri­tät. In solchen Zeiten wech­selt die Verzweif­lung mit Mut, Menschen brechen zusam­men und bäumen sich dann doch wieder auf. Die Stun­den hier bei den Opfern der Flut haben mir bewusst gemacht, dass Sicher­heit und Unver­sehrt­heit keine Selbst­ver­ständ­lich­keit sind. Ich habe leere Augen gese­hen, die eine tiefe Ratlo­sig­keit ausdrück­ten und habe Menschen getrof­fen, die sich um andere geküm­mert haben. Wie die Frau, die am Rande des Feuer­wehr­plat­zes einen Mann getrös­tet hat, der weinend zusam­men­ge­bro­chen war. Eine andere Frau hat ihre Wut gegen den eige­nen Mann vor Hunder­ten von Leuten raus­ge­brüllt, weil der keine Lust zum Schip­pen hatte. Eltern haben versucht, ihren klei­nen Kindern zu erklä­ren, was eigent­lich passiert ist und warum der Fluss plötz­lich so gefähr­lich ist. Es waren drei Tage voll Erfah­run­gen, Eindrü­cke und Gefühle. Und zurück blieb eine Erin­ne­rung wie aus einer ande­ren Welt. Dann begann wieder der Alltag und manche Dinge wurden seit­dem viel unwich­ti­ger.

 

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3 Kommentare

  1. Meinen höchs­ten Respekt für deinen Einsatz!
    Ich war damals bei einem Kurz­ur­laub am Renn­steig zu Fuß und mit Rad unter­wegs, wo es nicht sehr viel gereg­net hatte und hörte etwas ungläu­big aus dem Radio eines Kiosks im Nirgendwo von der Kata­stro­phe.
    (Aber ich habe deinen Bericht schon vor ein paar Mona­ten mal gele­sen, hast du nur das Datum zum Jahres­tag geän­dert?)

  2. Stimmt, gut aufge­passt. Ich hatte ihn 2005 geschrie­ben und einge­stellt.
    Und er hat noch massig Fotos dazu bekom­men. Die hat mir der dama­lige Bürger­meis­ter von Witten­berg zuge­schickt, als Danke­schön. Das hat mich echt gefreut.

  3. Es ist schon so lange her. Ich war damals noch ein Kind und lebte mit meinen Eltern in Dres­den. Wir waren nicht direkt vom Wasser bedroht, aber ich erin­nere mich noch gut an den Schre­cken meiner Eltern.

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