Das erste Opfer

Ich hätte den Weg in umge­kehr­ter Rich­tung gehen sollen. Am Kreuz­berg hätte ich ankom­men müssen.
Ich bin aber von dort ausge­gan­gen; Gleis­drei­eck in die U2, vom Alex zu Fuß zur Bartho­lo­mä­us­kir­che, unter deren nörd­li­cher Arkade ich nun vor dem Regen Schutz suche und hinab­bli­cke auf die Wiese, die die Kirche von der brei­ten Auto­straße trennt. Sie ist das Ziel und hätte — wie gesagt — der Anfang sein können. Ein Anfang könnte sie auch für einen zwei­ten Geschichts-Lehr­pfad sein, einen viel kürze­ren: Von hier zum Fried­hof der März­ge­fal­le­nen im Fried­richs­hain sind es kaum zehn Minu­ten.

Der Weg durch die Geor­gen­kirch­straße zum Platz am Königs­tor ist viel schö­ner als der durch die Otto-Braun-Straße. Ich bin auch kein Freund der Stra­ßen-Umbe­nen­nun­gen. Vor allem bin ich kein Freund derer, die sich die Geschichte oder sagen wir: die Erin­ne­rung an das Gewe­sene nach ihren Inter­es­sen zurecht machen. Wenn es nach meinen Vorstel­lun­gen gegan­gen wäre, hieße die Otto-Braun-Straße also noch Bernauer Straße, fern von aller Poli­tik.
Die Geor­gen­kirch­straße ist eine ganz andere Straße als die Otto Braun. Nicht nur, dass sie natür­lich viel ruhi­ger ist, als ob sie gera­dezu als Gegen­satz zur Otto-Braun-Straße geschaf­fen wäre: dort Auto an Auto, hier ganz wenige; die zehn Minu­ten, die ich sie heute aufwärts gegan­gen bin, kommen mir vor wie nur drei. Vor allem erfährt man aber — diesen Weg wählend — die Land­schaft, die Hüge­lig­keit dieses nord­west­li­chen Stücks Fried­richs­hain; die Geor­gen­kirch­straße steigt auf bis zur Bartho­lo­mä­us­kir­che, dort­hin fällt die Frie­den­straße ab und gegen­über der Prenz­lauer Berg steigt wieder auf.

In der Geor­gen­kirch­straße wehren sich die Bäume gegen den Asphalt. Erst kommt ein schön weiß, dann ein schön rotbraun reno­vier­tes Haus. Auf den Balko­nen des weißen stehen mehrere Männer in Unter­hem­den, die mich beob­ach­ten, als ob ich etwas an mir hätte. Erken­nen sie mich etwa mitten in der Groß­stadt als Frem­den?

Für die Bartho­lo­mä­us­kir­che steht die Reno­va­tion an. Die Selbst­be­las­sen­heit des Kirchen­um­raums scheint nur noch vorüber­ge­hend. “Zugang zur Kirche über die Winter­kir­che”, heißt es an der Pforte, die offen steht. Frie­dens­bi­blio­thek und Anti­kriegs­mu­seum der Ev. Kirche Berlin-Bran­den­burg, Montag bis Frei­tag 17 bis 19 Uhr, Sonn­abend 13 bis 17 Uhr.
Da beginnt es zu regnen. In der hohen Arkade neben dem verschlos­se­nen Kirchen­ein­gang in Gesell­schaft der aufge­bock­ten Glocken von 1907 kann ich dem Geräusch, fast möchte ich sagen: der Melo­die des Regens auf den Blät­tern der Rotbu­chen, Birken und Linden zuhö­ren. Und auf die schöne Wiese hinun­ter­se­hen, die unge­mäht ist und weiß von Gänse­blüm­chen.
Dort, direkt an der Treppe, die zur Kirche herauf­führt und fast nicht zu sehen für den, der es nicht sucht, steht das merk­wür­dige Denk­mal, dessent­we­gen ich heute hier herauf gewan­dert bin. “1813 fiel als erstes Opfer in den deut­schen Befrei­ungs­krie­gen Frei­herr Alex­an­der v. Blom­berg, * Iggen­hau­sen (Lippe) am 31. Januar 1788, gest. hier vor dem Königs­tor 20. Februar 1813.” Das ist die Inschrift.
Das Denk­mal zeigt einen anti­ken Helm, als ob es Achil­les geweiht sei oder irgend­ei­nem klas­si­schen Kämp­fer. Jeden­falls einem ganz ande­ren als dem, den es benennt. Die Kriegs­her­ren haben meist ein Inter­esse daran, ihre Opfer als ganz andere erschei­nen zu lassen, meis­tens als solche, die schon längst tot waren, ehe man sie tötete.
Ist dieses Denk­mal nun eine Lüge? Ich meine: Ist es schon deswe­gen eine Lüge, weil es nicht etwa von 1813 ist, als die soge­nann­ten Befrei­ungs­kriege began­nen, sondern von 1913, als der Welt­krieg Nummer 1 bevor­stand und die Staats­pro­pa­ganda die jungen Männer wieder mal bereit machen musste, ihr Leben einzu­set­zen für Inter­es­sen, die nicht ihre waren?

Diesen Lehr­pfad empfehle ich mal den hier­herum liegen­den Schu­len, wenn sie Geschichts­leh­rer haben, die wissen, wie wert­voll Zwei­fel sind: vom Denk­mal am Königs­tor zum Fried­hof der März­ge­fal­le­nen. Mit der Frage: Wofür ist der Blom­berg nun gefal­len und wofür — zum Beispiel — Ernst Zinna, 35 Jahre später? Was ist in diesen 35 Jahren gesche­hen mit dem deut­schen Helden­tum?
Der andere Geschichts­lehr­pfad — ich sagte es schon — führt von hier zum Kreuz­berg, durch all die Stra­ßen, die nach Schlach­ten der soge­nann­ten Befrei­ungs­kriege heißen und nach Gene­rä­len, die den Krieg über­leb­ten. Bis auf den Kreuz­berg hinauf, wo an die Stif­tung des Eiser­nen Kreu­zes erin­nert wird, auch 1813 und — wie der König schrieb — nur für diesen beson­dern Krieg gegen die Fran­zo­sen und die ande­ren Deut­schen, die mit den Fran­zo­sen verbün­det waren. Trotz­dem ist dieses Eiserne Kreuz das Hoheits­zei­chen — schrieb mir jüngst ein Bundes­wehr­of­fi­zier, den man jetzt im Fern­se­hen manch­mal die Kolla­te­ral­schä­den erklä­ren hört — das Hoheits­zei­chen der deut­schen NATO-Bomber also, die wohl hoffent­lich keine Kinder und Flücht­linge töten. Oder aus Verse­hen, gele­gent­lich doch?

So weit muss der Geschichts­leh­rer ja gar nicht gehen, der mit den Schü­lern vom Blom­berg-Denk­mal auf den Kreuz­berg wandert. Aber einige der berühm­tes­ten preu­ßi­schen Geschichts­schrei­ber muss er doch für Lügner halten. Gar Verfüh­rer. Verführte Verfüh­rer. Verfüh­rung ist noch schwe­rer zu erklä­ren als Lüge.
Mit der Tram Nr. 3 bin ich im Nu am Hacke­schen Markt, wo ich Kaffee­häu­ser voller Gegen­wart finde, die mich zu keiner­lei Vergan­gen­heits­be­trach­tung auffor­dern. Wie gut, dass wir verges­sen können. (Was frei­lich so viel heißt wie: Manches lernen wir am besten erst gar nicht. Und das ist natür­lich kein Satz für die Feier­stun­den, bei denen sich am Schluss alle erhe­ben und die Natio­nal­hymne singen, die das Grund­ge­setz, das die Ehren­gäste angeb­lich so lieben, gar nicht vorsieht.)

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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