Nur 500 Jahre alt

Zweiunddreißig Berliner Straßen werden – mit oder ohne Bindestrich – ausdrücklich Alt- genannt. Will man glauben, dass das bloß dem Zufall geschuldet ist und sonst gar nichts bedeutet? Eine Stadt, die so auf Stadtstellen zeigt und „alt, alt, alt“ sagt, hat vielleicht im Gegenteil Zweifel an ihrem Alter. Nein, Alter dürfen wir in diesem Zusammenhang überhaupt nicht sagen, denn das Alter kann man schließlich irgendwie messen, feststellen und sich – wie es Berlin zum 750-jährigen Stadtjubiläum getan hat – irgendwie zurechtfälschen.

Es geht hier nicht ums Alter, sondern um das, was so leicht und oft leichtfertig mit Alter verknüpft wird und als Schul- und Studienfach „Geschichte“ heißt. Geschichte ist nicht das, was man hinter sich hat, sondern das, was man aus dem Gewesenen gelernt und mit seiner Gegenwart verbunden hat. Hannah Arendt, die amerikanische Geschichtsphilosophin, die Deutschland eine Deutsche nicht hat sein lassen wollen, hat bezüglich bei ihrem ersten Deutschlandbesuch nach den Nazis der Stadt Berlin und den Berlinern ein gutes Zeugnis ausgestellt. Vielleicht heißt das auffällig häufige „Alt-“ im Berliner Straßenbild also tatsächlich, dass Berlin sich erinnern will.

Mitten aus der Mitte Berlins, vom Alexanderplatz braucht man mit der U8 bis zur Station Rathaus Reinickendorf zwanzig Minuten und dann ist es nur noch ein kleines Stück bis Alt-Wittenau. Die Straße erstreckt sich von der Roedernallee bis zur Trift- und Gorkistraße. Sie umschließt – ungefähr in ihrer Mitte, wo sie nun der Eichborndamm durchschneidet, gerade über der Trasse der U8 – ein für Alt-Straßen besonders typisches Haus- und Wiesenensemble; manche sagen: überhaupt den schönsten Dorfanger Berlins. Dort steht – jetzt zur Renovierung grünnetzig umkleidet – die Dorfkirche Alt-Wittenau.
Es gibt in Berlin – je nachdem, wie genau man den Begriff „alte Dorfkirche“ fassen will – an sechzig solcher Kirchen inmitten solcher städtebaulicher Klein-Ensembles; rund um Berlin herum… kann man jetzt kaum noch sagen, weil die Stadt unterdessen weitergewachsen ist. Aber wenn man von solchen Alt-Plätzen zur Mitte Berlins geht (oder besser fährt), etwa hier die Gorkistraße autobahnwärts, dann sieht man an Fabrikanlagen und Kleingärtenkolonien, dass Berlin ebenso von der Mitte zu den Rändern hin gewachsen ist, wie umgekehrt von der Peripherie zur Mitte.

An seinen Rändern ist Berlin genauso sehr – und manchmal intensiver – Berlin als in seiner Mitte. Das Wesen dieser Metropole – als sie 1920 mit dem Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin fast eine 4-Millionen-Stadt wurde, geschah das bloß mit einer Mehrheit von sechzehn Stimmen – ist nicht Metropolität. Sondern? Das kann ich noch nicht in einem einzigen Wort ausdrücken, und vielleicht kann ich’s nie. Die Ähnlichkeiten lassen sich nicht einfach addieren.

Hier in Alt-Wittenau haben wir wieder ein Beispiel dafür. In diesem Areal gibt es mindestens drei charakteristische, eigentümliche (und trotzdem nicht einmalige) Bauten oder Bauanlagen, um die sich die Geschichte zusammenzieht. Die Geschichte besteht gewiss aus Zeit; aber es ist nicht die Zeit, die in dem obrigkeitlichen System von Sekunden, Minuten, Stunden, Jahren gezählt wird.

Wenn man von der Roedernallee kommt, ist das erste dieser Bauwerke, fast an der Ecke zur Roedernallee, die Schule, die Jean Krämer – der Baumeister des BVG-Depots in der Weddinger Müllerstraße – dort von 1928 bis 1931 in gerühmter Zusammenarbeit mit dem Hochbauamt Reinickendorf gebaut hat. Es ist ein denkwürdiges Beispiel für den Schulbau der Moderne, bis in die Fenster, Doppelrahmen-Schiebefenster, US-amerikanisches Vorbild, erstmalig in Deutschland, farbige Lehrwaschküche, weiß-blaue Lehrküche, von der Fassade aus rot-blauem Oldenburger Klinker und hellen Kunststeinbänden zu schweigen. Es passt in unseren Zusammenhang von Zentrum und Peripherie, dass zur Bauzeit dieser Schule für die deutschen Grosßstädte allgemein diskutiert wurde, ob man Schulen nicht überhaupt an die Stadtränder legen solle.
In Reinickendorf herrschten damals heftige Auseinandersetzungen über das Schulwesen. Allein in den Jahren 1925 bis 1927 waren in Reinickendorf siebentausend Neubauwohnungen entstanden, die Bevölkerung war von zweiundneunzigtausend auf hundertdreizehntausend Menschen gestiegen. Von „Schulnot“ war die Rede.

Diesen zeitlichen Auseinandersetzungen gegenüber steht Krämers Bauwerk nun in der Landschaft unter Linden wie ein Zeugnis ruhiger Klassik. Von ihm hat sich die Geschichte der Damaligkeit entfernt. Heute hat sich der Stadtwanderer, der das Bauwerk besichtigt, eher mit der Struktur der Vorurteile und Niederträchtigkeiten zu beschäftigen, die das gegenüber der Schule stehende Plakat des „Volksbegehrens gegen die Rechtschreibreform“ über die Schulsenatorin verbreitet. „Übelster Stürmerstil“, sagt Jagusch, der Fotograf, aber vielleicht wissen die Leute, die so auf die „Richtigkeit“ des Schreibens achten, davon gar nichts mehr und müssen manche Widerlichkeiten der deutschen Geschichte erst selbst erlebt haben, bis sie vielleicht nachdenken.

Von der kleinen Dorfkirche trennen Krämers Schule 500 Jahre. Die Glocken der Kirche sind mit 1484 und 1583 datiert. Als der Kirchenbau begann, wusste hier noch niemand etwas von Amerika (obwohl das natürlich nicht entdeckt werden musste, weil es in Frieden vor Europa immer schon da war). Der Buchdruck, das erste Massenmedium der Geschichte, war gerade erfunden, aber noch konnten nur sehr wenige Menschen lesen und wenige empfanden das Bedürfnis, es können zu müssen. Manche warnten sogar vor dem Lesen. Es ist mit diesem ersten Massenmedium nicht anders gegangen als mit den späteren: immer hat des Kulturpessimisten gegeben, und niemals haben sie die Geschichte aufgehalten. Sie können trotzdem recht gehabt haben. Aber Recht und Unrecht sind keine Kategorien der Geschichte. Wie macht man – zum Beispiel in den Schulen – die Kinder zu anständigen Menschen, ohne ihnen etwas vorzutäuschen?

Wenn man – vor einer Kirche sitzend, wenn auch einer kleinen – bei solchen Gedanken angelangt ist, hat man vielleicht überhaupt keine Lust mehr, weiterzugehen. Die Geschichte geht von selbst weiter, sie mert sich nicht um uns. Wenn man trotzdem innerlich noch kräftig genug ist, um aufzufassen, was man sieht, sollte man noch ein kleines Stück weiterspazieren.
Unser Alt-Quartier umschließt an der Triftstraße, gerade vor der Parkanlage, die sich landschaftlich hinzieht, auch ein Baubeispiel, das überhaupt keinen Alt-Namen verdient. Wer „Postmoderne“ sagt, erweckt den Eindruck, als könne man die Geschichte, nachdem man sie bis in die neueste Zeit hinter sich hat, noch mal von vorne anfangen.

Auf solche Gedanken komme ich, als ich die Wohnanlage Alt-Wittenau, Ecke Triftstraße von Georg Mügge und Lothar Eckhorst baugeschichtlich einordnen will: Im Wechsel von verputzten und holzverkleideten Fassadenflächen, mit großzügigen Balkonen, leicht angeschrägten Putzflächen in leuchtender Farbigkeit umschließen die Blocks der kleinen Anlage sehr gärtnerische, großzügige Höfe, einfache Baumittel, große Wirkung. Das wäre ein Beispiel von lobenswerter Durchschnittlichkeit, wenn nicht der Durchschnitt der Postmoderne so weit hinter Derartigem zurückbliebe. Wie alt ist also Alt-Wittenau?

Alt-Wittenau ist 500 Jahre alt oder älter, wenn man das Alter zählt, aber doch nicht sehr alt, wenn man es geschichtlich der Stadt Berlin zuordnet. Exklusiv und typisch, gegensätzlich, aber verhältnismäßig einheitlich. Berlin ist eine Stadt der Gegensätze, aber man merkt es eigentlich nur wenig. Es ist gut, hier zu Hause zu sein.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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