Wege zwischen Brüdern

Mein heuti­ger Kreuz­berg-Spazier­gang führt von der U‑Bahn-Station Schön­lein­straße zur U‑Bahn-Station Moritz­platz. Wenn man die U8 nicht verließe und unten bliebe, wären das nur drei Minu­ten, Moritz­platz — Schön­lein­straße: 3 Minu­ten Fahr­zeit. Dazwi­schen liegt nur der erzäh­lungs-berühmte Kotti, Station Kott­bus­ser Tor, wo eben Adalbert‑, Reichenberger‑, Skalit­zer und Kott­bus­ser Straße zusam­men tref­fen und ein Zentrum Berlins bilden. Ein einzi­ges Zentrum der Haupt­stadt gibt es nicht. Berlin ist viel­fach und anders. Wer aber die Gegend nicht kennt, die über diesen drei Minu­ten U‑Bahnfahrt liegt, dem fehlt ein dickes Stück zum Puzzle Berlin.

Die U‑Bahn-Station Schön­lein­straße liegt mit beiden Ausgän­gen unter dem Kott­bus­ser Damm. Der Kott­bus­ser Damm beginnt als Kott­bus­ser Straße hinter der Kott­bus­ser Brücke. An der Ecke, der man ansieht, dass sie nur notdürf­tig neu erbaut ist aus den Zerstö­run­gen von WK II, steht ein nied­ri­ges Billig-Kauf­haus, am Anfang des Jahr­hun­derts stand hier ein Pracht­bau, ein Waren­haus der Brüder Jandorf, die sich wenig später noch andere solche Konsum-Paläste bauen ließen (z.B. 1906/07 das KaDeWe), aber dieser hier war “völlig unmög­lich”, außen Muschel­kalk­stein, innen Marmor und Bronze. Diese Erin­ne­rung trägt zur Erkennt­nis der Gegend nichts bei. Es ist das Nach­bar­haus, dessen wegen ich hier heute verweile: Kott­bus­ser Damm 2–3 — in meiner frühen Berlin-Erin­ne­rung noch eine Abriss-Ruine — zeigt eine wunder­bar ausge­wo­gene Erker- und Rund­bo­gen-Fassade: von Bruno Taut, einer der ersten archi­tek­to­ni­schen Produkte des Mannes also, der später in Zeiten der Weima­rer Repu­blik durch Häuser ganz ande­rer Art deut­li­che Züge ins Gesicht der Metro­pole gezeich­net hat. Das verfal­lende Haus, aus dem man jetzt ein Denk­mal der Gegend machen könnte, rette­ten die post­mo­der­nen Hinrich und Inken Baller; man muss auf den Hof gehen, um sich zu wundern, wie das Haus aus dem Jahr­hun­dert-Anfang unver­mu­tet ein Haus aus den 70er/80er Jahren gewor­den ist. Ein gelun­ge­nes Produkt der Verbin­dung von Damals und Jetzt, von Erhal­tung und Verän­de­rung. Deshalb ist es typisch für die Gegend.

Läden, Büros, Apotheke, Wohlthats Billig-Bücher, Matrat­zen, Liegen, Imbisse. Es ist über­haupt eine Imbiss-Gegend. Der türki­sche Schlach­ter sitzt vor der Tür seiner Schlach­te­rei, die Verkäu­fe­rin aus dem benach­bar­ten Möbel-Geschäft kommt rauchend zu ihm heraus, weil sie auch gerade nichts zu tun hat. Schluss mit dem Krieg gegen die Kurden, steht an einem hohen Giebel. Auf den Bänken des klei­nen Stra­ßen­plat­zes, den die Böckh­straße mit dem Kott­bus­ser Damm bildet, sitzen südlän­di­sche Männer im lebhaf­ten Gespräch, von dem man gleich merkt, dass es anhal­ten wird. Gegen­über der Sex-Shop heißt Da Capo, noch einmal. Die Apotheke heißt nach den Hohen­stau­fen, nach Kaisern. Warum nur? Die Schön­lein­straße heißt nach einem könig­li­chen Arzt, die Böckh­straße nach einem gelehr­ten Altphi­lo­lo­gen, die Grae­fe­straße nach dem ersten Opera­teur des grünen Stars. Warum nur? Die Gegend hat über­haupt nichts Gelehr­tes, es war immer eine Prole­ta­rier-Gegend. Das Prole­ta­riat hat kein Vater­land, wir sind alle Auslän­der, werde ich nach­her unten, jenseits des Kotti, in der Adal­bert­straße lesen. Bei der Umwan­de­rung des Taut-/Bal­ler-Hauses mache ich Pause in der ruhi­gen Böckh­straße, auf einer Bank, unter den Rubi­nien.
Schöne junge Frauen gehen vorüber, die nach Mittel­meer ausse­hen. An der Ecke steht die verjährte Auffor­de­rung: “20.4.: nach Dres­den, Faschos jagen!” Die Schule in der Grae­fe­straße (Nr. 85), von deren Hof aus man die Rück­front des Taut-Hauses auch sieht, ist eine von jenen Schu­len Berlins, die in schnel­lem Tempo in den letz­ten 20 Jahren des vori­gen Jahr­hun­derts empor­wuch­sen. Sie heißt heute nach Fried­rich Ludwig Jahn, dem soge­nann­ten Turn­va­ter. Über den kann man sich auch seine Gedan­ken machen. Aber hier, in den Schu­len dieser Gegend, geht es, glaube ich, nur noch am Rande um die deut­sche Geschichte des vori­gen Jahr­hun­derts. Und wenn es Diens­tag oder Frei­tag ist und am Maybach­ufer von morgens zehn bis abends acht Uhr der große Markt aufge­baut wird, dann weiß jeder, der etwa auf der Kott­bus­ser Brücke stände, zwar natür­lich, dass er in Berlin ist, aber — wie Shake­speare von Böhmen gesagt hat, dass es am Meer liegt — er würde auch wissen, dass Berlin ans blaue Ufer des mitt­le­ren Meeres grenzt und an bergige Land­schaf­ten.

Die Kott­bus­ser Straße hinab gehe ich nun auf Kott­bus­ser Tor zu und indem ich die Gegend dort unten durch das Neue Kreuz­ber­ger Zentrum wie ein Zimmer in einer großen Wohnung begrenzt sehe, wird mir klar, dass es nicht die Archi­tek­ten waren, die die Probleme geschaf­fen haben, die um diesen Groß­bau bis zum heuti­gen Tag sicht­bar herum schwe­ben, wie Geis­ter, die auf den Zauber­spruch warten, dass sie endlich gehen können, aber niemand weiß den Text. Manche von uns können sich erin­nern, wie sie gegen dieses Bauvor­ha­ben demons­triert haben. Auch für den Zustand der Stadt gibt es Verant­wort­li­che. Es gäbe sie, wenn man sie suchte. Aber wir suchen sie nicht. Wir hoffen, dass sie sich unter­des­sen geän­dert haben.
Durch die Dresd­ner Straße gehe ich zum Orani­en­platz. Das ist der schönste Platz Berlins sagt Manfred Jagusch, der Foto­graf. Man kann ihn verste­hen. Es ist ein Platz, der zwei Stra­ßen­an­la­gen zusam­men­fasst, die gleich­zei­tig fast Parks sind.
An der Ecke Oranienplatz/Segitzdamm liegt mit einem drit­ten Flügel zur Prin­zes­sin­nen­straße ein Haus, das eine Spit­zen­leis­tung der Berli­ner Archi­tek­tur darstellt. Es ist das ehema­lige Waren­haus der Konsum­ge­sell­schaft, 1930 bis 1932 gebaut von Max Taut und seinem Archi­tek­ten-Part­ner Franz Hoff­mann. Ein 5‑, 7‑, und 9‑geschossiger Stahl­ske­lett­bau, die Haupt­front mit Werk­stein­plat­ten verklei­det, die Hoff­ront geka­chelt. Das Trep­pen­haus ragt turm­ar­tig hervor aus Werk­stein und Glas­fron­ten. Wie gesagt: Ursprüng­lich ein Waren­haus, von 1935 bis 1945 Sitz der Deut­schen Arbeits­front der Nazis, seit 1945 ausschließ­lich Büro­ge­bäude, heute mit vielen Büros des Bezirks­am­tes Kreuz­berg. Neue Sach­lich­keit nennt man den Baustil. Man kann auch einfach sagen: Moderne.

Ich sitze unter ande­ren Männern, die hier ihre beschäf­ti­gungs­lose Zeit verbrin­gen, dem Bau gegen­über, als könnte ich mich in seinen weiten Glas­fens­tern spie­geln. Ich über­denke die 20 Jahre, die den Bau des älte­ren Taut-Bruders am Kott­bus­ser Damm vom Bau des jünge­ren hier tren­nen. Bruno Taut ist in Ankara/Türkei gestor­ben, in den 1930er Jahren, vertrie­ben aus Deutsch­land. Max Taut ragt in unsere Zeit herüber, ich habe ihn noch gese­hen, als ich mich selbst schon für einen älte­ren Berli­ner hielt, in den 60er Jahren. Die Idee ist doch eine reine Kopf­ge­burt, dass man diese Gegend nach Taut-Bauten glie­dern könnte. Solche Eintei­lun­gen sind Privat-Vergnü­gen. Die Wirk­lich­keit rich­tet sich nach ande­ren Krite­rien. Aber was wäre die Wirk­lich­keit ohne uns, sage ich mir, um mich aufzu­rich­ten, als ich am nahen Moritz­platz hinab­steige in den Unter­grund, aus dem ich vorhin gekom­men bin.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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