Die Karriere des Glücks

Berlin ist vor allem eine schnelle Metropole. Man kann sich das Berlin der Berliner schnell ganz nahe machen. Dafür gibt es S- und U-Bahn. Und gewisse Straßenbahnstrecken. Vor allem Nummer 4 und Nummer 5. Vom Hackeschen Markt ist man mit beiden Linien in einer knappen Dreiviertelstunde in Hohenschönhausen, Zingster Straße, Endstation. Ist man nun draußen? Draußen in Bezug auf welches Drinnen? Vielmehr man ist, wo man am Hackeschen Markt auch ist: in Berlin. Das Intensive im Mittelpunkt und drum herum Zerfließendes: da missverstünde der Besucher die Stadt zugunsten einer Baedeker-Stadt, in der niemand wohnt. Der Bewohner erfährt die Stadt sowieso in Konkordanz zu seinem eigenen Leben und in der Differenz zu seinen Wünschen.

Um die Zingster Straße und die anderen norddeutsch benannten Straßen stehen hochgeschossige Wohnblocks. Die Stadt ist hier ganz jung. Die meisten Straßen kamen aus der namenlosen Landschaftlichkeit und erhielten ihre Namen vor gerade 15 Jahren. Die Blocks sehen schöner aus als jemals. Weiß, manche gelb, in zarten Farben, die Fenster dezent farblich abgesetzt, blau und rot, weiter unten zeigt ein Hausgiebel wirklich die Kopie eines Grafikbildes des ersten Farbmeisters der Moderne: das war Piet Mondrian. Man kann sich hier oben daran erinnern. Die Eigentümerin HoWoGe gibt sich Mühe. „Für eine schöne Ecke Berlins“ schreibt sie auf ihre Schautafeln. Die Höfe sind und werden gerade neu angelegt, mit Mitteln des Landes Berlin, der Landschaftsarchitekt, der sich Mühe gibt, heißt Weidinger. Zum Hechtgraben heißt unsere Straße jetzt. Tatsächlich überquert sie irgendwo den Hechtgraben, das langsame Gewässer, das aus dem Kirchsee bei Falkenberg kommt und in den Malchower See fließt, zu dem wir unterwegs sind.

Ehe wir uns versehen, liegen die dichten Wohnblocks hinter uns und wir sind in einem weiten landschaftlichen Park. Er zieht sich um den Malchower See herum, reicht mit wenigen und deshalb überraschenden Gestaltungselementen zum Hohenschönhauser Weg hinüber, den geradenwegs durchwandernd, nur Wiesen und Landschaft um uns, wir selbst überrascht sind von dem Tempo, mit dem die Stadt ihre Stimmung verändert hat.

Am Ende dieses Weges sind wir in Malchow. Die Straße, auf die wir treffen, heißt Dorfstraße. Aber es ist eine belebte Autostraße; Berlin ist bis hierher so dicht, dass man im „Dorf“ Malchow die Ampel braucht für die andere Straßenseite. Aber wenn man sich gewöhnt hat und also gar nicht mehr weiß, dass man eben noch zwischen den weißen Wohnblocks der Zingster Straße verweilte, gewinnt man hinter dem die Straße begrenzenden Grünstreifen, auf dem kleine Birken wachsen, doch einen Sinn für die unstädtischen Elemente dieses klassischen Teils von Hohenschönhausen. „Klassisch?“, naja … unmöglich ist das Adjektiv nicht. 1638, im 30-jährigen Krieg, brannte die kaiserliche Armee das Dorf nieder; da war Paul Fuchs noch nicht geboren, der 40 Jahre später, als er Minister des brandenburgischen Kurfürsten geworden und – wie üblich – den öffentlichen Dienst auch ganz gut zum eigenen Vorteil hatte nutzen können, aus dem Dorf ein Freiherrengut machte. Der König kam aus Niederschönhausen herüber, auch an jenem 7. August 1704 war er gerade nach Malchow unterwegs, als der Minister Fuchs – 64 Jahre alt – starb. Staub wird Staub/ Und Ruhm und Namen der Zeiten Raub.

Das Gutshaus – es ist längst nicht dasselbe, das Fuchs bewohnte – nutzt jetzt die Humboldt-Universität, landwirtschaftlich-gärtnerische Fakultät; die Akademiker sind freundlich, über ihre Projekte sprechen sie mit zurückhaltender Stimme. Die Berliner Gedenktafel an der Schlossfront liegt hinter dichtem Gewächs, aber es führt ein kleiner Plattenweg hin und man kann also den Text lesen, den die schöne Hohenschönhauser Bürgermeisterin im November 1996 hier enthüllt hat. Er feiert den Geheimrat Fuchs – er war beim Großen Kurfürsten eine Art Außenminister – vor allem als Initiator des Edikts von Potsdam, 8. November 1685, mit dem die brandenburgische Regierung den aus religiösen Gründen von ihrem König verfolgten Franzosen Religionsfreiheit versprach, um ihren Gewerbefleiß auszunutzen. Ein Ehrendatum in der Tat der brandenburgischen, deutschen Geschichte; man kann bis heute daraus lernen: Toleranz und Fremdenfreundlichkeit nützen; die Erfolgsgeschichte der Hugenotten in Berlin und Berlins mit den Hugenotten ist ein kräftiges Beispiel.

Im Dorfgasthaus Malchow müssen wir lange auf das dann ganz vorzügliche Essen warten und haben Zeit, uns gegenseitig zu erzählen, was wir von dem Minister Fuchs gestern in den Büchern nachgeschlagen haben. Als ganz junger Mann war Fuchs Professor der Rechtswissenschaft in Duisburg, als das eine ganz kleine brandenburgische Universität war; später ist er der Gründer – das kann man wohl sagen – der Universität in Halle geworden. Das wurde in der beginnenden Aufklärung eine brandenburgische Spitzenuniversität; Fuchs, der Hugenottenfreund, brauchte ideologische Unterstützung gegen die protestantischen Dogmatiker, die von den französischen Flüchtlingen und ihrem reformierten Glauben nichts hielten. Christian Wolff, der allerdings ziemlich langweilige Aufklärer, Samuel Pufendorf, der große Völkerrechtler, Francke, der – sagen wir – theoretische und äußerst praktische Sozialpädagoge, vor allem Christian Thomasius: der erste Professor, der in seinen Vorlesungen deutsch redete, der mutige Gegner der Hexenprozesse und der Folter: das war der Hauptschützling von unserem Fuchs aus Malchow. Und damit – ist nicht übertrieben! – können wir dieses Stück Hohenschönhausen – vielleicht nicht gerade wie Tegel, denn die Humboldts waren doch noch einen kräftigen Schlag bedeutender – als einen Berliner Traditionsort der besseren Klasse identifizieren.

Die Pfarrerin von Malchow, die Jagusch die Geschichte der verschwundenen Kirche von Malchow erzählt, ist vor allem freundlich. Das gehört vermerkt, weil sie damit an jene Pfarrerin erinnert, die Fontane hier getroffen hat, als er an einem Wintertag hier heraus gewandert war, weil er über Fuchs gelesen hatte. Wenn wir jetzt ein Auto hätten und nicht zurücklaufen müssten zur Zingster Straße – aber wir hätten auch den 159er nach Hohenschönhausen und von dort die S75 nehmen können -, würden wir die Dorfstraße südwärts fahren und wären im Nu mitten in Weißensee, von wo Fontane seinerzeit nach Bus und Pferdeomnibus nur zu Fuß hatte weiterkommen können.

Abends zu Hause habe ich noch ein bisschen weitergelesen über Fuchs und über Thomasius. Hätte der, denke ich, eine deutsche Verfassung geschrieben, so stünde darin – wie in der US-Verfassung – das Recht der Menschen auf Glück. „Die Karriere des Glücks wurde von Thomasius in der deutschen Aufklärung angelaufen“, schrieb 1950 Ernst Bloch und fügte an: hätte der Mann heute gelebt, „er hätte realen Sozialismus des Gemeineigentums, hätte die Sowjetunion als gesuchte Antwort“. Es ist schwer, die Geschichte und die deutenden Versuche mit den Maßstäben von Irrtum und Wahrheit, also: überhaupt zu messen.

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