Ein glücklicher Tag

Die Geschichte der Gegend erzählt die Jaczo­straße. Es ist das Jahr 1157. Albrecht der Bär, der christ­li­che Deut­sche, erobert Bran­den­burg von Jaczo oder Jaxa, dem wendi­schen Heiden. Der Slawen­fürst flieht, stürzt sich von der Havel­düne ins Wasser, schwimmt hinüber, hängt Schild und Horn an einen Baum und bekehrt sich zu Jesus Chris­tus. Fried­rich Wilhelm, der roman­ti­sche IV., stif­tet in Schild­horn eine Säule, denn hier erfüllte sein Urahn, der Bär, “eine kultu­relle Aufgabe von der aller­größ­ten welt­his­to­ri­schen Bedeu­tung” und “pflanzte das Samen­korn für ein Land, aus dem dereinst der preu­ßi­sche Staat, dies heutige deut­sche Reich, erwach­sen sollte.”

“Geschichte des preu­ßi­schen Staa­tes” heißt das Buch, in dem das der könig­lich-preu­ßi­sche Haus­ar­chi­var Ernst Berner 1891 schrieb. Ein mate­ri­al­rei­ches, zum Teil schö­nes, soli­des Buch — und alles (jeden­falls sehr viel) falsch. Wie die Sage von Jaczo schon falsch ist; um Bran­den­burg musste der Bär nicht kämp­fen, er bekam es ganz fried­lich, und jener Jaczo, der gerade da, wo wir jetzt in der Hafen­baude bei Milch­kaf­fee und kühlem Weine sitzen, hinüber­schwamm zum Chris­ten­tum, der hatte sich längst vorher zum Chris­ten­tum bekehrt.

Die Geschichte, die diese Jaczo­straße erzählt, ist also Ideo­lo­gie. 1945 jeden­falls war es mit diesem “herr­li­chen deut­schen Reich” aus. Es lag in Trüm­mern, in über­tra­ge­nen und in wirk­li­chen. “Gottes­dienste in den Kirchen erlaubt”, hatte der sowje­ti­sche Stadt­kom­man­dant Nico­lai Bersa­rin in seinem ersten Befehl schon am 28.4.1945 lako­nisch geschrie­ben. Aber wo? Von den 342 Kirchen und Synago­gen Berlins waren 309 ganz zerstört oder schwer beschä­digt. Die Gnaden­kir­che in der Jaczostraße/Ecke Rode­li­us­weg ist der erste Kirchen­neu­bau in Berlin nach dem 2. Welt­krieg, noch vor dem später gerühm­ten Notkir­chen­pro­gramm von Otto Bart­ning, nicht für vorüber­ge­hend, sondern in einer neuen Beschei­den­heit für eine Endgül­tig­keit gedacht, die sich nun immer­hin über ein halbes Jahr­hun­dert bewährt. Der Archi­tekt dieser Anfangs­kir­che hieß Karl Theo­dor Brod­füh­rer.

Das war heute unser erstes Ziel, nach­dem wir von der Heer­straße herauf­ge­kom­men sind. Der Kirche gegen­über zwei ordent­li­che Schul­bau­ten aus dem Ende der 1960er Jahre, vom Hoch­bau­amt Span­dau selbst gebaut, mit dunkel­blauen Fens­ter­pfei­lern, gelbem Fens­ter- und roten Türrah­men einfach geglie­dert: anstän­dige Bauge­sin­nung, nicht getan als ob, geprotzt schon gar nicht.

Je älter man wird, umso schnel­ler ist man in Versu­chung, seine Umwelt auf sich selbst zu bezie­hen. Als diese Schu­len gebaut wurden, war ich im Amts­ge­richt Span­dau beschäf­tigt. Dieses eckige, anspruchs­lose Gericht am Altstäd­ter Ring, das dem mäch­ti­gen Rathaus gegen­über wie eine Bara­cke wirkt, empfin­den manche heute als einen Schand­fleck. Solche Kate­go­rien besa­ßen wir am Ende der 60er Jahre nicht. Wir waren froh, dass wir die Räume hatten. Wenn ich damals nicht Kammer­ge­richts­rat, sondern Archi­tekt im Hoch­bau­amt gewe­sen wäre: Meine Schu­len hätten nicht anders ausge­se­hen.

Den Wein­meis­ter­horn­weg spazie­ren wir zur Schar­fen Lanke hinun­ter und dann diese Boots­haus- und Klein­gar­ten­straße entlang, durch diese nord­deut­sche Segel- und Ruder­stim­mung, die für jeden, der die See und das Wasser liebt, jedes­mal etwas unge­mein Befrei­en­des und fast Erhe­ben­des hat: unall­täg­lich feri­en­haft, fried­lich.
Die Marina-Lake-Werft ist 100 Jahre alt. Die alten Hallen wirken klas­sisch gegen­über der neuen, die nur zweck­mä­ßig ist. Aber was heißt da “nur”? Über­haupt ist ja alles, was mit Yach­ten zu tun hat, niemals allein zweck­mä­ßig. Mit diesen Schif­fen fahren die Träume. Wir sitzen an einem Tisch­chen vor der einfa­chen Hafen­baude. Der Land­schafts­ein­druck ist unver­gleich­lich.

Die Schnüre klir­ren an den Masten, die Wimpel flat­tern im Winde. Die Frauen am Nach­bar­tisch haben Schuhe und Strümpfe ausge­zo­gen und halten die Füße mit den geschmink­ten Nägeln in den Wind.
Das Rupen­horn zeigt sich gegen­über, wo die gemä­ßig­ten Feinen wohnen, zum Beispiel eine anstän­dige Sena­to­rin und Ärzte, die recht­zei­tig in den 50ern ange­fan­gen haben, Inter­nis­ten zu sein; da ist ihnen sogar dieser Platz hier zum Segeln nicht fein genug, sie brau­chen die Südsee zur Erho­lung von der Neuköll­ner Praxis. “Wenn einem einer sagt: das ist hier mitten in der Stadt, dann glaubt man’s nicht, wenn man’s nicht schon wüsste”, sagt Mehdi. Der Sommer­wind ist nicht zu warm, nicht zu kalt. Es ist ein Augen­blick, für den man dank­bar sein muss. Der Mann am Nach­bar­tisch sagt zu dem Budi­ker: “Wenn Hunde an den Tisch gehen, so watt hass ich doch!” “Denn mussde ebent hassn.”

Dann stei­gen wir die Havel­düne hinauf, um am Höhen­weg den Höhe­punkt unse­res heuti­gen Weges, den geogra­phi­schen wie den emotio­na­len, zu errei­chen. Hier liegt — Höhen­weg Nr. 9 — eines der nach Lage und Gestalt schöns­ten Häuser Berlins. Der Super­la­tiv ist jeden­falls nicht über­trie­ben, wenn man das Schöne für das Passende hält. Die Konven­tio­na­li­tät, fast Beschei­den­heit passt, die dieses Haus zur schma­len Straße hin zeigt, und vor allem passt die sich wie ein Fächer öffnende Baube­we­gung, mit der es sich zum Dünen­hang und zum Wasser darstellt. Ein Land­schafts­haus von dersel­ben unauf­dring­li­chen Eleganz, wie sie die Land­schaft selbst ausstrahlt, an der man — stelle ich mir vor — in dem großen Wohn­zim­mer hinter den gebo­ge­nen Fens­ter­schei­ben oder auf der asym­me­trisch vorge­la­ger­ten Terrasse teil­nimmt, indem man vor ihr behaust ist. Hier muss das Glück wohnen. Ich wünsche es. Nicht Häuser machen frei­lich das Glück, sondern die Liebe. Nur die Liebe.
Das Haus ist von Hans Scharoun. Es ist so alt wie ich. Auf der ande­ren Wasser­seite liegt der Grune­wald­turm. Er ist so alt, wie mein Vater wäre. Ich habe den Baede­ker von 1914 zur Hand. Auf dersel­ben Seite, auf der der Grune­wald­turm beschrie­ben ist, ist das alte Olym­pia­sta­dion von Otto March benannt: “Hier finden die Olym­pi­schen Spiele 1916 statt”, steht da. Da hätte mein Vater mitge­macht. Er hatte einen Auswahl­wett­be­werb Hoch­sprung schon gewon­nen. Aber statt bei der Olym­piade, lag er bei Verdun und gab sich Mühe, nicht erschos­sen zu werden und keine ande­ren zu erschie­ßen. “Ich habe immer darauf geach­tet, nieman­den zu tref­fen!” hat er immer gesagt; ich glaube ihm das, wenn es viel­leicht auch nur der hilf­lose Trost darüber war, dass das herr­li­che Deut­sche Reich ihn zum Totschlä­ger und Mörder gemacht hatte. Wieviel Glück haben da wir gehabt. Das denke ich mit plötz­li­cher Wehmut, während wir die zehn Minu­ten zurück­wan­dern durch lauter Germa­nen- und eine Wenden­straße zur Halte­stelle des X34ers, der uns in einer halben Stunde — tatsäch­lich: länger dauert es nicht! — bis zum Bahn­hof Zoo bringt.

“Der Tag war so glücklich./ Es gab kein Ding in der Welt, das ich hätte haben wollen,/ Ich kannte nieman­den, den ich benei­den musste,/ Was Böses geschah, habe ich vergessen./ Ich schämte mich nicht, zu denken, ich sei, wer ich bin./ Ich spürte keiner­lei Schmerz im Leibe./ Aufge­rich­tet sah ich das blaue Meer und die Segel.” … auch wenn es nicht das blaue Meer war sondern nur die grün­lich-schwarze Scharfe Lanke.

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1 Kommentar

  1. “…dass das herr­li­che Deut­sche Reich ihn zum Totschlä­ger und Mörder gemacht hatte.” Aber mit vorhe­ri­ger Segnung von Waffen und Menschen im Namen Jesu Christi!

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