Ein Sonntagnachmittag am Boxhagener Platz

Der Boxha­ge­ner Platz heißt jetzt fast ein Jahr­hun­dert nach dem Vorwerk, auf das die Boxha­ge­ner Straße zulief, und das jetzt unun­ter­scheid­bar Berlin ist und nichts mehr weiß von den Buchs, die dort ihren Hagen hatten. Die Stadt­ge­gend ist mit dem Jahr­hun­dert entstan­den und erhielt über­wie­gend Namen nach Orten im Osten, wo viele herka­men, die hier ihre kümmer­li­chen Wohnun­gen fanden: Aber es war in Berlin. Die Groß­stadt war die Hoff­nung. Auf dem Lande konnte man nichts werden. Von der Groß­stadt erzählte man sich Märchen. Die dunkle Groß­stadt bot die hells­ten Verhei­ßun­gen. In der Stadt war schon nicht mehr viel Platz. In den 1880er Jahren war eine Wirt­schafts­krise ausge­bro­chen, die Speku­la­tion, die Sucht nach dem schnel­len Geld, die Einbil­dun­gen und Erwar­tun­gen, die die neue Welt­macht­stel­lung des Bismarck­rei­ches erweckte, hatten sich heiß­ge­lau­fen: Nun verlang­ten die Banken zu viel Zinsen, als dass — “lustig” wollen wir das ja wirk­lich nicht nennen — weiter gebaut werden konnte, wie in den Jahr­zehn­ten zuvor. Erst gegen 1900 gingen die Zinsen wieder runter und sofort stieg auch die Neubau­tä­tig­keit wieder. Im Süden und im Norden entstan­den in Gegen­den, die man damals Vorstädte nannte, beispiels­weise der Boddin- und der Arnim­platz, und hier im Osten eben die Gegend, in der wir uns eben jetzt plat­zie­ren, an diesem sonni­gen Sonn­tag­nach­mit­tag, in dem Café, das sich an der Ecke Gabriel-Max-/Kros­se­ner Straße eine Cock­tail­bar nennt.
“Gefüllte Wein­blät­ter”, sagt Mehdi, weil ich mir welche bestelle, “gibt es von Spanien bis nach China und über­all schme­cken sie so anders, dass man an dem Geschmack erken­nen kann, wo man ist.” Ich versu­che, mir den Geschmack der Wein­blät­ter am Boxha­ge­ner Platz zu merken.

Der Platz ist rundum dicht bebaut. Man kann nicht von einem Ende zum ande­ren hinüber­se­hen. Die west­li­che Hälfte ist Kinder­spiel­platz, die östli­che mit vielen Bänken um die weite Wiese Alten­platz. Von der Bank, auf der wir an der Nord­seite sitzen, blicken wir gerade auf die alte Linde, die mäch­tig an der Südseite steht und früher ersicht­lich noch mäch­ti­ger war. Bestimmt ist es unter­des­sen der älteste Baum des Plat­zes. “Die ande­ren haben 1945/1946 alle daran glau­ben müssen”, vermu­tete Jagusch, der Foto­graf. “Erin­nere dich doch: Wie kalt diese Winter waren.” Frau T. beim Bezirks­amt weiß das Alter der Linde auch nicht genau. Jagusch hat sie gefragt. Über hundert Jahre, vermu­tet auch sie. Ich soll mehr über die Geschichte schrei­ben, hat Frau T. außer­dem zu Jagusch gesagt. Wirk­lich? Aber tatsäch­lich ist das beinahe die Frage, deret­we­gen ich heute den Boxha­ge­ner Platz lang­sam umwan­dere und lange an seinen Rändern in Bistros und auf Bänken sitze. Was weiß die schwarze Spinne, die hier einge­dü­belt ist? (Wenn Sie viel­leicht die Erzäh­lung “Die schwarze Spinne” von Jere­mias Gott­helf kennen: Die schwarze Spinne, die nicht getö­tet, sondern allen­falls zurück­ge­hal­ten werden kann unter den Häusern der Gegen­wart: Das ist, denke ich, die Vergan­gen­heit und wenn man etwas Falsches tut, dann fliegt der Dübel heraus, die Spinne kriecht hervor und, selbst wenn wir unschul­dig sind, so werden wir doch die Opfer der Kolla­te­ral­schä­den). Ich bin hier schon mehr­fach herum­ge­wan­dert, habe auch schon darüber geschrie­ben (im ersten Band “Vom Wedding nach Geth­se­mane” meiner Berli­ner Spazier­gänge unter dem Titel “Teils — teils” kann man’s nach­le­sen). Von hier gingen zum Beispiel 1915 die soge­nann­ten Butter­kra­walle aus; Arbei­ter­frauen protes­tier­ten gegen den Hunger, den ihnen die Regie­rung berei­tete, die gleich­zei­tig ihre Männer tötete, die ihrer­seits die Männer fran­zö­si­scher Frauen töte­ten. Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Frauen sind sogar von hier bis in die Vorstands­sit­zung der SPD in der Linden­straße gezo­gen und haben Ebert und Schei­de­mann Lumpen­sä­cke genannt, weil auch die Führer der Mehr­heits­so­zia­lis­ten schließ­lich vom Krieg bezau­bert waren, in dem nur die einfa­chen Partei­mit­glie­der star­ben.

Das ist natür­lich eine ruhm­volle Geschichte des Boxha­ge­ner Plat­zes; wollen wir ihn deswe­gen “Platz der muti­gen Frauen”, “Platz des Protes­tes”, “Platz gegen den Hunger und gegen den Krieg” nennen? Da könn­ten wir ihn auch gleich Platz dessen nennen, was schließ­lich doch nichts nützt.
“Denn bin ich aus’m Krieg nach Hause und denn gleich auf Tour­nee gefah­ren für fünf Jahre”, sagt in diesem Augen­blick der Grau­haa­rige auf der Nach­bar­bank zu den beiden alten Frauen, denen man ansieht, dass es ihnen weni­ger um die Geschichte als um die Beglei­tung geht. Was war das für eine Tour­nee, auf die der Alte gegan­gen ist? “Als Bauar­bei­ter”, vermu­tet Liesel; 1945/46 als Bauar­bei­ter auf Tour­nee, nee, da passen das Wort nicht und nicht die Umstände. Artist, Rummel­bu­di­ker, Steh­gei­ger, Schwarz­markt, Schmug­gel? Viel­leicht heißt es einfach: ich bin da hinge­gan­gen, wo ich dachte, hier kann ich ein paar Tage blei­ben und was zu essen krie­gen gegen Arbeit und Dienste.

Etwas Groß­städ­ti­sche­res als den Boxha­ge­ner Platz an einem Sonn­tag-Nach­mit­tag kann es nicht geben. Da kann man ruhig ein biss­chen einni­cken und nur aus einem schma­len Augen­schlitz hervor­blin­zeln — wie es meine junge Enke­lin tut, die gerade 10 Tage alt ist — und man weiß: Ich bin in einer ganz großen Stadt. Gleich­zei­tig ist die Stim­mung aber sehr privat; sobald man sich auf eine Bank gesetzt hat, ist man bekannt und kennt die Nach­barn. Die Wohn­zim­mer sind alle nach drau­ßen verlegt und jeder, der kommt, wird aufge­nom­men. Solche Plätze gibt es in den meis­ten großen Städ­ten. In Berlin gibt es — weil James Ludolf Hobrecht sie in seinem Stadt­plan von 1862 schon einge­plant hatte, bevor es über­haupt Häuser gab — beson­ders viele. Das ist der Grund, weswe­gen jeder, der Berlin lernen will, hier­her empfoh­len wird. Es sind alte und junge Leute hier, viele bunte darun­ter, auch solche, die man beinahe schick nennen muss: die Platin­blonde zum Beispiel, die sich gerade jetzt am Rande des Beton­be­ckens nieder­lässt, durch das die Kinder tollen, weil alle paar Minu­ten die Wasser­sprü­her ihre Fontä­nen hoch­ge­hen lassen.

“Mir is ett zu blöde hier!”
“Wat is dir nich zu blöde? Zu Hause rumhän­gen? Int Fern­se­hen gucken, wie die Idio­ten mit ihren Autos rumra­sen?“
Damit meint die schnip­pi­sche Schwarze mit den langen Ohrrin­gen den großen Preis von Öster­reich in der Formel 1, der in diesem Augen­blick zu Ende geht, denn die Freun­din nimmt die Stöp­sel aus den Ohren und sagt lässig: “Irvine hat gewon­nen; war det der mit dem roten Karren oder mit dem silber­nen?” Aber der Typ nimmt das Frie­dens­an­ge­bot nicht an, sondern mault und findet weiter­hin alles blöd.
Der Stadt­wan­de­rer, der nun vom Boxha­ge­ner Platz auf seinem Rück­weg zur Frank­fur­ter Allee und zur UBahn, nach einem klei­nen Stück Gärt­ner­straße in der Boxha­ge­ner Straße noch den Fried­hof besuchte, der sich zwischen der Kreut­zi­ger- und der Main­zer Straße entlang­zieht und der keinen ande­ren Ausgang hat als den Eingang, der hätte zusätz­lich zu dem lebhaf­ten Platz ein ganz stil­les Stück Berlin, das für die Stadt eben­falls ein ganz typi­sches Exem­pel ist. Wir sitzen ganz hinten auf der Bank bei der “Ruhe­stätte Puddel”, riechen den Wachol­der, hören die Tauben gurren und die Pappeln pappeln. Was für ein Gegen­satz! Nein, nein, es ist kein Gegen­satz: es ist Berlin, in Minu­ten kann man die Stadt­stim­mun­gen wech­seln und trotz­dem fühlt man sich immer in einem Zusam­men­hang von demsel­ben.

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