Zweimal 50 Jahre

Das Wort Hoch­adel hört sich nach oben an. Tatsäch­lich war gegen Ende des [vor]vorigen Jahr­hun­derts der deut­sche Hoch­adel aber schon ziem­lich down. Wenn es auch manche noch nicht wuss­ten. Nun gaben andere den Ton an. Die Indus­trie­bosse, die Grund­stücks­händ­ler, die Börsia­ner und vor allem die Banker. Bis in die 1860er Jahre war Berlin eine beschei­dene Stadt gewe­sen. James Hobrecht, der mit seinem Entwick­lungs­plan von 1862 bis heute den Grund­riss Berlins bestimmt, hatte sogar von einem “wünschens­wer­ten sozia­len Durch­ein­an­der” der Schich­ten geträumt: In der Beletage die Reichen, im Souter­rain und auf dem Hinter­hof die Ärme­ren, deren Kinder mit den abge­leg­ten Klei­dern aus dem Vorder­haus versorgt werden konn­ten. Mit solchen Träu­men — nein: Träume waren es nicht, sondern nach­träg­li­che Phan­ta­sien, wenn nicht über­haupt Recht­fer­ti­gungs-Ideo­lo­gien — war es nach dem dänisch-öster­rei­chisch-deut­schen Krieg bald vorbei. Der Name für das Programm, den neuen Reich­tum zu zeigen, hieß von Grune­wald, Wann­see, West­end: Villen­ko­lo­nie. Jetzt ist es für die Kommer­zi­en­räte und die Ihren nobel, drau­ßen zu wohnen und für sich. Die Villa wird das Schloss des Handels­her­ren.

Die “Heim­stät­ten AG”, die von 1895 aus Wiesen und Feldern die Kolo­nie Karls­horst und die — wie es heißt — eine vom Hoch­adel getra­gene Bauge­sell­schaft war, ist also der Versuch, dem Herr­schafts­schema von gestern einen städ­ti­schen Anschluss an die elegante Lebens­form vom dama­li­gen Heute zu verschaf­fen. Der schönste Vorort Berlin im Berli­ner Osten — heißt es von Karls­horst bald. Wenn man “geschicht­lich” guckt, kann man es sich heute noch vorstel­len, dass das stimmte. Die ersten Häuser entstan­den in der Lehn­dorff­straße, die damals nach Kaiser Wilhelm II. hieß und nicht nach dem Grafen Lehn­dorff, der einer dieser hoch­ad­li­gen Mitgrün­der von Karls­horst war. Es folgte das Prin­zen- (oder Seen-)viertel, das Heimat­vier­tel, das Sagen­vier­tel.
Das rhei­ni­sche Vier­tel, durch das ich jetzt am immer drücken­de­ren Frei­tag­mit­tag lang­sam spaziere, gehört schon zur letz­ten Entwick­lungs-Epoche von Karls­horst. Die Andernacher‑, die Königs­win­ter­straße, über die ich nun die Rhein­stein- und die Zwie­se­ler Straße errei­che, sind erst 1910 aus den Stra­ßen Nummer 9 und 11 diese schö­nen Stra­ßen gewor­den, die zu Beginn des Jahr­hun­derts das Villen­pro­gramm zu Guns­ten elegan­ter, manch­mal sogar im Verfall noch edler Miets­häu­ser aufge­ge­ben hatten.

1910 — da war schon nicht mehr viel Zeit. “Also meine Herren”, rief einer dieser Hoch­ad­li­gen am 19.01.1910 im deut­schen Reichs­tag, “die preu­ßi­sche Geschichte führte dahin, dass der preu­ßi­sche Adel in die Offi­ziers­korps einge­tre­ten ist … Als ich Offi­zier war, da war es mir ganz egal, was von mir in der Zeitung stand, ich habe nur gefragt: Was sagt mein Komman­deur … Der König von Preu­ßen und der Deut­sche Kaiser muss jeden Moment imstande sein, zu einem Leut­nant zu sagen: Nehmen sie zehn Mann und schlie­ßen Sie den Reichs­tag”. Da fehl­ten nur noch vier Jahre Welt­machts-Illu­sion und vier Jahre Mord­krieg, eh der Kaiser — und auch jetzt nur mühsam — begriff, dass er längst über­haupt nichts mehr zu komman­die­ren hatte.

Wenn ich jetzt sagte, denke ich schon seit einige müden Minu­ten, die Zwie­se­ler Straße endet als Sack­gasse, dann müsste ich aufpas­sen, dass ich das Wort nicht unmerk­lich als symbo­lisch auffasse. Das Haus hinter den Fahnen­mas­ten, rechts Kano­nen, hinten ein Panzer und roter sowje­ti­scher Marmor, nannte sich früher “Museum der bedin­gungs­lo­sen Kapi­tu­la­tion”. Nach­dem die zwei­ten fünf­zig Jahre von Karls­horst vorüber und die Sowjet­sol­da­ten abge­zo­gen waren, fand man diesen Namen und die Präsen­ta­tion dahin­ter falsch. Die Geschichte musste reno­viert werden. Wie die Häuser: Als ob die Geschichte nicht einfach um des willen Geschichte ist, weil sie war. Manches stellte sich — hieß es — in dieser Gegend nun als falsch heraus. Die Rhein­stein­straße hatte von 1976 bis 1992 nach einem deut­schen Solda­ten gehei­ßen, der sich einer sowje­ti­schen Parti­sa­nen-Einheit ange­schlos­sen hatte und deshalb umge­bracht worden war. Die Rhein­pfalz­straße — im sonst ganz verschwie­ge­nen Buren­vier­tel: ursprüng­lich Dewet­straße nach einem natio­na­lis­ti­schen Buren­ge­ne­ral — hieß ein paar Jahre nach einem DDR-Unter­of­fi­zier, von dem jetzt gesagt wird, glaub­wür­dige Unter­la­gen über den Vorfall, der seiner­zeit mit dem Stra­ßen­na­men geehrt werden sollte, lägen gar nicht vor. Vieles an der Geschichte ist nicht glaub­wür­dig. Und manches ist kaum zu glau­ben.

Das Haus am Ende der Zwie­se­ler Straße ist ein Berli­ner, ja ein deut­scher, euro­päi­scher oder sollen wir sogar sagen: welt­his­to­ri­scher Platz ersten Ranges. Am 7. Mai 1945 unter­zeich­nete Gene­ral Alfred Jodel in Reims für die US-Ameri­ka­ner die Urkunde über die bedin­gungs­lose Kapi­tu­la­tion der deut­schen Trup­pen und zwei Tage später hier in Karls­horst der Gene­ral­feld­mar­schall Keitel — ein Kriegs­ver­bre­cher, über­haupt: ein Verbre­cher — densel­ben Text vor dem sowje­ti­schen Ober­kom­man­die­ren­den. Der Marschall kam herein, in den Sitzungs­saal, der hier bis heute zu besich­ti­gen ist und in dem nun ein Endlos­band den Vorgang stumm zeigt, hob in einer lächer­li­chen Geste den Marschalls­stab und unter­schrieb: unter­schrieb, unter­schrieb, unter­schrieb. Er unter­schreibt immer noch, kaum jemand guckt zu.

Die zweite große inter­na­tio­nale Mord-Veran­stal­tung des 20. Jahr­hun­derts war zu Ende, nach Westen — blei­ben wir bei diesem Berli­ner Beispiel: Die Frank­fur­ter Allee hinun­ter — erstreck­ten sich die Kolla­te­ral­schä­den. “Den Satz musst du strei­chen!”, sagte meine Lebens­freun­din, während wir auf dem Mäuer­chen vor dem geschicht­li­chen Haus sitzen, der ist doch schwer miss­ver­ständ­lich.” Gestri­chen. Es ist zu heiß und zu schwül für Geschichte.

Nun begin­nen die zwei­ten 50 Jahre von Karls­horst. 1895 bis 1945: erste Peri­ode; 1945 bis vor ein paar Jahren: zweite Peri­ode, und nun hat lang­sam mit recht­li­cher Bedäch­tig­keit schon die dritte Peri­ode begon­nen. Die Zeiten verschrän­ken sich. Über­all noch Rück­stände der Sowjet­macht, Verfal­len­hei­ten. Die Draht­tore stehen offen. “Betre­ten verbo­ten. Zuwi­der­hand­lun­gen werden straf­recht­lich verfolgt. Bundes­ver­wal­tungs­amt”, später derselbe Text vom “Bundes­ver­mö­gens­amt”. Allmäh­lich wird diese einma­lige Verschrän­kung der Zeiten in Karls­horst einer neuen Einheit­lich­keit weichen. Die Geschichte hält sich nicht. Der welt­his­to­ri­sche Ort in der Zwie­se­ler Straße wirkt schon wie abge­stellt, zur Seite gerückt, gerade noch dage­we­sen. 

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