Zum Sozialismus nach Reinickendorf?

Afrikanische Straße

Wollen wir den Sozia­lis­mus loben? Aber schlecht machen wollen wir ihn doch auch nicht. Werden wir ihn über­haupt wieder­erken­nen? Wo — wenn es den wirk­li­chen Sozia­lis­mus wirk­lich gege­ben hat — soll es ihn denn gege­ben haben, wenn nicht im Wedding und dann allmäh­lich auch in Reini­cken­dorf? Vom Wedding gibt es einen schö­nen Geschichts­weg nach Reini­cken­dorf. Er führt durch die Afri­ka­ni­sche Straße. Was wissen wir, wenn wir da sind?

Was ist berühmt? Später ist es auch verges­sen: August Bebel gegen Eduard Bern­stein in einer “berühm­ten” Debatte: Die SPD, sagte der Partei­vor­sit­zende, ist für immer gegen Mili­ta­ris­mus und Kolo­nia­lis­mus (als ob Bern­stein dafür gewe­sen wäre). Für den Kolo­ni­al­mi­nis­ter Dern­burg war das ein “Verge­hen an Deutsch­land”, und wie zum Hohn warf der Kaiser über die Wohn­ge­biete der Arbei­ter ein Netz von Stra­ßen, die seine kolo­nia­len Ziele benann­ten, zwischen den Rehber­gen und der Müllerstraße.
Hagen­beck wollte “lebende Neger­stämme” in den Rehber­gen ausstel­len. “Meinst du, die Weddin­ger Arbei­ter hätten sich die nicht ange­se­hen?”, sagt meine Lebens­freun­din. Heute sind die Afri­ka­ni­sche Straße und ihre afri­ka­ni­schen Nach­bar­stra­ßen auf dem Wege nach Reini­cken­dorf sehr schöne Stra­ßen. Das ist dem Wohnungs­bau der 1920er Jahre zu verdan­ken.

Gegen Mili­ta­ris­mus und Kolo­nia­lis­mus — das Programm war bald out. Der deut­sche Kolo­nia­lis­mus hatte sich im Ersten Welt­krieg von selbst erle­digt. Den Wider­stand gegen den Mili­ta­ris­mus hatte die Mehr­heits-SPD selbst recht­zei­tig genug aufge­ge­ben, damit das Völker­mor­den mit Blumen in den Gewehr­läu­fen hatte begin­nen können.
Die schöne Stadt­sied­lung oben an der Afri­ka­ni­schen Straße, an der Grenze vom Wedding zu Reini­cken­dorf heißt heute nach Fried­rich Ebert. Nichts über Fried­rich Ebert in diesem Zusam­men­hang. Obwohl.
Eine ganz ernst­hafte Idee ist das natür­lich nicht, man könnte in einer Stadt umher­ge­hen und die Wirk­lich­keit einer poli­ti­schen Idee suchen. Aber es ist oft das nicht ganz Ernst­hafte, was uns auf die Ideen führt, von denen wir später etwas haben.

“Meinst du, dass hier ein Mann aus Lomé Vereins­mit­glied ist?”, fragt mich meine Lebens­freun­din, als wir durch die Kolo­nie Togo wieder auf die Müllerstraße zu und gerade gegen­über auf der ande­ren Seite in den Domfried­hof wandern. Da sind wir schnell woan­ders; für die Faszi­na­tion der Vorstel­lung bleibt keine Zeit, dass jemand, dessen Groß­el­tern in kurzem Lenden­schurz für Hagen­beck in den Rehber­gen tanzen soll­ten, heute Vorsit­zen­der des Weddin­ger Klein­gar­ten­ver­eins Togo sein könnte. Könnte er?

Zwischen Reini­cken­dorf und Wedding liegt eine große Fried­hofs­land­schaft. Sie beginnt gleich da, wo zwischen Cambrid­ger und Gott­hard­straße Reini­cken­dorf beginnt. Hier am Domkirch­hof an der Liver­poo­ler Straße sind wir noch im Wedding. Wenn man die Geschichte auf einem Stadt­spa­zier­gang sucht, kann man sie nicht ebenso suchen wie in einem Buch. Das reiz­volle an der Spazier­gangs­ge­schichte ist ja gerade, dass sie nicht nach den Jahres­zah­len geht. Berlins erster Ober­bür­ger­meis­ter, Leopold von Gerlach, ist hier beer­digt. Seine Amts­zeit von 1809 bis 1813, knappe vier Jahre, wird als Notzeit beschrie­ben; Selbst­morde aus mate­ri­el­ler Not waren in Berlin an der Tages­ord­nung, die Ster­be­rate höher als die Zahl der Neuge­bo­re­nen; aber es war auch die Zeit, in der die Univer­si­tät Berlin gegrün­det worden ist, und manche nennen sie auch eine Zeit des Neuan­fan­ges und des Neuauf­bruchs.

Gerlach wohnte mitten im alten Berlin, im Spren­gel der Domge­meinde, deswe­gen wohnt er nun als Toter hier drau­ßen zwischen Wedding und Reini­cken­dorf. Der ganze Magis­trat und alle Stadt­ver­ord­ne­ten folg­ten seinem Sarge, die Teil­nahme der Bevöl­ke­rung war groß. “Wie lange sind die denn gelau­fen?”, fragt meine Lebens­freun­din skep­tisch. Durch die ganze Chaus­see- und durch die ganze Müllerstraße, auf diesem Wege ließ sich viel zusam­men­zäh­len, und als man da war, waren alle Tränen schon getrock­net.

An den Sozia­lis­mus hat in diesem Trau­er­zuge niemand gedacht. Erst recht die beiden berühm­tes­ten Söhne des Bürger­meis­ters nicht, die dann später hier auch ihre letzte Ruhe fanden. Als Freunde des preu­ßi­schen Königs haben sie bis zur bürger­lich-revo­lu­tio­nä­ren Mitte des Jahr­hun­derts eine Rolle gespielt oder zu spie­len versucht, mit der man sie im Tölpel­spiel der Vergan­gen­heit auftre­ten lassen könnte, wenn aus der ganzen Jahr­hun­der­tin­sze­nie­rung ein Stück gewor­den wäre, das man am Ende mit Recht “vom Dunkel zum Licht” nennen könnte oder so ähnlich. “Aber können wir das nicht?”, fragt meine Lebens­freun­din, als wir schließ­lich gegen­über der weißen Stadt in Reini­cken­dorf in der Genfer Straße auf einer Bank sitzen und auf die Sied­lung blicken von Bruno Ahrends, Wilhelm Bühning, Otto Rudolf Salvis­berg, 1929 bis 1931 unter der städ­te­bau­li­chen Regie des großen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Stadt­bau­ra­tes Martin Wagner gebaut, der in der Fremde, als US-Ameri­ka­ner gestor­ben ist, weil das Bonner Deutsch­land ihn nicht mehr haben wollte.

Wir hatten den Domkirch­hof auf einem Neben­weg nach Osten verlas­sen, um zwischen Wedding und Reini­cken­dorf die Bris­tol­straße zu errei­chen. Die Wohn­sied­lung dort am Schil­ler­park kommt in vielen Archi­tek­tur­bü­chern vor. Sie ist ein Muster­stück der Baukul­tur der ersten deut­schen Repu­blik. Der Archi­tekt hieß Bruno Taut. Er hatte seine Tätig­keit als SPD-Baustadt­rat von Magde­burg gerade been­det, als er in den enden­den 20er Jahren diese und mehrere andere beispiel­hafte Wohn­sied­lun­gen in Berlin baute.
“Das ist gebaut aus Sozia­lis­mus”, sagte Wassili Lunat­schar­ski, der Sowjet­volks­kom­mis­sar, über Taut. Aber Taut bestand darauf, dass es “Sozia­lis­mus im unpo­li­ti­schen Sinne war, fern von jeder Herr­schafts­form”, und Manne Jagusch, der Foto­graf, der auch mal Sozia­list war, sagt über­haupt über die Häuser in der Bris­tol­straße: “Lang­wei­lig, ziem­lich unin­ter­es­sant.”

Die Reini­cken­dor­fer Stra­ßen, um die die weiße Stadt liegt, heißen nach Orten in der freien Schweiz. Und als ich das sage, klingt es meiner Lebens­freun­din zu pathe­tisch, denn sie sagt: “Emmen­tal — das klingt für mich in erster Linie nach Käse”. Ist damit jetzt unser Geschichts­weg nach Reini­cken­dorf been­det: lang­wei­lig und Käse? Und den wirk­li­chen Sozia­lis­mus hätte es wirk­lich gar nicht gege­ben?
“Es kommt doch nicht auf den Sozia­lis­mus an”, sagt meine Lebens­freun­din leise.
“Sondern?”
“Wie es unse­ren Urgroß­el­tern, unse­ren Groß­el­tern, unse­ren Eltern gegan­gen ist und wie es uns geht und unse­ren Kindern gehen wird”. Wo die Bürger­meis­ter nur im Tode, aber die Arbei­ter­klasse zu Lebzei­ten wohnt, viel­leicht kommen wir wenigs­tens da demnächst dazu, dass ein Mann aus Afrika der Klein­gar­ten­vor­sit­zende einer Kolo­nie ist, die nach der afri­ka­ni­schen Heimat seiner Groß­el­tern heißt.
Die Wege nach Reini­cken­dorf sind lehr­reich.

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Zufallstreffer

Spaziergänge

Schlussstück

Die Tuchol­sky­straße verbin­det die Geschwis­­ter-Scholl-Straße mit der Torstraße, vor kurzem hätte man noch sagen können: mit der Wilhelm-Pieck-Straße. Die edlen baye­ri­schen Geschwis­ter hat Tuchol­sky nicht kennen können, Wilhelm Pieck hat er nie gekannt. Die Straße […]

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