Zwei Stunden mit Schröder

Richtig auf den Beinen kann ich mich nicht halten. Aber bis auf die Stufen der Volksbühne würde ich es vielleicht schaffen. Das ist ein Geschichtsort erstklassiger Art, unübertreffbar viel­leicht überhaupt. Dort kann man Stadtspaziergänge im Kopf unternehmen, bei denen man schon durch kleine Gedankenarrangements schlauer werden kann. Aber ich würde die Anstrengung, die es für mich ist, nur auf mich nehmen, wenn ich einen Begleiter hätte, der mir zuhörte und um den es sich lohnte.

Dieser Freund von zwei Nachmittagsstunden am Sonntag ist der Bundeskanzler Gerhard Schröder. In einem früheren Leben kannten wir uns. Es gab eine kleine Situation relativer politischer Nähe, als unser gemeinsames Thema die Reform der Juristenaus­bildung war. Ich war Kammergerichtsrat; er war wohl Referendar. Das konservative Niedersachsen war immerhin politisch entschlossen genug, für die neuen Ideen, denen sich die alte Universität Göttingen verschloss, in Hannover eine neue Jura-Fakultät aufzumachen. Da war ich Professor für Rechts­didaktik. Oder wäre es beinahe gewesen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. In der Biographie von Bundeskanzler Schröder ist sie noch tiefer versunken als in meiner.

„Also Schröder“, würde ich sagen, „erstmal das Gebäude, auf dessen Stufen wir hier sitzen. Es stand in einem Wiesen- und Scheunengelände, das nach einem Amtsvorgänger von Dir hieß: „Bülowplatz“ (da hätte Schröder widersprechen müssen, denn davor soll er sich hüten, dass er am Ende noch in einem Traditions­zusammenhang mit Bismarck auftaucht). Das hatten so ein paar versprengte Menschenfreunde, der energisch­ste hieß Bruno Wille, immerhin hingekriegt: ein Schauspielhaus von einem Spitzenarchitekten, von Oskar Kaufmann, für die Arbeiterklasse. Obwohl Wille mehr Goethe sagte und Giordano Bruno und Ernst Haeckel als Sozialismus.

Die Gegend war deshalb immer noch wüst. Viele Juden. Solche, die die feinen Berliner Juden, die sich trotz allem sicher glaubten in Deutschland, nur mühsam als die Ihren akzeptierten. Ehe die Verblende­ten kommen, geht es immer um Oben und Unten und die, die unten sind, haben nichts dagegen, dass es noch Untere gibt. „Für solche allgemeinen Einsichten hätte ich nicht hierher kommen müssen“, sagt Schröder, „das weiß ich von allein, aus meinem eigenen Leben“. Vor dem Lebensweg dieses Schröder muss jeder, der ein Gefühl für Lebensehrgeiz hat, Hochachtung haben.

Dann kam das KPD-Haus; mitten hinein in die soziale Wüste die Zentrale der KPD. Weit ab an der Lindenstraße lag die Zentrale der SPD: die Organisati­on des Bruder-Klassenkampfes begann. Diese Formel verwirft, wer hier auf den Stufen nicht zum ersten Mal sitzt. Schröder, sage ich also, das ist keine Erklärung für das Ende der Weimarer Republik. Es geht früher los. Lies die Reden von August Bebel gegen Eduard Bernstein, und was Theodor Barts, ein Liberaler, dazu gesagt hat: Die größte Arbeiterbewegung der Welt, die SPD, hat eigentlich von Anfang an in einem Zwiespalt zwischen ihren Worten und ihren Taten und Absichten gelebt. Und vor allem hat sie Klassenkampf, Arbeiter­klasse und Internationalismus gesagt, aber im ent­scheidenden Moment war das Klassengefühl zu den französischen Arbeitern gar nicht so groß. Da lagen auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von Anfang an daneben. Hier sind die Massen dann 1914 in klingendem Spiel vorbeigezogen, mit Blumen in den Gewehrläufen. Der Krieg ist ein Abenteuer. Das siehst Du heute nicht bei Castros hier hinter uns in der Volksbühne, aber deutlich im Fernsehen, alle diese wilden Typen, in Helmen und Waffen, weg aus den Fabrikhallen, von den Fließbändern, weg von der Alten und den Gören, die nach Brot schreien.

„Was hätten wir denn von der Welt gesehen“, hat der Bierbrauer in Franken gesagt, der mal mein Nachbar war, „wenn es den Krieg nicht gegeben hätte“. Krieg ist was für Männer. Er macht ihnen Spaß. Über den Platz, auf den wir hier blicken, und der jetzt nach Rosa Luxemburg heißt, läuft ein Rad, das nicht vorwärts kommen kann. Gegenüber liegt ein Gebäude, dessen Ruhm inwendig ist und sich erst langsam wieder entwickelt. Das Babylon, ein Kino, eine Wagner-Höhle, eine Höhle der Verzauberung. Mein Freund Meyer-Rogge, einer der besten Renovierungsarchitekten, stellt es gerade wieder her.

Warum, fragt Schröder, immer in der Hoffnung, dass wir uns die Emotionen im Kopf verschaffen können, die sonst aus unserer Seele so heftig in die Wirklichkeit drängen, dass plötzlich doch ein friedli­cher Sozialarbeiter Bomben auf kosovarische Indu­strieanlagen werfen lässt, die die Gegend vergiften.

Schröder hat aufmerksam zugehört. „Mach’s gut, Alter“, sagt er. Ich bleibe noch ein bisschen in Meyer­Rogges Innenräumen. Der Architekt, den er hier renoviert, hieß Poelzig. Hans Poelzig, sagte mein Vater, das war doch der, der immer versuchte, ein bisschen wie Cäsar auszusehen.

 

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