Zwischen Waidmannslust und Lübars

Es ist ein Sommer­tag, wie man sie nicht verges­sen möchte. Der Himmel tut alles, damit es uns gut geht. Die Stadt ist vergol­det. Wer mit der S1 von Fried­rich­straße kommt, hat schon viel von ihr gese­hen, ehe er nach 22 Minu­ten in Waid­manns­lust aussteigt.

Wo ist die Zeit, die vergan­gen ist? Die Frage hält sich über die ganze Fahrt, nach­dem sie auf dem glit­zernd-neuen Bahn­hof Fried­rich­straße auf kam. Sie wird mitge­nom­men über die Grenze zwischen Wedding und Pankow, die eine Welten­grenze war, bis hier­her in diesen idyl­lisch benann­ten Teil Reini­cken­dorfs, der von Herms­dorf durch das Tege­ler Fließ getrennt und mit ihm durch schöne Spazier­wege verbun­den ist. Seit etwas mehr als 100 Jahren gibt es den Halte­punkt Waid­manns­lust der Nord­bahn; ein Forst­mann namens Bondick bezahlte ihn mit eige­nem Geld, und bald entstand zu dem Gast­haus, mit dem Waid­manns­lust begann, eine kleine Land­haus­ko­lo­nie, ein Kurhaus, seit 1892 eine Schule. Das ist Heimat­kunde; man weiß es oder man weiß es nicht; das sind nicht die Daten, die das beun­ru­hi­gende Bedürf­nis erwe­cken, nach der Zeit zu suchen, die vergan­gen ist, weil wir uns nicht damit abfin­den wollen, dass sie verlo­ren ist. Der neue Bahn­hof Fried­rich­straße — wie gesagt -, der heute nichts mehr weiß von seiner Jahr­zehnte langen Vergan­gen­heit als Grenz­bahn­hof, ist solch ein Ort, an dem Zeit begra­ben liegt — nicht, dass wir sie wieder haben woll­ten, aber es ist doch die Zeit unse­res eige­nen Lebens gewe­sen. 22 S‑Bahn-Minu­ten reichen für die Antwort auf solche Fragen nicht. Viel­leicht sind sie über­haupt nicht für Antwor­ten gemacht.

Das Schönste unter der Sonne ist: unter der Sonne zu sein. Zur rech­ten Zeit, eben jetzt, fällt mir dieser im Sommer-Sonnen­schein beru­hi­gende Satz ein. Ich bin den Zabel-Krüger-Damm gerade bis zur Schluch­see­straße gegan­gen und dort in die Straßen­schleife einge­bo­gen, die die Wohn­sied­lung an den Roll­ber­gen mit den Schwarz­wald­na­men umschließt. Ich bin lange nicht hier gewe­sen. Den Beginn dieser Sied­lung, die man — klein wie sie ist — doch schnell in Bezie­hung setzt zu dem Märki­schen Vier­tel, das ein Stück südlich, etwas später auch begann. Auch hier im Roll­berg­vier­tel haben namhafte Archi­tek­ten gebaut, die man als Freunde von Freun­den kannte, von denen man Meinun­gen hörte, die man nun an Taten zu messen hatte: Hein­rich Molden­s­chardt, Jan und Rolf Rave u.a. Dieses Wohn­vier­tel, das jetzt mit seinen Innen­we­gen zwischen Akazien und Birken ruhig da liegt, entstand 1966 bis 1972.

Die Erin­ne­rung an das eigene Leben ist unzuverläs­sig. Die Gefühle stel­len Nähe und Ferne zu manchem Ereig­nis anders dar als die nach gleich­mä­ßi­gen Jahren zählende Lehr­buch­ge­schichte. Im Mai 1966 beriet die Ost-Berli­ner Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung über eine “Grund­kon­zep­tion über den Aufbau des Stadt­zen­trums der Haupt­stadt der DDR, Berlin, bis 1970: Bebau­ung zwischen Marx-Engels-Platz und Alex mit dem Fern­sehturm”. Am 2. Juni 1967 besuchte der Schah von Persien West-Berlin; ein Poli­zist erschoss den demon­strierenden Studen­ten Benno Ohnes­org; Hein­rich Albertz, der Regie­rende Bürger­meis­ter, trat zurück. Auf der 25. IFA im August begann das Farb­fern­se­hen. Im April 1970 war im Märki­schen Vier­tel die 10.000. Wohnung fertig. Im Mai 1971 stürzte Honecker Walter Ulbricht. Während dessen also entstand die Roll­berg­sied­lung. Diese Zeit zitie­ren diese drei unter­schiedlichen Frak­tio­nen von Wohn­blocks, 4 bis 18 Stock­werke hoch.

Das Haupt­bau­werk ist an der Ecke Titi­see­straße / Zabel-Krüger-Damm, im Nord­os­ten des Vier­tels, das “Hoch­haus-Gebirge” von Hans Scharoun, dem Be­rühmten; an vielen Stel­len der Stadt hat er zu verschie­denen Zeiten archi­tek­to­ni­sche Zeichen gesetzt und hätte noch mehr gesetzt, wenn die SPD ihn 1947 nicht durch einen Mann von Albert Speer ersetzt hätte. So ist es gewe­sen, manch­mal möchte man es kaum glau­ben; heute ist das wohl nur noch eine Anek­dote. Hier an der Titi­see­straße imitierte sich Scharoun selber: In Stutt­gart-Fasa­nen­hof hatte er zu Beginn der 60er Jahre einen ähnli­chen, mit beweg­lich wirken­den Kreis­seg­men­ten geglie­der­ten Haus­typ kreiert: “Salute”, Gruß nach vorn. Das lichte Grau des Hauses hinter den weißen Balkon­bändern, über­ragt von einem getrepp­ten, rosa­far­be­nen Türm­chen, wirkt sanft und leuch­tend, bergig und erho­ben, aber in der Waid­manns­lus­ter Umwelt auch fremd, zurück­ge­zo­gen und ein biss­chen hoch­mü­tig: als ob ein solches Haus über­all stehen könnte, ohne Rück­sicht auf die Umge­bung, bereit, jeder­zeit für sich selber zu spre­chen. Wenn man Lust auf Bewer­tun­gen hätte, könnte man sagen: ein ansehn­li­ches Haus, aber ein geschichts­lo­ser Baustil oder ein vergess­li­cher. Anfang der 60er Jahre viel­leicht für die BRD genau das Rich­tige. Kurze Zeit später — das fast gleich­zei­tige Märki­sche Vier­tel, das wir südlich des Packerei­gra­bens liegen sehen, bietet die Beispiele — nann­ten viele diesen Stil rück­sichts­los, ohne noch auf die Details zu achten, die viel­leicht Leben­dig­keit in den Beton hätten brin­gen können. Die Geschichte ist aus. Städte sind Funk­tio­nen, keine Indi­vi­dua­li­tä­ten: Dieser Gedanke war nicht durch­set­zungs­fä­hig; er schei­terte an den Menschen, die von der Zeit leben und an die Jugend denken, wenn sie alt werden, wenigs­tens manch­mal und ein biss­chen.

Mit dem 222er braucht man von hier 12 Minu­ten bis nach Alt-Lübars. Der Gegen­satz kann auf den ersten Blick nicht stren­ger sein. Ein rich­ti­ges Dorf, mit Kirche (von stren­gem preu­ßi­schem Barock) und echten Bauern­häu­sern von damals. Gemüt­lich sitzen wir in der “Dorf­schmiede” vor Riesen-Roula­den und hätten noch manche Alter­na­tive gehabt. Die Örtlich­keit ist immer noch sehr west­ber­li­nisch. Jahr­zehn­te­lang konn­ten wir unsere Besu­cher hier­her führen, wie ans Ende der Welt. Jetzt liegt Pankow mit Blan­ken­felde nahe. Das Dorf wirkt immer deut­li­cher wie ein Museum oder eine Dorf-Ausstel­lung; aber während wir über Wiesen und Felder blicken, können wir uns noch immer darüber wundem, wie unter­schied­li­che Stadt­land­schaf­ten uns die Metro­pole in Minu­ten­schnelle schaf­fen kann. Auf der Bank vor der Kirche, die viel­leicht für eine Hoch­zeit geschmückt wird, sitzen wir lange im Schat­ten der Bäume und sehen länd­li­cher Reite­rei zu, die die gut gestell­ten Stadt­kin­der auf dem Reiter­hof betrei­ben. Der Himmel tut alles, damit es uns gut geht.

 

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