Linkstraße

Ich lebe seit 1961 in Berlin, 38 Jahre. Die meis­ten davon war die Link­straße nur ein Name. Sie gehörte eher in die Biogra­fien der Berühm­ten, derer ich mich erin­nerte, als in die Wirk­lich­keit, die ich bewohnte. Als die 60er Jahre vor allem in West-Berlin mit Erhe­bun­gen ende­ten, die aller­dings mancher Beob­ach­ter der restau­ra­ti­ven Anfangs­jahre Bonns erwar­tet hatte, war ich als Rich­ter längst etabliert und nicht bereit, mir allzu viel zu erlau­ben. Ich fühlte mich nicht geschmäht, als ein heuti­ger SPD-Bundes­mi­nis­ter, der damals noch nicht einmal bei den Grünen ange­kom­men war, die es noch gar nicht gab, mir, dem Sozi­al­de­mo­kra­ten, das bekannte “außen rot, innen weiß” entge­gen­hielt, der Fort­schritt­li­che. Aber ich wollte mich doch auch hervor­tun vor dem Zeit­geist: “Oppo­si­tio­nelle Rich­ter” hieß 1968 mein Beitrag zur Jubi­lä­ums­num­mer der Deut­schen Rich­ter­zei­tung für das Jahr­hun­derte alte Kammer­ge­richt. Seit­dem kenne ich die Link­straße genau, sie steht mir nahe. In der Link­straße wohnte der oppo­si­tio­nellste der oppo­si­tio­nel­len Rich­ter: Leo Bene­dikt Waldeck, Ober­tri­bu­nals­rat; von hier aus der Link­straße fuhr 1870 seine Leiche — halb Berlin war auf den Beinen — zum Fried­hof in der Liesen­straße. Ich stand da, bildete ich mir ein, wo der Held gewohnt hatte. Das war im Nichts. Die Link­straße war 1968 eine Straße im Nichts, ein einzi­ges Haus, kaum eine Erin­ne­rung an Gewe­se­nes, eine Nota­tion auf einem Brach­feld. Für mich war es fast ein symbo­li­scher Ort. Wer kennt noch die Helden von damals? Was ist, wird Gewe­se­nes, das Gewe­sene Nichts, nach der Kultur kommt die Steppe. Ich erwar­tete Jahr­zehnte lang nicht, dass sich das hier ändern würde. Hinten stand die Mauer. An die Mauer war ich gewöhnt. Oh, Brüder und Schwes­tern!

Nun heute! Die Link­straße heute! Ich schreibe diesen Text nicht weit von dort. Ich kann die tosca­na­gel­ben Merce­des-Häuser sehen, die Renzo Piano in seinem gläser­nen Atelier entwor­fen hat, das bei Genua über dem ligu­ri­schen Meer am Felsen hängt. Als ob ein Raum­schiff von ferne sich nieder­ge­las­sen hätte auf der Brache, die für immer nichts schien und nun fast alles ist. Ein Stück aus einem Traum, denke ich; ich gehe oft hin, manch­mal einen über den ande­ren Tag, um mich zu wundern und für unmög­lich zu halten, was ich doch selbst erlebt habe, Stück für Stück.

Frei­lich war die Link­straße früher, als sie schon einmal bebaut war, länger als heute, sie reichte nach Mitte hinein, von der Pots­da­mer Straße zur Pots­da­mer Straße. Ihren Namen hat sie seit 1845 nach dem Mann, der den Bota­ni­schen Garten in Berlin zur Welt­gel­tung brachte: 14.000 Pflan­zen­ar­ten bereits 1843; Hein­rich Fried­rich Link aus Hildes­heim, den auch niemand mehr kennt.

Auf der einen Seite das bewegte Areal, das heute “Pots­da­mer Platz” heißt, vom inter­na­tio­na­len Musi­cal-Thea­ter bis zum Spit­zen­ho­tel und popu­lä­ren Lokal alles, Einkaufs­stät­ten, die geöff­ne­ter sind als sonst irgendwo in Berlin, gegen­wär­tigste Gegen­wart, die Hand­greif­lich­keit des Leben­di­gen. Auf der ande­ren Seite aber auch — selbst wenn alle Menschen sonst verges­sen sind, deren vergan­gene Berühmt­heit link­stra­ßig verlief — jeden­falls ein Name, der herüber­klingt: wer kennte die Brüder Grimm nicht; jeden­falls die “Kinder- und Haus­mär­chen” sind noch ein Titel. In Nummer 7 der Link­straße haben sie gewohnt; hier ist 1859 Wilhelm Grimm gestor­ben, bis zu seinem letz­ten Atem­zug saß Jakob, der Bruder, auf einem klei­nen Stühl­chen neben ihm; hier starb Jakob Grimm 1863; das berühmte “Deut­sche Wörter­buch” war nicht fertig; jetzt ist es fertig; jeder, der es in die Hand nimmt, bewun­dert die, die es begon­nen haben.
Das ist die Link­straße: die Gegen­wär­tig­keit des Umsat­zes, der schnel­len Waren- und Gefühls­be­we­gung einer­seits und mit einer kurzen Erin­ne­rung ande­rer­seits: die Stille der Texte, die Bedacht­sam­keit der Sätze, die Herzens­be­we­gun­gen, als ob sie aus der Kind­heit kämen. Grimms waren hier­her gezo­gen, weil sie drau­ßen sein woll­ten, in Ruhe vor der Groß­stadt. Bald war aber die Anhal­ti­sche Eisen­bahn gekom­men. Da war es ihnen zu unbe­quem umzu­zie­hen, zu viele Bücher, Papiere, Archive, Samm­lun­gen. Bis sie hinauf getra­gen wurden auf den Matthäi-Kirch­hof, von dem sie nun herun­ter sehen auf uns, die sichs in den weichen Cine­maxx-Sitzen bequem machen für die Märchen von heute.

 

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