Marzahn — oder für heute genauer: Ahrensfelde Süd — liegt uns ganz nahe. Seine Entstehung reicht von der Eröffnung der S‑Bahn-Strecke Friedrichsfelde Ost/Ahrensfelde am 30. Dezember 1982 bis — sagen wir — Ronald Reagans: “Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!” am 12. Juni 1987. Zwischen 1983 und 1987 ist dieses letzte der Marzahner Neubau-Wohngebiete entstanden, für ungefähr 30.000 Menschen, über die alte Stadtgrenze Berlins hinweg reichend; der Einigungsvertrag vom 31.8.1990 regelt die Eingliederung von Ahrensfelde Süd nach Berlin. Hier also sind wir draußen; in Wirklichkeit mit den modernen S‑Bahn-Zügen der Linie 7 nur dreißig Minuten vom Alexanderplatz.
Mich bringt die S7 überhaupt ins Schwärmen. Eine intensivere Stadtfahrt gibt es doch nicht, als sie diese Bahn in den fünf Viertelstunden verschafft, die sie von Ahrensfelde nach Potsdam braucht. Von der Havemannstraße nach Sanssouci: Berlin im Extrakt, Berlin im Querschnitt. Der Kopf geht hin und her; viel zu sehen, viel zu bedenken; eine Orts- und Zeitenreise. An einem Vormittag hat man sie hin und zurück getan; wenn man zu Hause geblieben wäre, müsste man Bibliotheken lesen. Bestimmt! Für und von Ahrensfelde hätte man im übrigen nicht nur die S‑Bahn, die allerdings — ich sagte es — unübertrefflich ist. Fünf Minuten vom S‑Bahnhof entfernt ist die Endhaltestelle von drei Straßenbahnstrecken: in einer halben Stunde an den Friedrichshain, in drei Viertelstunden zum Rosa-Luxemburg-Platz, zum Bahnhof Frankfurter Allee, wo man die Ringbahn erreicht: dreimal werde ich mit ihr an einem Tag um Berlin herumfahren, wenn der Ring wieder geschlossen ist.
Jetzt sind wir in Marzahn, überqueren vom S‑Bahnhof die Märkische Allee, über die Fußgängerbrücke, die mit einer erwartungsvollen Konstruktion an der Havemannstraße beginnt. Unser heutiges Ziel liegt noch ein bisschen südlicher.
Hundert Jahre war Marzahn ein Ort inmitten der Rieselfelder der beeindruckenden Berliner Kanalisation. 1920, als Berlin rechtlich erst das heutige Berlin wurde, hatte es 750 Einwohner, 1945 waren es 3600, heute hat es mit 140 Straßen und Plätzen ungefähr 164.000 Einwohner. Marzahn ist also für sich eine veritable Großstadt. Man sagt ja auch von Potsdam, Trier und Schwerin nicht, dass es Orte irgendwo draußen sind.
Der städtebauliche Grundriss ist einfach. Im Westen wird die Stadt begrenzt durch die S‑Bahntrasse, die — wie gesagt — bis hier heraus seit Ende 1986 besteht, die Autostraße, die sie begleitet, heißt Märkische Allee. Gegen Osten ist das Gebiet der Großstadt Marzahn begrenzt durch die Wuhle und durch den Blumberger Damm, der ebenfalls zur Stadtgründung angelegt ist und ursprünglich auch den Straßenteil umfasste, der heute Kemberger Straße heißt. Die West-Ost-Gliederung übernehmen von der Ahrensfelder Chaussee an, die das Areal im Norden begrenzt, die Wuhletalstraße, die Mehrower Allee, die Raoul-Wallenberg-Straße und schließlich die Landsberger Allee im Süden. Auch die Havemannstraße, in der wir gerade in der Mitte der Ladenzeile in dem Rundbau-Café beim Eis sitzen, kann man zu den Marzahner West-Ost-Magistralen rechnen. Diese Straßen gibt es seit 1983. Erst seit 1983.
“Heißt die Straße nach Robert Havemann?”, fragt meine Lebensfreundin. Ja. “Aber doch nicht seit 1983?” Nein, erst erhielt sie und behielt für neun Jahre den Namen den Spanienkämpfers Erich Glückauf, seit sieben Jahren heißt sie nun nach Havemann, den mancher vielleicht noch besser in Erinnerung hat als den früheren Bergmann Glückauf.
“Stimmt es, dass Havemann mit Honecker in Brandenburg in ein und derselben Zelle gesessen hat?“
Das weiß ich nicht; aber in demselben Zuchthaus, als Widerstandskämpfer gegen die Nazis. “Und dann hat der eine den anderen trotzdem verfolgt!” Wer kann auch denken, hat Ruth Klüger geschrieben, dass man gerade in KZs und Nazizuchthäusern gelernt hätte, ein besserer Mensch zu sein.
Wir wandern jetzt den bebauten Teil der Märkischen Allee, der von der Autostraße gleichen Namens durch eine wilde Grünanlage getrennt ist, bis zum Ende, wo sie in einer Kehre in die Flämingstraße übergeht. Von hier blickt man über die Wiesen der Neuen Wuhle und über ein dickes silbriges Leitungsrohr hinüber zur Wuhletalstraße. Erreichen kann man diese Straße auf diesem Wege nicht. Das Wohngebiet Ahrensfelde Süd, in dem wir hier sind, diese letzte der Marzahner Teilsiedlungen, ist von den anderen so getrennt, dass die Marzahner Stadteinheitlichkeit hier künstlich wirkt. Ahrensfelde Süd ist eine Klein- oder Mittelstadt, rund 30.000 Einwohner wie Bad Schwartau oder Werdohl. Das sind Städte, die wir kennen; unsere Leute wohnen dort und einen Teil unseres Lebens haben wir dort verbracht. Niemand würde zu Bad Schwartau oder Werdohl sagen: Was sind denn das für Siedlungen? Wo sind wir denn hier draußen? Das soll eine Metropole sein?
Warum soll Ahrensfelde Süd denn eine Metropole sein? Es ist eine übersichtliche Kleinstadt, von denen Berlin viele umfasst. Berlin ist eine Kleinstadt-Großstadt. Hier sind wir unter den anderen 29.998 Menschen, aber mitten in Berlin.
Unterdessen haben wir die Straßenecke Flämingstraße / Wittenberger Straße erreicht, die fast einen kleinen Platz bildet. An der Wittenberger Straße Schule und Kita, sonst gradlinige Häuser der 80er Jahre, aber genau davor, hinter einer leicht hügeligen Wiese ein merkwürdiges, etwas konvex geschwungenes, von vorne dick aussehendes, aber in Wirklichkeit ganz schmales Haus, dessen Vorderfront aus lauter Balkonen besteht. Mit ihren vielfältigen Bepflanzungen und Beschirmungen sehen sie an einem Sommertag wie heute freundlich und lustig aus. Ein “skulpturales Objekt” schreibt das Architekturbuch, na ja: da muss man eine Vorliebe für die Architektensprache haben. Aber es ist ein sehenswertes Haus, das die Gegend verändert und ihr eine Freundlichkeit verleiht, die sie vorher vielleicht nur durch die Menschen hatte, die hier wohnen. Niedrigenergiehaus; Assmann, Salomon und Scheidt heißen die Architekten.
Die Straße führt nun in elegantem Bogen um den kleinen Clara-Zetkin-Park herum, an die Straßenbahntrasse heran, zu der eine weiße Ladenzeile entstanden ist. Eis-Henning hat dort ein Eiscafé und Pizza Max eine Pizzabäckerei. Wie auch in Halensee, wo ich wohne, und wo ich — die Viertelstunde nicht gerechnet, die wir zum S‑Bahnhof zurück brauchen durch die Havemannstraße — mit der S7 in einer knappen Stunde wieder sein werde. Über Berlin wundere ich mich immer wieder.
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