Heute gelten sie als “Meisterdiebe” und “soziale Gauner”, weil sie angeblich Teile ihrer Beute in der armen Bevölkerung verteilt haben. Beides aber ist eher Verklärung als Wahrheit. Denn den Brüdern gelang in ihrer Heimat Berlin nur ein einziger Coup. Dass davon irgendetwas an Bedürftige verteilt wurde, ist nicht aktenkundig.
Warum aber gelten die beiden »Jungs aus Moabit« als Berliner Robin Hoods? Man muss das sicher im Zusammenhang der damaligen Zeit sehen: Ende der 1920er Jahre herrschte in Deutschland Rezession, die Armut wuchs, Identifikationsfiguren waren gefragt. Die zwei »Gebrüder Sass« waren typisch für diese Zeit: Aufgewachsen mit vier weiteren Geschwistern, 1‑Zimmer-Hinterhauswohnung in der Arbeitergegend Moabit, die Arbeitslosigkeit wirft die Familie nieder. Da schaffen es die Zwei, den verhassten Staat an der Nase herumzuführen, vorzuführen – und der kann sich nicht wehren. In dieser Stimmung entstehen Legenden. Die angeblichen Meisterdiebe waren zwar meist glücklos, aber genial. Dass fast alle ihre Aktionen schief gingen, war nicht unbedingt ihre Schuld, sondern auch dem Zufall geschuldet. Sie waren zu ihrer Zeit die Einbrecher, die am genauesten planten und ihre Coups höchst präzise durchführten. Bei keinem der Einbrüche ist der Polizei klar geworden, woher die beiden ihre Informationen hatten. Es muss sich um Insiderwissen gehandelt haben, von außen konnte man die meisten Einbrüche nicht in dieser Art vorbereiten. Leider ist dieses Rätsel nie gelöst worden.
Aufgeflogen sind Franz und Erich Sass schon vor der ersten Aktion, als sie einen Schneidbrenner kaufen wollten und dabei der Polizei auffielen. Dabei war bis dahin bei keinem Tresoraufbruch ein solches Gerät benutzt worden, auch hier waren die Brüder Pioniere. Manche Technik, die sie bei ihren Einbrüchen anwandten, war einmalig. Sicher hat auch dieser Einfallsreichtum den Charme der beiden in der Öffentlichkeit gefördert, zumal sie auch niemals Gewalt gegen Menschen richteten.
Den Schneidbrenner durften sie letztlich mitnehmen, man konnte ihnen nicht nachweisen, dass sie damit eine Straftat planten. Und obwohl er später an einem Tatort gefunden wurde, konnte die Polizei ihn nicht beweiskräftig den beiden Sass-Brüdern zuordnen.
Am 27. März 1927 versuchten Franz und Erich ihren ersten Safe zu öffnen. In der Berliner Bank Alt-Moabit 129 an der Werftstraße schafften sie es bis in den Tresorraum, dort mussten sie ihr Werk aber nach einiger Zeit beenden, da sie offenbar nicht wussten, dass Schneidbrenner der Luft den Sauerstoff entziehen. Doch eines haben die beiden hier zum ersten Mal bewiesen: Sie gingen zielstrebig vor, wussten genau, welche Wand zu durchbrechen ist, welche Wege oder Umwege zu ihrem Ziel führen.
Ab diesen Zeitpunkt war die Wohnung der beiden in der Birkenstraße 57 jedoch Beobachtungsobjekt der Polizei, denn sie ging davon aus, dass die Gebrüder Sass mit ihrem neuen Schneidbrenner am Werk waren. Doch trotz intenstiver Überwachung der Wohnung gelang es der Polizei in den folgenden Jahren nicht, die Zwei bei einem Einbruch zu überraschen.
Der zweite Versuch fand in der Nacht zum 4. Dezember 1927 statt. An einem Samstag pulten Franz und Erich Sass eine Wand zum Keller einer Bank am Savignyplatz 11 in Charlottenburg heraus. Hier wurde auch die Sass-typische, saubere Arbeit angewandt: Keine Fingerabdrücke, keine brutalen (und lauten) Wanddurchbrüche. Stattdessen wurden die Ziegel einzeln herausgepult, nicht mehr als nötig. Das machte keinen Lärm. Allerdings wurde die »Arbeit« am Sonntag zufällig entdeckt. Da sie noch nicht abgeschlossen war, legte sich die Polizei in der nächsten Nacht auf die Lauer. Aber vergeblich: Die Brüder hatten ihrerseits den Tatort beobachtet und die Polizei bemerkt.
Mehrere Tage lang arbeiteten sie auch an ihrem nächsten Coup, Anfang März 1928: Das Reichsbahngebäude am Schöneberger Ufer nahe dem Gleisdreieck. Wie die beiden ersten Tatorte steht auch dieses Haus heute noch. Diesmal wurde die saubere Arbeit perfektioniert: Von einem Raum im Erdgeschoss aus gruben sie sich nach oben, wo ein Geldtresor stand. Wieder gab es keine Durchbrüche, stattdessen bohrten die Brüder ein Quadrat, um danach den so perforierten Beton herauszubrechen. Tagsüber wurde die Stelle von einer Attrappe verdeckt, die genau in der Farbe des Deckenputzes gehalten war, so dass sie niemandem auffiel. Diese Technik wandten sie auch später noch öfter an. Diesmal verhinderten die Nachtwächter eine erfolgreiche Aktion. Sie hielten das Bohren für Katzengeschrei und machten überall Licht, um die vermeindlichen Tiere zu vertreiben. Aber es waren keine Katzen, die dort flüchteten.
Nur drei Wochen später, in der Nacht zum 25. März, bemerkte der Portier eines Eckhauses in der Budapester Straße einen brenzligen Geruch. Er rief die Feuerwehr und, weil der Geruch aus Richtung der Stahlkammer einer Bank im selben Haus kam, auch die Polizei. Die beiden Brüder konnten nicht mehr flüchten, zu viele Mieter und Schaulustige blockierten den Kellereingang. Als die Polizei eintraf, sah sie ihren Verdacht bestätigt: Sass-Arbeit, eine Kellerwand nach der anderen wurde sauber aufgeschnitten, überall Attrappen, falls zwischendurch jemand hinunter gekommen wäre. Sie durchsuchten die Keller, fanden aber niemanden, offenbar waren die beiden Meisterdiebe auch Meister im Verstecken.
Zwischendurch mussten sich Franz und Erich immer wieder mit Nachschub an Werkzeug versorgen, da sie es ja meistens bei ihrer Flucht zurücklassen mussten. Wenn es wieder mal einen Einbruch in einer Werkzeughandlung gab, war sich die Polizei sicher, dass die Sass-Brüder dahintersteckten. Doch wo sie ihr »Arbeitswerkzeug« versteckten, fand sie nicht heraus. In der Wohnung jedenfalls nicht, dort schauten die Beamten öfters mal vorbei.
Hoffnung schöpften sie, als sie Franz und Erich eines Tages im Jahr 1928 in einem Bankhaus in Schöneberg verschwinden sahen. Am Nollendorfplatz 8 Ecke Maaßenstr. 25 versteckten sich die Observierer, um die Täter beim Ausspähen erwischen zu können. Doch beide kamen nicht mehr heraus. Nachdem die Bank geschlossen hat, wird sie komplett durchsucht – erfolglos. Die Sassens hatten die Falle längst bemerkt und waren wieder entwischt.
Richtig peinlich wäre es für die Regierung geworden, wenn der nächste Versuch geglückt wäre: Diesmal wollten die Brüder an die nächste Rate der Reparationszahlungen aus dem Ersten Weltkrieg heran. Diese sollte wenige Tage später an Frankreich ausgezahlt werden und lagerte in einem Tresor in der Oberfinanzkasse des Landesfinanzamtes Alt-Moabit 145. Der Westflügel, in dem dieser Tresor stand, hat den Krieg überstanden, heute befindet sich hier die Polizei- und Feuerwache des Regierungsviertels. In der Nacht zum 20. Mai 1928 mussten die bösen Brüder sich und zentnerschweres Gerät an zwei Wachmännern vorbeischmuggeln. Alles ging auch gut, der Tresor war sogar schon zur Hälfte aufgeschweißt, als ihnen ein Missgeschick passierte. Während des Rundgangs des Nachtwächters wollte Erich Sass in dessen Häuschen, um das Kabel der Alarmanlage durchzuschneiden, die mit dem Tresor verbunden war. Doch unvermuteterweise kehrte der Wächter zurück, die Sass-Brüder mussten wieder mal fliehen und nicht nur all ihr Werkzeug zurücklassen, sondern auch neun Millionen Reichsmark.
Schließlich gelang ihnen aber doch das Meisterstück, für das sie so lange geprobt hatten. Dort, wo heute am Wittenbergplatz ein Möbelhaus-Neubau steht, war Ende Januar 1929 das Gebäude der Disconto-Bankgesellschaft. Im Keller befanden sich 181 Kundensafes, über deren Inhalt nie wirklich etwas bekannt wurde. 179 von ihnen brachen die Brüder auf, aber offiziell war nur von einer Beute in Höhe von 150.000 Reichsmark in Devisen die Rede. Sicher aus Angst vor dem Finanzamt haben die Kunden nie offengelegt, was wirklich aus ihren Fächern verschwunden ist. Man kann aber davon ausgehen, dass es ein Vielfaches des offizielles Verlustes war.
Dabei wurde der Diebstahl erst nach zwei Tagen bemerkt. Denn anfangs ließ sich einfach nur die Tür des Tresorraumes nicht öffnen. Auch die Firma, die die Tresortür eingebaut hatte, konnte nicht weiterhelfen. Also wurden Maurer gerufen, die die Wand aufbrechen sollten. Mittlerweile war es Mittwoch, die »verklemmte« Tür war seit zwei Tagen dicht. Als die Maurer endlich ein Loch in die Wand gestemmt hatten, wurde das Dilemma offenbar: Selbst Geldbündel und Schmuckstücke hatten die Einbrecher auf dem Boden zerstreut, weil es zu viel war, um alles mitzunehmen. Es folgte ein Großeinsatz der Ordnungsmacht, Polizeipräsident Zörgiebel persönlich inspizierte den Tatort. Erst nach einer Weile entdeckte man, wie die Täter in den Tresorraum gekommen waren: Da der Raum im Keller lag, musste er künstlich belüftet werden. Dazu gab es einen Schacht, der sich quer durch die Etage schlängelte und schließlich auf dem Hof endete. Franz und Erich hatten sich über einen Mieterkeller einen Zugang zu diesem Schacht verschafft und sind so in den Tresorraum gelangt. Die Tür hatten sie nach erledigter Arbeit mit einem kleinen Metallplättchen so präpariert, dass sie von außen nicht mehr zu öffnen war. In der Öffentlichkeit, in der Presse, waren die Gebrüder Sass das Thema Nummer Eins. Die Polizei durchsuchte mehrmals erfolglos die Wohnung, konnte den beiden aber noch immer nichts nachweisen. Erst nach Weihnachten 1929 stieß sie auf eine heiße Spur. Auf dem Luisen-Friedhof in der Charlottenburger Guerickestraße entdeckten Anwohner, dass sich auf dem stillgelegten Teil des Gottesackers nachts etwas tat. Die herbeigerufene Polizei fand nach einigem Suchen frische Erde, darunter ein Holzboden mit einer Klappe. Dies war der Einstieg zu einem unterirdischen Versteck, drei Räume, die Wände mit Holz verkleidet, Werkzeug. Offenbar wurde dieser Ort gerade zu einem Schlupfwinkel ausgebaut und niemand anderes als die Gebrüder Sass kam dafür in Frage.
Wieder legte sich die Polizei auf die Lauer, diesmal erfolgreich. Sie versteckten sich in der Remise des Friedhofs, vergaßen aber, die Tür zu schließen. Als nachts Franz Sass über das Gelände schlich, erkannte ihn einer der Polizisten. Im selben Moment aber sah Franz die geöffnete Tür und sprang sofort über die Friedhofsmauer auf das Nebengrundstück. Dort wartete sein Bruder Erich und gemeinsam konnten sie fliehen. Sie rannten offenbar direkt zu ihrem Rechtsanwalt, denn als sie nach zwei Stunden festgenommen wurden, konnten sie bereits ein Alibi vorweisen, das ihnen ihr Anwalt gab. Sie mussten wieder freigelassen werden. Die Gebrüder Sass traten nun in Berlin nicht mehr in Erscheinung. Einige Monate nachdem die Nazis 1933 an die Macht gekommen waren zogen Franz und Erich nach Kopenhagen. Dort öffneten sie am 23. Februar 1934 den Tresor einer Zigarrenfabrik, auch eine Bankfiliale hatten sie erfolgreich besucht. Doch kurz danach wurden sie festgenommen, weil man sie mit falschen Papieren erwischte. Damit war ihre Karriere beendet. Das Urteil der dänsichen Justiz lautete: Vier Jahre wegen Einbruch, Diebstahl und Passfälschung.
Die Brüder hatten während ihrer Haft keinen Kontakt zueinander, sie verfielen in Depressionen und wurden geistig verwirrt. Nach Verbüßung der Strafe lieferten die dänischen Behörden das Paar am 14. März 1938 an Deutschland aus. Hier gab es mittlerweile das »Gesetz gegen das Berufsverbrechertum«, bei dem den Angeklagten keine speziellen Taten mehr nachgewiesen werden mussten. Die Brüder Sass kamen in Untersuchungshaft, Franz im Zellengefängnis Lehrter Straße, Erich in Plötzensee. Am 27. Januar 1940 erhielten sie das Urteil: 11 bzw. 13 Jahre Zuchshaus. Zwei Monate später, am 27. März, wurden die Gefangenen an die Gestapo übergeben und noch am selben Tag erschossen. Aufzeichnungen des späteren Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss belegen, dass er die Erschießung im Konzentrationslager Sachsenhausen leitete.
Das Geld und andere Wertsachen aus dem einzigen gelungenen Diebstahl (in der Disconto-Gesellschaft) sind zum größten Teil nie mehr aufgetaucht. Die Polizei hatte mehrere Hinweise, wo die Gebrüder Sass die Sachen versteckten hatten, sie konnte sie aber nie finden. Möglicherweise sind sie in während des Krieges in irgendeinem Haus verschüttet worden oder liegen noch immer vergraben irgendwo im Grunewald.
Die Tatortbeschreibung des Einbruchs in die Finanzkasse Alt-Moabit im Mai 1928 ist nicht ganz korrekt. Der erhalten gebliebene unverputzte Westflügel des Gebäudes verfügte damals noch über einen Anbau im rechten Winkel nach Westen in Richtung des heutigen Parkplatzes, Länge etwa 50m. Dort, am äußersten Ende im 2. Stock, stand der Tresor. Leider wurde dieser Gebäudeteil im Krieg zerstört.