Zur Zeit des tragi­schen Miss­ge­schicks von F‑2 sah die Gegend außer­halb der Stadt­mauer sehr unter­schied­lich aus. Östlich des Rosen­tha­ler Tores gab es Wein­an­bau, dort wo sich das Gelände Rich­tung Norden erhebt, an den Rändern des Urstrom­tals. Das Anbau­ge­biet erstreckte sich bis vor das Lands­ber­ger Tor und nörd­lich etwa zur Linie der jetzi­gen Schwed­ter Straße. Der Stra­ßen­name »Wein­bergs­weg« erin­nert heute noch daran, wie das Gelände einmal genutzt wurde.

Rich­tung Westen dage­gen sah es aus wie in der Sahara, es war eine Sand­wüste, in der nur wenig Vege­ta­tion vorkam. Der Grund war der gedan­ken­lose Umgang der Berli­ner Bevöl­ke­rung mit der Natur. Denn noch hundert Jahre zuvor befand sich an dersel­ben Stelle dich­ter Wald, der sich ursprüng­lich sogar bis an die Ufer der Spree hinzog. Doch der Bau der Akzi­se­mauer, die teil­weise aus ange­spitz­ten Holz­pfäh­len bestand, die umfang­rei­chen Neubau­tä­tig­kei­ten inner­halb der Stadt sowie auch das nötige Brenn­ma­te­rial zum Kochen und Heizen verbrauch­ten Unmen­gen von Holz. Und so wurde der Wald vor der Stadt sorg­los und plan­los abge­holzt, eine Wieder­auf­fors­tung gab es nicht — mit dem Ergeb­nis, dass ab etwa 1730 eine riesige unfrucht­bare Sand­flä­che entstand, von der zum Leid­we­sen der Bevöl­ke­rung bei windi­gem Wetter große Mengen Flug­sand in die Stadt getra­gen wurde.

1751 gab Fried­rich II. den Auftrag, einen Teil dieser Fläche zu bebauen, in vier Reihen mit jeweils 15 einge­schos­si­gen Häusern. Dort soll­ten die zahl­rei­chen Hand­wer­ker unter­ge­bracht werden, die als Saison­ar­bei­ter in den Sommer­mo­na­ten am Aufbau der Stadt arbei­te­ten, jedoch im Winter wieder nach Hause zurück­kehr­ten und vor allem dort das verdiente Geld ausga­ben. Viele dieser Hand­wer­ker kamen aus dem Vogt­land (die frühere Schreib­weise lautete Voigt­land), das in Sach­sen liegt. Um die Hand­wer­ker dazu zu bewe­gen, ganz­jäh­rig hier wohnen zu blei­ben, sollte ihnen die Zahlung der Steuer erlas­sen werden.

Fried­rich II. schrieb: »Da Ihr dem Geh. Rath Kircheysen, bey Erstat­tung Eures Berich­tes vom 14. Dieses Mir ange­zei­get habet, dass unter denen zu Berlin jetzo befind­li­chen Zimmer- und Maurer­ge­sel­len, sich 247 fremde Zimmer-Gesel­len, so aus- und einwan­dern und bey dem Maurer-Gewercke 294 fremde Gesel­len, so ab- und zurei­sen, befind­lich seyen; So will ich zuvör­derst von Euch noch wissen, ob gedachte Gesel­len nicht von den soge­nann­ten Voigt­län­dern seynd, welche zu Sommer­zei­ten kommen, um zu arbei­ten, gegen die Winter­zeit aber wiederum nach ihrer Heymath reisen, um allda das durch ihre Arbeit verdiente Geld zu verzeh­ren.«
Fried­rich konnte sich nicht gleich zum Bau der Häuser entschlie­ßen, stellte den Hand­wer­kern dann 1752 aber doch 9.000 Reichs­ta­ler für Bauholz und Sand­stein aus Rüders­dorf zur Verfü­gung, wenn sie sich die Häuser selbst bauen würden.

Sofort nach dieser Order wurde damit begon­nen, die einzel­nen Grund­stü­cke abzu­ste­cken. Ausge­wählt wurde das Gelände, das sich direkt vor der Stadt­mauer zwischen dem Hambur­ger Tor (heute Kleine Hambur­ger Straße) und dem Rosen­tha­ler Tor (heute Rosen­tha­ler Platz) befand. Die vier Häuser­rei­hen für die säch­si­schen Hand­wer­ker waren auf zwei Grund­stü­cke verteilt, die sich zwischen der Stadt­mauer und der heuti­gen Inva­li­den­straße befin­den. Im Osten verlief die »1. Reihe«, die der heuti­gen Brun­nen­straße entspricht. Die »2. und 3. Reihe« befand sich beid­sei­tig der jetzi­gen Acker­straße und im Westen wurde das Gelände mit der »4. Reihe« an der heuti­gen Berg­straße begrenzt. Die Auftei­lung dieser beiden Wohn­blö­cke hat sich bis heute nicht geän­dert.

Sämt­li­che 60 Häuser hatten den glei­chen Grund­riss, mit nur einem Stock­werk und Wohnun­gen für zwei Fami­lien. Jede dieser Wohnun­gen besaß eine Stube mit zwei Fens­tern zur Straße hinaus, eine Kammer und eine Küche mit je einem Fens­ter zum Hof bzw. Garten. Zwischen den beiden Wohnun­gen verlief ein Korri­dor von der Straße nach hinten. Zur Versor­gung mit Wasser wurden im Block­in­ne­ren vier Brun­nen ange­legt, später kamen noch einige dazu.

Von diesen Gebäu­den ist heute nichts mehr übrig, trotz­dem kann man sie sich noch anschauen. Denn zur selben Zeit wurde die »Weber­ko­lo­nie Nowa­wes« bei Pots­dam ange­legt. Nahe dem S‑Bahnhof Babels­berg stehen um die Straße Alt-Nowa­wes heute noch ein paar dieser Häuser, die Mitte des 18. Jahr­hun­derts gebaut worden sind.

Da in dem damals bebau­ten Gebiet am Rosen­tha­ler Tor Auswär­tige wohn­ten, wurde es als Kolo­nie bezeich­net und nach der Herkunft der ursprüng­li­chen Bewoh­ner benannt: Fortan hieß es also »Kolo­nie Neu-Voigt­land«, und noch fast 250 Jahre später nennen einige der hier leben­den Menschen die Gegend »das Vogt­land«. Offi­zi­ell setzte sich später aber der Begriff »Rosen­tha­ler Vorstadt« durch, wie die Gegend bis heute heißt.

Schon bald nach der Fertig­stel­lung von »Neu-Voigt­land« verän­derte sich die Zusam­men­set­zung der Menschen, die in der Kolo­nie lebten, grund­le­gend. Nach einer Erhe­bung im Jahre 1754 lebten in den 120 Wohnun­gen 66 Maurer und 50 Zimme­rer (jeweils mit Fami­lie). Bereits 1755 jedoch mach­ten diese Berufs­stände gerade noch 64 Wohn­ein­hei­ten aus; statt­des­sen haben sich verschie­dene andere Hand­wer­ker, aber auch Händ­ler und Solda­ten einge­kauft. Aller­dings behiel­ten die Häuser noch bis zur Jahr­hun­dert­wende ihren bevor­zug­ten Status, so dass kein Berli­ner sie kaufen durfte.

Es dauerte noch viele Jahre, bis das Vogt­land auch eine Schule bekam. In der Brun­nen­straße 1, also direkt vor dem Rosen­tha­ler Tor, wurde die erste allge­meine »Schule« einge­rich­tet — in einem einzi­gen Raum. Später kamen mehrere umge­baute Wohnun­gen dazu, unter ande­rem in der Inva­li­den­straße 5 und der Acker­straße.

Trotz der anfäng­li­chen Bevor­zu­gung galt das »Vogt­land« bald als Armen-Gegend, und diesen Ruf behielt es — zu Recht — bis ins 20. Jahr­hun­dert hinein. Hier eine Beschrei­bung des Vogt­lands durch den Schrift­stel­ler August Hein­rich Braß:
»Nirgends ist es stil­ler und einsa­mer auf den Stra­ßen der Resi­denz als wie hier, und diese trüb­sin­nige Stille wird nur hin und wieder durch das Geschrei von einem Haufen sehr zerlumpt ausse­hen­der Kinder unter­bro­chen, die sich auf eine wahr­haft dämo­ni­sche Weise jauch­zend und tobend auf einem großen Lehm- oder Sand­hau­fen umher­wäl­zen, der, vor einem dieser Häuser abge­la­den, solange die Mitte der Straße sperrt, bis er zu seiner Bestim­mung verwen­det worden ist. Die meis­ten der Häuser, die nur aus einem einzi­gen Stock­werk bestehen, liegen von der Straße aus so tief, dass die Fens­ter förm­lich unter der Erde ange­bracht sind, und ein plum­pes, hölzer­nes Gelän­der gewährt dem Vorüber­ge­hen­den wenigs­tens einige Sicher­heit vor der Gefahr, in diese Vertie­fun­gen hinab­zu­stür­zen, die in einer Breite von drei bis vier Fuß in das Stra­ßen­pflas­ter geschnit­ten sind, um den Bewoh­nern dieser unter­ir­di­schen Räum­lich­kei­ten Gele­gen­heit zu geben, die duns­tige Atmo­sphäre ihrer feuch­ten Zimmer mit der frischen Luft zu verbes­sern, die sich aus dem nahe liegen­den, fauli­gen Rinn­stein entwi­ckelt.

Auch die Läden dieses Stadt­teils, aus welchen die Bewoh­ner dessel­ben ihre gerin­gen Bedürf­nisse entneh­men, unter­schei­den sich durch den Aufwand jeder mögli­chen Einfach­heit von allen ande­ren Verkaufs­lo­ka­len der Resi­denz. Der äußere Anstrich der Laden­tü­ren ist gewöhn­lich ein sehr dunk­les Braun­rot, eine Farbe, auf welcher Schmutz­fle­cke sehr wenig zu sehen sind und die außer­dem sehr gut geeig­net ist, die Aufmerk­sam­keit eines vorbei­schlen­dern­den Stra­ßen­jun­gen nicht auf sich zu ziehen, der sich sonst ein Vergnü­gen daraus machen würde, auf einem helle­ren Grunde aller­lei sehr merk­wür­dige Figu­ren mit Blei­stift oder Röthel zu zeich­nen.

Mag nun zwar die Armut einzel­ner Indi­vi­duen, welche andere Stadt­teile bewoh­nen, dieselbe Höhe errei­chen, als bei den Bewoh­nern des Voigt­lan­des, so drängt sie sich doch nirgends in diesem Maßstabe zusam­men als wie gerade hier. Aller­dings finden sich, beson­ders unter den Grund­ei­gen­tü­mern, wohl­ha­ben­dere Bürger, die Masse besteht indes­sen haupt­säch­lich aus Hand­ar­bei­tern und Tage­löh­nern, und während in einer ande­ren Gegend der Stadt der Arme aus leicht erklär­li­chem Scham­ge­fühl die Lumpen seines Anzugs soweit als möglich zu verber­gen strebt, um nicht den Augen seines Nach­barn aufzu­fal­len, so findet doch diese Rück­sicht hier nicht statt, und man gewöhnt sich viel­mehr an diese sorg­lose Schau­stel­lung des Elends.«

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