“Der Norden Berlins, eine Stadtwanderung am 31.5.1884«

»Und welch ein farben­rei­ches Bild neues­ten Berli­ner Lebens, wenn man auf den Platz vor dem Rosen­tha­ler Thore hinaus­tritt — desje­ni­gen Lebens, welches über­all in dieser großen Stadt pulsirt, nirgends aber, zu gewis­sen Stun­den des Tages, stär­ker, inten­si­ver, als hier. In Früh­lings­abend­sonne getaucht liegt dieser weite Platz, in welchen fünf Stra­ßen münden. Rechts und links öffnen sich die Loth­rin­ger- und die Elsas­ser Straße, zwischen oder hinter deren hohen, schö­nen Gebäu­den kaum noch ein Ueber­bleib­sel der alten Commu­ni­ca­tion, Schup­pen, Schorn­stein oder nackte Brand­mauer sicht­bar ist, in der Mitte boule­vard­ar­tig mit Bäumen bepflanzt, die hier, in der Breite des Bodens und freien Circu­la­tion der Luft, vortreff­lich gedei­hen. Und welches Durch­ein­an­der von Pfer­de­wa­gen, Omni­bus­sen und Menschen! Denn dies ist die Stunde, wo die Fabri­ken schlie­ßen und die Arbei­ter heim­keh­ren.

Die Haupt- und Geschäfts­straße, der Bazar des Nordens, ist die Brun­nen­straße, nament­lich in ihrem unte­ren und ältes­ten Theil, etwa bis zur Vete­ra­nen­straße. Hier ist Laden an Laden, und am Abend, wenn die Lich­ter funkeln, blitzt und schim­mert es hinter den Fens­tern, vor denen, auf beiden Seiten, eine kauf- und schau­lus­tige, wenig verwöhnte Menge hin- und herwogt. Hier sind auch die großen, sog. ‘Waaren-Abzah­lungs-Geschäfte’, welche durch ganze Stock­werke reichen und in denen man — auf Borg! — Alles haben kann, von einem Hemden­knopf ange­fan­gen bis zu comple­ten Ausstat­tun­gen und Haus­ein­rich­tun­gen. Ob das System für den Arbei­ter das rich­tige, ja über­haupt nur ein empfeh­lens­wert­hes sei, vermag ich nicht zu sagen; es wird viel von der Anwen­dung im einzel­nen Fall abhän­gen. Mein Vorha­ben, ein solches Etablis­se­ment kennen zu lernen, ‘Berlins größ­tes, feins­tes und reells­tes’, wie es sich auf seinen, massen­haft zur Vert­hei­lung kommen­den gelben Zetteln nannte, ward durch eben den Mann verei­telt, der sie vert­heilte. ‘Ach, Sie jehen ja da nich hin’ sagte er, indem er mich von oben bis unten mit einem Blicke voll Verach­tung und Mißtrauen musterte. Doch sei schon hier bemerkt, daß mir von Seiten unse­rer Arbei­ter, so häufig ich auch auf diesen Wande­run­gen mit ihnen zusam­men­ge­trof­fen bin, niemals unfreund­lich, oder nur unhöf­lich begeg­net worden. Wenn man sie um Auskunft fragt, so blei­ben sie stehen auf den Stra­ßen oder erhe­ben sich von ihren Sitzen. Rußig und müde, wie sie sind, rücken sie zusam­men und machen Platz auf den Bänken — was die feine­ren Herren im Thier­gar­ten und in den Pfer­de­bahn­wa­gen nicht regel­mä­ßig thun, nicht einmal vor Damen.

Die erste Spur der Brun­nen­straße findet sich auf den Plänen von Berlin aus den zwan­zi­ger Jahren. Bis dahin war dies eine Chaus­see, die nach dem Gesund­brun­nen führte und, ebenso wie die gegen­wär­tige Straße, nach dem selben hieß. Fried­rich der Große ließ sie mit einer Allee bepflan­zen, von welcher auch heute noch, weiter oben, Reste zu sehen sind, Linden von mehr als hundert­jäh­ri­gem Alter, hier und dort, an den unbe­bau­ten Stel­len, zwischen einem Häuser­block und dem ande­ren. Denn die Brun­nen­straße, mit ihrer Fort­set­zung, der Badstraße, vom Rosen­tha­ler Thore bis zum Gesund­brun­nen fast drei­vier­tel Stun­den lang, bildet noch kein zusam­men­hän­gen­des Ganzes; immer wieder, im Hinter­grunde der Neben­stra­ßen, erscheint die freie Fläche, auf welcher sich jetzt die Züge der benach­bar­ten Bahn­höfe rangi­ren, und gleich hinter der Stral­sun­der Straße, die breit und luftig zum Vineta-Platz abzweigt, endet hier über­haupt die regel­mä­ßige Bebau­ung. Nun kommt man an langen Bret­ter­wän­den vorbei und kann, durch die gebors­te­nen Fugen blickend, den einge­heg­ten Acker sehen, auf welchen hier ein einzel­ner Mann gräbt, dort ein Häuf­lein Kinder auf Gras­plät­zen spielt. Dies ist das Kartof­fel­feld der Armen, welches von unse­rem Magis­trat, zu billi­gem Pacht­zins, Land und Saat­kar­tof­feln, an Hülfs­be­dürf­tige verge­ben wird, aber nur an solche, welche die würdigs­ten und mit einer großen Zahl von Kindern geseg­net sind. Jede dieser Fami­lie erhält eine Parcelle von etwas über vier Aren durch das Loos zuge­wie­sen und jede größere der Abthei­lun­gen wird unter einen städ­ti­schen Aufse­her gestellt, der für Ordnung zu sorgen hat und die Leute in der besten Art der Bear­bei­tung ihres Ackers unter­rich­tet. Der Kartof­fel­bau der Armen — kein Almo­sen, sondern nur die Gewähr einer besse­ren Erwerbs­ge­le­gen­heit für Dieje­ni­gen, die dersel­ben werth erschei­nen — ist ein alther­ge­brach­tes Insti­tut der Stadt Berlin und hat in neue­rer Zeit an Ausdeh­nung noch zuge­nom­men. Das Areal, welches 1861 etwa 6.500 Are betrug, ist im Jahre 1881 auf mehr als 11.000 ange­wach­sen und erst ganz kürz­lich ein neues Regu­la­tiv erlas­sen worden, in welchem u. A. bestimmt wird, daß die so gewon­ne­nen Kartof­feln nicht verkauft, sondern nur für den eige­nen Bedarf verbraucht werden dürfen.

Aller­dings, je weiter die Stadt vorschrei­tet, desto mehr muß der Acker hinaus­rü­cken; und auch hier, in der Brun­nen­straße, sieht man schon neben demsel­ben große Placate, welche dem Vorüber­ge­hen­den die Wahl lassen, das betref­fende Terrain als Kartof­fel­feld zu pach­ten oder als Baugrund zu kaufen.

Erst auf der Höhe, dem Humboldt­hain gegen­über, bei der Rüge­n­er­straße, begin­nen die Häuser wieder, aber in weite­ren Abstän­den, bis zur Badstraße, welche direct nach dem Gesund­brun­nen führt. Und hier haben wir den Humboldt­hain erreicht. In nord­west­li­cher Rich­tung an ihm vorüber führt die Hoch­straße mit einer Allee junger Bäume, zur Rech­ten schnei­det ihn die Nord­bahn und zur Linken hat man den Blick über das tiefere Land, über grünes Feld und Baum­grup­pen und hier und dort noch ein Fabrik­ge­bäude.

Der Humboldt­hain ist die jüngste von den großen Schöp­fun­gen der Berli­ner Stadt­ver­wal­tung: er ist 1869, im Jahre von Alex­an­der Humboldt’s Säcu­lar­feier, begrün­det und im Jahre 1876 dem Publi­cum über­ge­ben worden. Er ist der kleinste von unse­ren öffent­li­chen Parks; der Thier­gar­ten umfaßt etwa 200 Hektaren (gegen 800 Morgen), der Fried­richs­hain 50, der Humboldt­hain nur 35. Aber dennoch ist er mit seinem wunder­vol­len Baum­wuchs, seiner Blumen­pracht, seinen festen Kies­we­gen, zahl­rei­chen Ruhe­sit­zen und schat­ti­gen Bosquets eine der schöns­ten sowohl als gesün­des­ten Anla­gen in Berlin. Auf einem Hoch­pla­teau gele­gen, über dem Dunst und Rauch der Stadt und frei von Feuch­tig­keit, hat er die bessere Luft sogar vor dem Thier­gar­ten voraus. Und wie er den Namen Humboldt’s im Andenken und der tägli­chen Uebung des Volkes leben­dig erhält, so ist er zugleich das würdigste Denk­mal dieses großen Freun­des und Kenners der Natur, des Schöp­fers der Pflan­zen­geo­gra­phie, indem nicht nur der ganze, gegen Süden gele­gene Theil des Parks zu einem bota­ni­schen Garten einge­rich­tet worden, sondern auch alle vorhan­de­nen Gehölze nach ihrem geogra­phi­schen Vorkom­men in Vege­ta­ti­ons­ge­biete und Zonen geord­net und mit wissen­schaft­li­chen Bezeich­nun­gen verse­hen sind. Oft kommen die Lehrer des Nord­be­zirks, um in diesem großen, von der Stadt ihnen geöff­ne­ten Garten ihre Kennt­nisse zu berei­chern, oder sie führen ihre Schü­ler hier­her, welche gar bald treff­lich Bescheid wissen unter den Cultur­pflan­zen und fremd­ar­ti­gen Gesträu­chen; oft auch blei­ben die Spazier­gän­ger vor den Bäumen und Blumen stehen, sich die Namen dersel­ben einprä­gend, die auf weißen Porzel­lan­tä­fel­chen deut­lich geschrie­ben sind, und es ist gar nicht zu sagen, welchen Nutzen allein nach dieser Seite hin der Humboldt­hain für die Bildung und geis­tige Hebung der umwoh­nen­den Bevöl­ke­rung stif­tet. Allein seinen größ­ten Segen entfal­tet der Humboldt­hain als eine Stätte der Erho­lung, an welcher auch der Arbei­ter sich heimisch fühlt, ja recht eigent­lich der Haus­herr ist. Sie benut­zen ihn auch flei­ßig und zu gewis­sen Tages­zei­ten ist er ganz von ihnen erfüllt; Viele führt ihr Weg hindurch, wenn sie zur Arbeit gehen oder von der Arbeit kommen, Viele verbrin­gen hier ihre Feier­stun­den. Man kann sich nichts Stim­mungs­vol­le­res denken, als den Humboldt­hain an einem feuch­ten, dunk­len Früh­lings­abend, wenn die Wege mit Blüt­hen bedeckt sind und im Gebüsch die Nach­ti­gal­len singen; wenn der Nacht­wind durch die stark duften­den Laub­mas­sen rieselt, wenn vor den klei­nen Häusern, in der lauli­chen Dämme­rung noch erkenn­bar, der weiße und der blaue Flie­der blüht und aus den hohen Sälen der Gemein­de­schule in der Wiesen­straße ein heller Licht­schim­mer über das hin- und herwo­gende Grün fällt.

Um die Mittags­stunde jedoch, zwischen zwölf und eins, wird man auf der Stadt­seite des Hains, in deren Nähe die großen Fabri­ken sind, manch anmut­hige Scene ganz verschie­de­ner Art sich abspie­len sehen. Dann, so lange die Jahres­zeit und das Wetter es erlau­ben, sitzen die Arbei­ter drau­ßen im Freien und essen ihr Mittags­brot. Jede Bank bietet dann ein ande­res Bild — ein Bild aus dem Fami­li­en­le­ben der Arbei­ter. Viel­fach brin­gen die Frauen ihre Kinder mit, und alle sitzen nun beisam­men — die Kinder zuwei­len noch in einem Wägel­chen — und halten mitein­an­der ihr Mahl. Die Frauen brin­gen Alles in einem Korbe. Die Männer essen aus einem Topfe mit dem Löffel: dicke Suppe, Pflau­men mit Klößen, Kohl und Kartof­feln — Fleisch ist nicht darin.

Es ist ein wohl­tu­en­der Anblick, all’ die Leute hier Mittag halten zu sehen, in dem sonni­gen, offe­nen Park, mit dem Grün über und vor sich, in der frischen Luft, die voll von den Gerü­chen des Früh­lings über den Rasen weht. Man wird sich darum keiner Täuschung hinge­ben und das Arbei­ter­le­ben in Berlin für ein Idyll halten wollen. Man braucht nur, um sich etwas herab­zu­stim­men, einige Stun­den später, bei Beginn des Feier­abends, den Hain zu durch­strei­fen, oder nach der Brun­nen­straße hin aus demsel­ben heraus­zu­tre­ten; nament­lich hier sind dann alle Bänke dicht besetzt mit Männern, denen man die Ueber­mü­dung und die Nacht­ar­beit ansieht, und verdros­sen drein­schau­en­den Frauen, als ob es ihnen der Mühe zu viel oder nicht werth wäre, die paar Schritte noch zu machen bis in den Hain.«

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