In der Geschichte der Brunnenstraße spielt der Ort schon immer eine besondere Rolle, an dem sie beginnt. Einst war es der Platz vor dem Rosenthaler Tor, wo Friedrich II. mit seiner Kutsche losfuhr, um kurz darauf in den Schlamm zu fallen. Später stand Moses Mendelssohn verloren darauf herum und überlegte, wie er es wohl anstellen solle, in die Stadt zu kommen. Und noch später, als die Stadtmauer fiel und mit ihr die Tore, wandelte sich dieser Ort in den Rosenthaler Platz, der aber trotz allem kein wirklicher Platz geworden ist. Statt dessen treffen hier fünf Straßen aufeinander, verschiedene Bus- und Straßenbahnlinien, im Untergrund die U‑Bahn, und darüber gibt es mehr als genug Autoverkehr. »Der Rosenthaler« ist von jeher eine Verkehrsschnittstelle — selbst als zu Mauerzeiten der Bahnhof geschlossen war, pulsierte hier das Leben. Und es gab hier auch noch anderen Verkehr: Nach der Maueröffnung wurde der Bahnhof, wie berichtet, für kurze Zeit zum Kontrollpunkt im Grenzverkehr. Und von 1991 bis etwa ’93 wurde hier zudem der Verkehr zwischen den Herren und den Jungs eingeleitet, die sich zu diesem Zweck in den Ecken und an der Straßenbahn-Haltestelle rumdrückten. Von seinem angestammten Platz am Oranienburger Tor vertrieben, fand der Schwulenstrich einige Zeit am Rosenthaler Platz statt.
Der Rosenthaler Platz. 1927 stieg hier ein Mann aus der Straßenbahn, den es in Wirklichkeit nicht gegeben hat, oder aber doch — tausendfach. Franz Biberkopf war eine Romanfigur in Alfred Döblins »Berlin-Alexanderplatz« und dieser Roman spielte tatsächlich hier, am Rosenthaler Platz. Döblin beschreibt neben seiner Romanfigur das Berlin der 20er-Jahre und dies vor allem in dieser Gegend. »Man riss das Pflaster auf am Rosenthaler Platz, er ging zwischen anderen auf Holzbohlen. Sieh mal an, die bauen Untergrundbahn, muss doch Arbeit geben in Berlin.«
Und noch einen Hinweis auf den Rosenthaler Platz finden wir, der uns bis in die heutige Zeit führt: »Vom Süden her kommt die Rosenthaler Straße auf den Platz. Wir hörten davon. Drüben gibt Aschinger den Leuten zu essen und Bier zu trinken, Konzert und Großbäckerei.«
Wenn das mit dem Konzert auch etwas übertrieben war, so zeigt der Hinweis auf Aschinger, dass der Platz schon damals den Hungrigen etwas bot: das Haus, in dem sich in den 90er-Jahren der »Burger King« auf zwei Etagen erstreckte, wurde 1898 von der Aschinger-Kette gebaut. Die gibt es immer noch, doch im Gegensatz zu heute war Aschinger damals eine wirkliche Notwendigkeit. Nirgends gab es für so wenig Geld so viel Erbsensuppe! Dazu Brot satt und Bier.
Neben dem Bierkonsum gibt es noch das Laster des Rauchens, und dem wurde am Rosenthaler ebenfalls Genüge getan. Aus der Starick-Broschüre von Ralph Hoppe:
»Der Rosenthaler Platz war ja auch Filialsitz zweier bekannter Zigarrenfirmen. Auf dem um 1865 gemachten Photo vom ‚Hof-Photographen Seiner Königlichen Majestät des Prinzen Karl von Preußen’, F. Albert Schwartz, sehen wir hinter dem Rosenthaler Tor einen Hinweis: ‘Cigarren-Taback Fabr.’ Der Rest ist nicht mehr drauf. Die Aufnahme wurde 1888 wiederholt, der Torbau störte nun nicht mehr den Blick nach Norden. Zum Anderen ist jetzt dasselbe Eckhaus mit großen Lettern versehen, ‘Loeser & Wolff, Cigarren-Fabrikanten’. Die Adresse: ‘Brunnenstraße 1, N’. Hinter dem Komma steht der Postbezirk.« Doch nicht Loeser & Wolff sind hier ansässig: »1865 ist der Besitzer des Grundstücks Brunnenstraße 1 ein Herr ‘Windpfennig, Kaufm. Eo.’, das heißt, er wohnte selbst nicht im Haus. Das änderte sich ein Jahr später. Zu seinen Mietern gehört nun ein Herr ‘Peirels, Cigarrenfabrikant’. Und dieser ist im Adressbuch auch unter der Rubrik Tabakshandlungen zu finden. 1873 gibt es keinen Peirels mehr, weder als Mieter noch als Fabrikant. Und plötzlich gibt es auch einen neuen Fabrikanten, A. Cohn. Natürlich für Cigarren. Er führt hier wie sein Vorgänger eine Tabakshandlung.«
1881 endlich ziehen Loeser & Wolff mit einer Filiale ein, und sie blieben der Adresse auch treu, nachdem an dieser Stelle um die Jahrhundertwende ein Neubau errichtet wurde. Warum der jüdische Betrieb 1940 zum letzten Mal in einem aktuellen Adressbuch erwähnt wurde, dürfte jedem klar sein. Zwischen dem Weinbergsweg und der Lothringer Straße (heute Torstraße) war noch eine weitere Tabakhandlung und ‑fabrikation am Rosenthaler Platz ansässig geworden: Hier eröffnete Carl Martzien 1893 eine Filiale.
Im selben Geschäft befindet sich heute die »Germania-Apotheke«, das am längsten ansässige Geschäft am Platz. Vor 110 Jahren wurde sie vom Eigentümer des Nebenhauses ebendort gegründet, als »Apotheke zur Germania«. In den 20er-Jahren zog sie in das Eckhaus, in dem sie bis heute angesiedelt ist.
Nochmal zurück zum Eckhaus zwischen der Brunnenstraße und dem Weinbergsweg. Wie auch in mehreren anderen Häusern in der Brunnenstraße gab es hier ein — offenbar sehr gut gehendes — »Waren- und Möbel-Kredit-Geschäft B. Feder«. Zusammen mit Conrad Wachsmann machte Berthold Feder hier beste Geschäfte mit dem Handel von Möbel und Konfektion, die er auch im Nebenhaus sowie auf der gegenüberliegenden Seite der Brunnenstraße anbot. Das Eckhaus blieb ein Möbelgeschäft. Nachdem in Krieg die oberen Stockwerke zerstört worden waren, zog in die verbliebenen zwei Etagen ein HO-Möbelhaus ein. Nach der Wende kam eine schon vorher in der DDR bekannte, wenngleich dort nie tätig gewordene, Dame und bezog das Gebäude mit ihrem Handelsgut: Der Beate-Uhse-Laden musste jedoch 1998 ausziehen, weil das Haus abgerissen wurde. Um Platz zu machen für einen neuen Stahl-Glas-Bau, der mit der Geschichte des Platzes nichts mehr gemein hat, wie so viele andere Häuser hier in der Nähe? Wir werden sehen.
Bis zum Winter 2001 jedenfalls befindet sich hier nur ein Brachgrundstück.
Neben Döblins Biberkopf gab es aber noch jemanden, der sich einst am Rosenthaler rumtrieb: »Kalle« war 1956 die Hauptfigur in Heiner Carows erstem Spielfilm »Sheriff Teddy«, und der spielte hier, am Rosenthaler Platz und in den umliegenden Straßen. Man staunt heute, wie viel damals hier los war. Kalle treibt sich mit seinen alten West-Kumpels in der Zeit des Kalten Krieges »zwischen den Fronten« herum, kommt mit seinen neuen Ost-Mitschülern nicht klar und versucht, im »langweiligen Osten« irgendwie zu Rande zu kommen. Dabei gerät er aber erstmal mit den »angepassten Halstuchträgern« aneinander. Obwohl der Film damals natürlich einen Propagandaauftrag zu erfüllen hatte, überrascht es, wie feinfühlig und sensibel der junge Regisseur Carow die beginnende Freundschaft zwischen Kalle und dem Jungpionier Andreas beschreibt, ohne dabei an politischen Plattheiten kleben zu bleiben. Der Film besteht zum größten Teil aus Außenaufnahmen und es ist immer wieder spannend, bekannte Ecken wiederzuentdecken, verwandelte Straßenzüge, die einem vertraut erscheinen, aber hier noch einmal in einer anderen Zeit zu sehen sind. Wie der Fahrradladen Rosenthaler/ Ecke Gipsstraße, der Blick durch die Torstraße oder die Buchhandlung am Rosenthaler Platz.
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