Ach nee, die Zeit ist vorbei. Wer heute hier ein Kino sucht, ein Thea­ter gar oder ein Varieté, der kann die Brun­nen­straße vom Rosen­tha­ler Platz zwei Kilo­me­ter weit laufen, doch bis zum Gesund­brun­nen wird er keinem einzi­gen begeg­nen. Aber er wird an eini­gen Häusern vorbei­kom­men, die so ausse­hen, als ob…
Stimmt, einige von ihnen stehen noch und manchen sieht man ihre Vergan­gen­heit auch noch an. Denn die Brun­nen­straße war einst voll von Vorführ­be­trie­ben jeder Art. Heute hat sie nur noch ein klei­nes, beschei­de­nes Puppen­thea­ter zu bieten. Aber vor hundert Jahren, da war hier die Blüte­zeit des Varie­tés und der Film­thea­ter.

Begon­nen hatte es drau­ßen vor dem Rosen­tha­ler Tor. 1852 entstand hier das »Berli­ner Circus-Thea­ter«. Circus und Thea­ter, damals gab es noch nicht so eine feine Unter­schei­dung, jede Auffüh­rung wurde auch Thea­ter genannt. Doch man wollte nicht nur akro­ba­ti­sche Vorfüh­run­gen zeigen, sondern auch darstel­len­des Thea­ter wagen. Umsonst — denn die vier Bühnen inner­halb der Stadt­mau­ern mach­ten ihren Einfluss geltend und niemand sollte versu­chen, eine Konkur­renz aufzu­bauen. Auch nicht drau­ßen, vor dem Tore. Die Konzes­si­ons­be­hörde blieb hart­nä­ckig, eine Schau­spiel­ge­neh­mi­gung wurde verwehrt. So blieb man bei Veran­stal­tun­gen wie der 1854 ange­kün­dig­ten: »Vorstel­lung der gymnas­tisch-athle­ti­schen, bioplas­ti­schen und Panto­mi­men-Gesell­schaft des Mr. Henri Zele­ski aus London«. Schon drei Jahre nach der Eröff­nung wurde das »Thea­ter« wieder geschlos­sen, um später als Konzert- und Tanz­saal wieder eröff­net zu werden.
Das Beson­dere an diesem »Circus-Thea­ter« war, dass es außer­halb der feinen Gesell­schaft in Berlin einen ersten Versuch wagte, ein Volks­thea­ter einzu­rich­ten. Dem soll­ten bald weitere folgen.

Noch während das Circus-Thea­ter lief, machte sich zum Beispiel ein gewis­ser Louis Gräbert Gedan­ken, sein Hobby als Frei­zeit­schau­spie­ler und seinen Beruf als Knei­pen­wirt zu verbin­den. Mit Erfolg. Sein Lokal am Wein­bergs­weg diente bald als Sommer­thea­ter und seine Truppe mauserte sich zur Berufs­schau­spiel­gruppe. Bald wollte er auch klas­si­sche Stücke spie­len, was aber dem König­li­chen Schau­spiel­haus am Gendar­men­markt vorbe­hal­ten war. Gräbert ließ sich nicht entmu­ti­gen und bestürmte den König, bis er tatsäch­lich vorge­las­sen wurde — und ihm die Konzes­sion dafür abschwat­zen konnte! Als erste Premiere seines neuen Thea­ters beraumte er Schil­lers »Jung­frau von Orleans« an. Doch da kam seine Frau dazwi­schen, Julie Gräbert, ein Filou, ein Origi­nal. Als sie von der geplan­ten Beset­zung der »Jung­frau« durch Carla Kaiser hörte, über­zeugte sie ihren Mann: »Nee, nee, dit jeht nich. Die als Jung­frau, die gloobt ihr keener. Schreib meines­we­jen: Det Mädchen von Orleans«. Ihr Mann fügte sich, feierte damit einen großen Erfolg — und starb kurz danach.
Nun kam die Stunde von Julie Gräbert, die bald nur noch Mutter Gräbert genannt wurde. Sie über­nahm das spätere Walhalla-Thea­ter und den Restau­rant­be­trieb. Die künst­le­ri­sche Leitung gab sie zwar an kompe­ten­tere Leute ab, doch das Restau­rant war ihres und damit wollte sie auch Geld verdie­nen. Als Folge davon zogen sich die Vorstel­lun­gen hin, denn in den Pausen muss­ten neben dem ange­bo­te­nen Weiß­bier erst alle vorbe­rei­te­ten Schin­ken- und Schmalz­stul­len verkauft werden, bevor es weiter­ging. Doch die Zuschauer hatten volles Verständ­nis, sie blie­ben Mutter Gräbert treu, und als diese im Januar 1870 starb, da bekam sie ein Massen­ge­leit, von dem man noch lange sprach.
Das »Walhalla Varieté-Thea­ter« exis­tierte weiter, es wurde ausge­baut, fasste schließ­lich 1.550 Perso­nen. Im ange­schlos­se­nen Tunnel eröff­nete Erich Carow dann 1927 »Carows Lach­bühne«, die bis zur Zerstö­rung im Zwei­ten Welt­krieg exis­tierte.

Am Ende des 19. Jahr­hun­derts siedel­ten sich rund um den Rosen­tha­ler Platz weitere Thea­ter und vor allem Varie­tés an, die damals schwer in Mode waren. Für viele waren diese ein Ersatz für das »rich­tige« Thea­ter, obwohl sie eben durch­aus schon sehr große Bühnen hatten. Hier eine Beschrei­bung aus der Zeit der Jahr­hun­dert­wende: »Eine Nege­rin, eine große macht­volle Erschei­nung in blauem, mit Flit­tera­ra­bes­ken reich verzier­tem Gewand; roten Mohn hat sie sich ins Haar gebun­den. Etwas König­li­ches liegt in ihren Zügen und der Eindruck verstärkt sich noch, wenn sie zu singen anhebt. Sie hat eine Prima­don­nen­stimme, müßte, wenn dieses unge­heure Mate­rial eini­ger­ma­ßen ausge­bil­det, künst­le­ri­schen Zwecke dienst­bar gemacht würde, gar keine üble Wagner-Sänge­rin abge­ben. Aber was würde zu solchem Debüt unser Publi­kum wohl sagen?
Das ganze Elend der schwar­zen Rasse steht einem mit einem Schlage vor Augen. Dieser furcht­bare Fluch des Gebun­den­seins, des Getre­ten­seins. Was die Nege­rin singt, ist schwer zu bestim­men. In London gibt es ein schö­nes Thea­ter, in dem eine Truppe Schwar­zer allabend­lich eine lustige Tanz­posse zur Auffüh­rung bringt. Wir sind noch nicht so weit, werden wohl auch nicht bald dahin kommen. Nur das Varieté steht der schwar­zen Künst­le­rin bei uns offen. Als Kurio­si­tät darf sie passie­ren — aber auch nur als Kurio­si­tät.«
Neben dem Walhalla gab es um den Rosen­tha­ler Platz herum noch zwei wich­tige Varie­tés, das »Troca­dero« an der Ecke Lini­en­straße und später das »Varieté du Nord« in der Elsäs­ser Straße.

Doch schon früh entstand für die Bühnen eine neue Konkur­renz: das Kino. Die ersten öffent­li­chen, kommer­zi­el­len Film­vor­füh­run­gen gab es in Berlin 1895, zuerst in Varie­tés, später auch in spezi­ell dafür einge­rich­te­ten Läden. Im Novem­ber 1899 wurde das erste soge­nannte »Abnor­mi­tä­ten- und Biograph-Thea­ter« in Berlin eröff­net. 1912 exis­tier­ten im Gebiet von Groß-Berlin bereits etwa 260 Kinos, zum Teil wurden ehema­lige Varie­tés komplett umge­rüs­tet, meis­tens betraf das jedoch die klei­nen Bühnen. Die anfäng­li­chen Beden­ken der großen Schau­spiel­häu­ser, dass die Kinos ihnen das Publi­kum wegneh­men könn­ten, erwie­sen sich als unzu­tref­fend. Das Publi­kum der Thea­ter und das der Kinos war doch sehr unter­schied­lich, die »Herr­schaf­ten« verirr­ten sich äußerst selten in die Laden­ki­nos und umge­bau­ten Lokale, in denen die Filme gezeigt wurden. Dort waren es die Kinder, Arbei­ter und Haus­an­ge­stell­ten, die sich tags­über und nachts im »Kintopp« einfan­den. Man durfte dort rauchen, konnte Getränke bestel­len und ging nun nicht mehr in die klei­nen Varie­té­büh­nen, die der Reihe nach pleite mach­ten und wiederum teil­weise in Kinos umge­baut wurden.

»Das ehema­lige Berli­ner Varieté-Café in der Elsäs­ser Straße 47/48 ist außen und innen hübsch reno­viert und in ein Biophon-Thea­ter umge­wan­delt worden. Die Eröff­nungs­vor­stel­lung fand allsei­ti­gen, lebhaf­ten Beifall.« [Der Artist, 27.5.1906]
Dieses Varieté gehörte schon vorher nicht zu der teuren Sorte, denn die Elsäs­ser Straße war berühmt für ihre Lokale mit Frau­en­be­die­nung, Animier­zwang und eroti­schem Vortrags­stil. Mit der für diese Sorte Lokal rela­tiv teuren Anschaf­fung des Projek­tors riskier­ten die Besit­zer sicher eini­ges. Doch wenn sie erst­mal ein solches Gerät hatten, konn­ten sie es prak­tisch rund um die Uhr laufen lassen, während in einem Varieté nur bis zu drei Auftrit­ten am Tag möglich waren.

Die Elsäs­ser Straße (die heutige Torstraße zwischen Rosen­tha­ler Platz und Orani­en­bur­ger Tor) war die eigent­li­che Varie­té­straße Berlins. Doch die meis­ten Unter­neh­men gingen schon in den ersten Jahren nach der Jahr­hun­dert­wende ein, wie der folgende Bericht beschreibt (aus: »Varieté und Tingel­tan­gel in Berlin«, Berlin 1905): »Das Quar­tier Latin Berlins hat durch die Aufhe­bung der vielen Varie­tés ein Beträcht­li­ches an Origi­na­li­tät verlo­ren. Die Elsäs­ser Straße ist stil­ler, alltäg­li­cher gewor­den, als sie es einst war. Das bunte Leben und Trei­ben, für das in erster Linie Studen­ten­schaft und Dirnen­welt sorgte, hat sich nach ande­ren Gegen­den hin verzo­gen, von dem lebhaf­ten Drosch­ken­ver­kehr, den die Straße früher (auf)wies, ist nichts mehr zu sehen. Einsam wandelt, wenn abends die Lich­ter bren­nen, eine Hand­voll Freu­den­mäd­chen ihren Weg, auf ein paar junge Leute stößt man, die zur Tanz­stunde auszie­hen, einen Arbei­ter, der sein Heim aufsucht, einen Schutz­mann, der der Ablö­sung sehn­lich entge­gen­harrt.
Ja, das Einst! Ein Schutz­mann erzählte mir: ‘Ach, wie das früher hier zuging! Da wurden so bis zu neun oder zehn Tonnen Bier jeden Tag in die Lokale rein­ge­schafft, die Pferde, die konn­ten manch­mal unter der Last zusam­men­bre­chen — ein enor­mer Konsum! Heute sind sie froh, wenn sie es auf eine Tonne brin­gen. Es kommt einfach niemand mehr — wie ausge­stor­ben!’ Und als ich ihn fragte, wie das alles eigent­lich gekom­men ist, zuckte er nur mit den Achseln. ‘Ja, wie das so kommt. Die Lokale sanken immer mehr. Sie wurden immer gemei­ner und dümmer und da sind eben ein paar ausge­ho­ben worden, andere gingen ein, weil niemand mehr hinkam, und was jetzt noch da ist, das ist eigent­lich ein recht trau­ri­ger Rest. Sehen kann man da nichts Beson­de­res mehr.’
Was ich an alten Erin­ne­run­gen an das Einst aufge­spei­chert habe, ist nicht gerade holdes­ter Natur. Die Lokale, die ich kannte, rangier­ten durch­weg unter der Rubrik der Kell­ne­rin­nen­va­rie­tés, alias Räuber­höh­len, gehör­ten wohl zu den Schlimms­ten dieses Genres. Als Spezia­li­tät ließe sich erwäh­nen, daß hier die Kuppe­lei wahre Orgien feierte. Mit Schau­dern entsinne ich mich, wie unter der Hand ein junges Mädchen verscha­chert wurde, das offen­bar gerade erst in Berlin einge­trof­fen war. Bei aller Heim­lich­keit ging die Sache doch so offen­kun­dig vor sich, daß ich sie Zug für Zug genau verfol­gen konnte.

Wer heute auf Varieté-Aben­teuer nach der Elsäs­ser Straße auszieht, wird ziem­lich arm an Ausbeute zurück­keh­ren. Höchs­tens daß er von durs­ti­gen Kell­ne­rin­nen umgirrt wurde, dass er ein paar leid­lich freche und pikante Couplets zu hören bekam, ein paar reich­lich dekol­le­tierte Fräu­leins auf der Bühne antan­zen sah. Aber das ist auch alles, und das kann man natür­lich auch ander­wärts erle­ben. Auch der große Damen­ring­kampf, den jüngst eines dieser Lokale ankün­digte, ist an und für sich nichts Neues. Neu wäre viel­leicht nur der Trick, das Plakat hinaus­zu­hän­gen und dann dem fragen­den Besu­cher zu eröff­nen, daß gerad an diesem Tag der Ring­kampf nicht statt­fin­den könne.

Von den Loka­len, die zwar nicht als Tingel­tan­gel bezeich­net werden können, aber doch manchen Zug vom Tingel­tan­gel über­nom­men haben, wäre der Kuhstall beson­ders zu erwäh­nen. Hier konzer­tiert allabend­lich eine phan­tas­tisch aufge­putzte, sich zum Teil aus recht jugend­li­chen Musi­kan­tin­nen rekru­tie­rende Damen­ka­pelle. ‘Die Kühe, das sind wir’, scherzt die laszive Kell­ne­rin; ‘und hier, gucken Sie mal da hin’ — und sie zieht den Besu­cher in eine verschwie­gene Nische, in der ein groß­mäch­ti­ges Bild eines mit gewal­ti­gen Hörnern ausge­stat­te­ten Ochsen hängt. Das ist noch so ein Stück der alten Frech­heit, der alten Keck­heit und Obszö­ni­tät, ein Stück alte Elsäs­ser Straße.
Und nun hätte ich fast etwas verges­sen. Das Skala-Thea­ter. Nichts kann deut­li­cher demons­trie­ren, dass die Elsäs­ser Straße den Weg sitt­li­cher Besse­rung einge­schla­gen hat, wie die Eröff­nung der ‘Skala’. Wohl­an­stän­di­ges Publi­kum, bestes Fami­li­en­pu­bli­kum, ja sogar, man denke, Kell­ner­be­die­nung. Und das in der Elsäs­ser Straße!«

Rund um den Rosen­tha­ler Platz und vor allem in der Brun­nen­straße und der Inva­li­den­straße entstand eine Viel­zahl von neuen Kinos. Wenn man alle bis in die Badstraße hinein zählt, kommt man auf etwa 30 Stück. Darun­ter in Nr. 14 und 16 (die »Brun­nen­licht­spiele«), in der Brun­nen­straße 132 das »Atlan­tik«, das »Casino« in Nr. 154, das »Amor« in Nr. 156, das »Kino Harmo­nie« an der Ecke zur Inva­li­den­straße, gegen­über die Licht­spiel­thea­ter Bensch und — ein Stück­chen weiter — Baum­gar­ten; das Licht­spiel­haus Sedlak in den Brun­nen­hö­fen, im Wein­bergs­weg 16/17 das Licht­spiel­thea­ter Kers­tin. Und nicht zu verges­sen die vielen Kinos oben am Gesund­brun­nen: Das größte, die »Licht­burg« bzw. »Corso« direkt am Bahn­hof, dahin­ter das »Alham­bra«, der »Film­pa­last Ball­schmie­der«, der »Kris­tall-Palast« oder die »Licht­spiele Gesund­brun­nen«.
Zwischen­durch haben sich noch einige Thea­ter und Amüsier­säle gehal­ten, wie »Rita’s Tanz­pa­last« in der Brun­nen­straße 34 oder das Humboldt-Thea­ter am Bahn­hof Gesund­brun­nen.

In der Elsäs­ser und der Loth­rin­ger Straße entstan­den mehrere soge­nannte Schmalz­stul­len-Kinos. Dort liefen die Filme rund um die Uhr, man bezahlte für eine bestimmte Zeit, die man dann dort sitzen konnte. Wollte man länger blei­ben, dann brachte man sich seine Stul­len mit, daher der Name. Und notfalls konnte man sie sich auch vorne kaufen. Im Norden, also um den Gesund­brun­nen herum, kamen in den zwan­zi­ger Jahren die Tanz­säle in Mode. Otto Nagel, ein sozial enga­gier­ter Künst­ler aus dem Wedding, beschrieb 1927 in der »Arbei­ter Illus­trier­ten Zeitung« einen soge­nann­ten »Witwen­ball«:

»In der Schank­stube ist schwe­rer Betrieb. Prole­ten — fast alle in den mitt­le­ren Jahren — trin­ken Bier, disku­tie­ren. Im Hinter­grund eine Tür, die zum ‚Saal’ führt. Daran sitzt die dicke Knei­pen­wir­tin, einen Engel­reif mit Gold­bü­schel auf dem Kopf, und kassiert das Eintritts­geld. Wer eine Mark berappt, hat neben Witwen­ball freie Garde­robe und Anrecht auf eine Papier­mütze. Ein Plakat über dem Kassen­tisch verbie­tet den ‘Herren ohne Kragen’ den Zutritt. Hat man sich durch Aufset­zen der bunten Mütze die notwen­dige Deko­ra­tion gege­ben, kann man das Aller­hei­ligste betre­ten.

Eine dick­wan­dige Dame, im himmel­blauen Kleid­chen und Höschen, in der Hand ein rosa beschleif­tes Stöck­chen, empfängt die Ankom­men­den: ‚Ich bin Frie­del, die Tanz­lei­te­rin. Hoffe, dass Ihr Euch anstän­dig amüsiert’. Der Saal ist klein und kalt. Gift­grün hängen Papier­gir­lan­den von den Decken­bal­ken herun­ter. Ein Spie­gel mit prot­zi­ger Gold­leiste und Muschel­auf­satz, ein Plakat: ‚Schie­be­tänze sind verbo­ten. Der Wirt’ sind der Wand­schmuck. An etwa zehn unge­deck­ten Tischen, die an der Wand entlang stehen, sitzen die Gäste. Vorwie­gend Frauen, zwischen drei­ßig und fünf­zig Jahren. Ausschließ­lich Prole­ta­rie­rin­nen, mit armse­li­gen Klei­dern aus billi­gem Wasch­stoff. Männer sind wenige da. Wie eine Lüge wirkt der Kragen, den sie umge­legt haben — und der so gar nicht zu ihrer abge­tra­ge­nen Garde­robe, zu ihren müden Gesich­tern passt. Ein weiß­be­jack­ter Kell­ner steht herum. Nur wenige Gäste können sich bei dem teuren Eintritts­geld noch ein Gläs­chen Bier leis­ten. Wenn schon, dann trin­ken sie vorn an der Theke, von wegen der zehn Prozent Bedie­nungs­geld.

Fast alle diese Männer, und vor allem die Frauen, kommen mit der Hoff­nung hier­her, eine ‘Bekannt­schaft’ zu machen. Die Frauen sind meist Witwen, die sich hier den neuen Mann suchen wollen. Die Musik, Klavier und Geige, spielt senti­men­tal, über­mä­ßig lang­ge­zo­gen, einen Walzer. Die Frauen summen die Melo­die mit, schauen mit leeren Augen zum Eingang.

‘Bitte den nächs­ten Tanz — die Herren haben die Wahl’. Frie­del, die Tanz­lei­te­rin, steht mitten in dem Saal, schwingt ihr Stöck­chen, was an die Bewe­gun­gen einer Zirkus­rei­te­rin erin­nert. Schlep­pend erhe­ben sich die Männer, fordern mit komisch verzerr­ter Verbeu­gung die Frauen zum Tanz auf. Mecha­nisch, unbe­hol­fen, drehen sich die Paare. Frauen setzen sich zu Männern, Bekannt­schaf­ten werden erneu­ert, unter Frie­dels Leitung wird ein Lied mit zwei­deu­ti­gem Text gesun­gen. Wieder sagt Frie­del einen neuen Tanz an: ‘Die Damen haben die Wahl’. So geht es bis in die Nacht hinein. Eine rich­tige Lustig­keit kommt nicht zustande, selten hört man jeman­den lachen.

Der selbe Raum zur Nach­mit­tags­zeit. Ein gelbes Halb­dun­kel gibt ihm etwas Trost­lo­ses. Prole­ten, in abge­tra­ge­nen, zerlump­ten Klei­dern und mit toten, farb­lo­sen Gesich­tern, sitzen an den zusam­men­ge­scho­be­nen Tischen, löffeln Wasser­suppe aus Blech­näp­fen. Armen­spei­sung der Stadt Berlin. Von den Decken­bal­ken hängen noch immer die grünen Papier­gir­lan­den herun­ter und an der Wand hängt weiter das Plakat: ‘Schie­be­tänze sind verbo­ten. Der Wirt’.«

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