Wie überall in der Stadt atmete die Bevölkerung auf, dass der Krieg nun endlich beendet war. Vor allem diejenigen, die rund um den Humboldthain wohnten, waren die ständigen Bombardierungen leid. In den Wochen nach dem Kriegsende entwickelten sich der Bahnhof Gesundbrunnen und das dahinter gelegene Nordkreuz zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt. Nachdem die Gleise wieder instand gesetzt worden waren, nahm die Rote Armee den Bahnhof in Beschlag. Auf den Zufahrtswegen wurden Straßenschilder in russischer Sprache aufgestellt, damit sich die Russen in der Fremde nicht verlaufen.
Der Zeichner Fritz Koch, von dem die hier vorgestellten Bleistiftzeichnungen stammen, erinnert sich noch an die letzten Minuten des Krieges, die er an »seinem Gesundbrunnen« »Plötzlich ging die Kellertür auf, wir lagen alle auf der Erde, und da stand ein Russe drin in der Tür und ballerte mit seinem Schnellfeuergewehr in den Keller. Da dachte ich in dem Moment: Jetzt zum Schluss noch erschossen werden, na das fehlt ja nun noch. Da habe ich auf russisch geschrien: Hier will niemand Krieg, hier will niemand Krieg! Und da hat er aufgehört zu schießen.
Er hat sich gefreut, dass er russisch gehört hat, also war das auch eine Waffe. Dann mussten wir nach oben gehen, da habe ich dem russischen Offizier meinen Stahlhelm vor die Füße gelegt und habe gesagt: Gott sei Dank, dass dieser Mist zu Ende ist. Die Deutschen werden jedenfalls nie wieder einen Krieg machen. Das werden sie endlich mal gelernt haben! Er hat nett geantwortet auf russisch. Ich habe aber nicht alles verstanden, er sagte: Hat Zeit, hat Zeit. Und dann wurden wir abgeführt.«
Nach dem Krieg begann auch das große Aufräumen, Ruinen bestimmten das Bild. Dadurch, dass im Humboldthain ein Flakbunker stand, war dieser Stadtteil natürlich besonders Ziel der Luftangriffe. Genau zwischen der Brunnenstraße und dem Hochbunker stand im Humboldthain die Himmelfahrtkirche. Bei einem Luftangriff wurden das Dach und einige der Mauern zerstört. Trotzdem war die Kirche eines der Gebäude, die man nach Ansicht vieler wieder hätte aufbauen können. Warum sie dennoch abgerissen wurde, ist heute nicht mehr bekannt. In den Unterlagen der Gemeinde findet sich heute kein Hinweis auf die Entscheidung für den Abriss. Statt dessen entstand an der Ecke Brunnenstraße und Gustav-Meyer-Allee der Neubau.
In den Nachkriegsjahren mussten die Berliner noch einige Übel über sich ergehen lassen, wie z.B. 1947 den kältesten Winter des Jahrhunderts. Überall in der Stadt wurden die Bäume abgeholzt, um wenigstens etwas zum Heizen zu haben. Straßenbäume, Parks und selbst die Wälder mussten dran glauben. Der Humboldthain, mit seinen Jahrzehnte alten Bäumen, war danach nur noch eine Sandwüste, aus der die beiden Bunker und die Ruine der Himmelfahrtkirche herausragten, wie die verbliebenen drei Zähne aus einem ansonsten zahnlosen Mund.
Währenddessen wurde die Spaltung der Stadt vorbereitet, die mit der Blockade Westberlins und der Einführung neuer Währungen in West und Ost ihre ersten Höhepunkte erreichte. Am 24. Juni 1948 sprach der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter auf dem Hertha-Sportplatz am Gesundbrunnen vor 80.000 Weddingern: Wie Finnland im Unterschied zu Prag durch den Willen zur Verteidigung seine Selbststständigkeit behauptet habe, so werde auch Berlin frei bleiben, wenn es in diesen Krisentagen seinen Mann stehe.
Vor allem Kreuzberg und der Wedding veränderten in diesen Jahren ihren Charakter. Waren es zuvor reine proletarische Wohnviertel mit Kleingewerbe und Betrieben gewesen, wurden diese grenznahen Bezirke nun, weil sie leicht von überall her mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen waren (der Gesundbrunnen sogar per Bahn aus den Vororten von Berlin), zu Einkaufszentren für die Bewohner aus dem anderen Währungsgebiet.
Ab 1949 entwickelten sich die beiden Enden der Brunnenstraße zu Zentren – und diesmal waren es nicht nur unterschiedliche Stadtteile, die sich hier veränderten, diesmal waren es ganze Gesellschaftssysteme. Der Gesundbrunnen im Norden (im »Westen«) und der Rosenthaler Platz im »Osten« (also im Süden der Straße) begannen sich mit Leben zu füllen.
Durch die Grenzziehung und die Einführung unterschiedlicher Währungen begann bereits eine Entwicklung, die später zur völligen Spaltung der Stadt führen würde. Manche über 80 oder 90 Jahre hinweg gewachsene Wohnviertel gehörten plötzlich unterschiedlichen Systemen an. Im Falle der Bernauer Straße verlief die Grenze entlang der Straße, so dass die gegenüber liegenden Häuserfronten bald zu verschiedenen Staaten gehören sollten. Woanders, wie in der Bornholmer oder der Brunnenstraße, wurde die Grenze quer drüber gelegt. Betriebe, die in dieser Gegend niedergelassen waren, befanden sich nun im Grenzgebiet oder zumindest in Grenznähe. Dies hatte spätestens mit der Einführung unterschiedlicher Währungen konkrete Konsequenzen. Teile des Personals, der Kundschaft und der Waren mussten täglich die Grenze passieren, was viele Probleme mit sich brachte, z.B. wenn jemand aus dem Osten im Westen arbeitete (oder umgekehrt) und entsprechende Bezahlung erhielt. Selbst die Durchfahrt von Handelswaren von einem West-Bezirk in einen anderen durch Ost-Berlin machte Schwierigkeiten.
Paul Schreiber, der einen Elektrofachhandel in der Bornholmer Straße im Wedding betrieb, wollte mit einem Pritschenwagen Waren von Kreuzberg nach Wedding transportieren. Der kürzeste Weg führte durch den sowjetischen Sektor, doch das Durchfahren mit Waren wurde als »unerlaubte Einfuhr« gewertet. Der Grenzbeamte an der Sektorengrenze zwischen Mitte und Wedding wollte ihn deshalb nicht passieren lassen, statt dessen verlangte er, dass Schreiber mit zur Polizei kommen solle. Schreiber, nicht doof, schlug vor, der Polizist sollte hinten aufspringen, dann würde er zur Kontrolle fahren. Der tat das tatsächlich, aber Schreiber gab Gas und raste geradeaus in den Wedding, also in den französischen Sektor. Panisch sprang der Grenzer vom Wagen und rannte zurück.
Während das Angebot von Konsumwaren im Westteil der Stadt langsam zunahm, machten sich die Reparationszahlungen bemerkbar, die die Russen von der ostdeutschen Bevölkerung verlangten. Vor allem im grenznahen Gebiet, besonders rund um den Gesundbrunnen, entwickelte sich eine wahre Einkaufsstraße für Bürger aus dem Ostteil der Stadt – und nicht nur von dort. Der Händler Winfried Gellert: »Meine Kunden auf dem Bad-Markt kamen aus der damaligen Zone, aus Leipzig, Stralsund und Erfurt, weiß ich, wo sie überall herkamen. Die ganze DDR ist praktisch damals unterwegs gewesen und hat hier eingekauft. Die Kunden konnten in Ost oder West zahlen. Und die Angebote waren immer gezielt auf die Ostkundschaft ausgerichtet, was die gefragt haben, das wurde eben von uns auch beschafft. Es war aber immer eine wacklige Existenz. Da waren doch zu viele Schwankungen immer drin, um zu sagen, das ist eine Existenz.«
Gellert hatte damals einen Verkaufsstand in der Badstraße, die bei vielen Anwohnern schon »Sachsendamm« genannt wurde, in Anlehnung an die Herkunft von Teilen der Kundschaft.
Andere versuchten, mit illegalem Geldwechsel ihr Brot zu verdienen, was damals ein florierendes Geschäft war, vor allem ebenfalls rund um den Gesundbrunnen: »Wir hatten ja richtige Stammkunden. Schlachtermeister aus der Zone, Mensch, die kamen mit 10.000, 15.000 Ostmark. Haben wir getauscht und auf die Bank gebracht. Und wenn die Wechselstube fünf gezahlt hat, haben wir sechs gezahlt. Und wir waren ja seriös, wir waren keine Eierdiebe. Doch die Banken waren wie die Aasgeier hinter uns her, die haben doch die Polizei losgeschickt. An allen Knotenpunkten: Bornholmer Straße, Gesundbrunnen, Voltastraße, Wollankstraße.«
Am Gesundbrunnen hatten die Kinos, die den Krieg überlebten, wieder geöffnet. Das »Corso«, direkt am Bahnhof, war eines der Kinos, die wieder in Betrieb genommen wurden, und alle Vorstellungen waren ausverkauft. Mittags um elf gab es für die Arbeitslosen eine extra Vorstellung zum halben Preis, sie zahlten nur 50 Pfennig. Danach ging es bis nachts um elf Uhr weiter, manche Vorstellungen sogar mit Bühnenshow. Einer der bekanntesten Künstler war damals Harald Juhnke, der stammt ja hier aus der Gegend.
Insgesamt gab es in der Brunnen- und Badstraße sowie den umliegenden Straßen noch 24 Kinos. Einige dieser Grenzkinos boten auch Sondervorstellungen für Ostberliner an, die zwar in West zahlen mussten, aber dafür nur 25 Pfennige. Dieses Angebot hatte aber nicht etwa humanistische Gründe, um den Menschen aus der »Zone« auch mal einen Kinobesuch zu ermöglichen, sondern rein politische: Die Kinos mussten ausgewählte Filme zeigen, die sich als Waffe im beginnenden Kalten Krieg eigneten. Dafür erhielten sie extreme Steuervergünstigungen, die offenbar so weit gingen, dass selbst Einrichtungen mitten in Westberlin den Status eines »Grenzkinos« beantragten.
Verantwortlich für Einstufung war der »US High Commissioner for Germany« (genannt »HICOG«). 1951 wurden lediglich zwölf Kinos als »Grenzkinos« eingestuft, im Wedding waren es neben dem »Corso« noch die »Vineta-« sowie die »Polo-Lichtspiele«. Später kamen mehr Kinos dazu.
Von 1950 bis 1960 gab es in der Brunnenstraße auch eine provisorische Markthalle, in der aber immerhin 220 Stände ihre Waren anbieten konnten. Direkt an der Ecke Gustav-Meyer-Allee hatte die AEG auf ihrem Gelände einen ehemaligen Lagerplatz zur Verfügung gestellt, auf dem die »Brunnen-Markthalle« entstand. Nach Ablauf des Zehn-Jahres-Vertrags wurde allen Händlern gekündigt, da die AEG den Platz nun wieder selbst benötigte. Es zeigte sich schnell, dass dies für die meisten der dort ansässigen Händler das wirtschaftliche Aus bedeutete. Zwar wurde der Vertrag noch einmal um drei Monate verlängert, doch am 31. März 1960 war endgültig Schluss. Die meisten Händler haben es dann wirklich nicht geschafft, einen anderen Platz zu finden, und auch die Bemühungen des Bezirksamtes, einen Ersatzplatz für die Halle zu organisieren, sind gescheitert.
Ebenfalls gescheitert ist das Kaufhaus Held. Das ursprüngliche Haus an der Ecke Brunnen- und Invalidenstraße war ja verloren. Statt dessen baute man nun einen Kilometer weiter nördlich, wieder in der Brunnenstraße. Direkt an der Ecke Stralsunder Straße wurde am 23. März 1953 das neu gebaute Haus eröffnet. In den vier Etagen wurden den Kunden vor allem Textilien angeboten. Unter dem Slogan »Spare Geld – Kaufe bei Held!« standen 150 Angestellte bereit. Einen besonderen Clou hielt das Haus für seine Besucher bereit: Sie konnten mit dem Fahrstuhl in die dritte Etage fahren, wo sie auf einer Dachterrasse ihren Kaffee trinken konnten.
Schon nach wenigen Jahren wurde das Textilkaufhaus von Hertie übernommen, es wurde zum Warenhaus umgebaut. Mit der Schließung des AEG-Werkes gingen dem Konzern dann aber zu viele Kunden verloren, so dass es am 14. März 1983 ebenfalls geschlossen wurde, eine Woche vor dem 30. Geburtstag.
Die noch zahlreichen Kontakte von Ost-Berlinern in den anderen Teil der Stadt, der Grenzhandel und auch die speziellen Veranstaltungen waren dem Magistrat natürlich ein Dorn im Auge. Nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 schloss die Regierung den Ostsektor für einige Tage fast vollständig, so dass die Käuferscharen plötzlich ausblieben. Vor allem rund um den nördlichen Teil der Brunnenstraße erhielt man in diesen Tagen einen Eindruck davon, wie es wäre, wenn die Grenze gar nicht mehr geöffnet würde. Immerhin war dieses Wohngebiet an drei Seiten von der Grenze eingeschnürt. Doch schon Ende Juni wurden die Sperren aufgehoben und auch die Kontrollen gingen erstmal auf das bis dahin normale Maß zurück. Das änderte sich dann aber schlagartig im Spätsommer 1961.
Regine Hildebrandt (ehemals Ministerin in Brandenburg) erinnert sich: »Die Grenze war ja in der Bernauer Straße die Häuserfront. Um das mal deutlich zu machen: Wenn wir aus’m Fenster gekiekt haben, war’n wir mit dem Kopp im Westen, versteh’n Sie? Wir hatten in der Bernauer Straße die schöne Situation, wir wohnten auf der Ostseite und wenn wir das Haus verlassen haben, war’n wir im Westen. Und wenn wir, was ja üblich war an Regelung für die Ostberliner, den Tagesspiegel kaufen wollten, für Ostgeld, dann konnten wir das drüben auf der anderen Straßenseite im Laden tun. Wir konnten ooch zur Brunnenstraße zu Pico gehen und konnten uns da Schuhe kaufen und mit dem Pico-Luftballon, den man dann da kriegte, auch nach Hause gehen. Jeder andere Ostdeutsche oder Ostberliner, der da rübergegangen ist, der durfte dit ja überhaupt nicht, sondern der musste, wenn er sich die Schuhe da gekauft hatte, die erstmal einstauben, dass sie alt aussahen und die anderen wegschmeißen und dann versuchen, in den Osten zurückzukommen. Und Pico-Luftballons, das ging schon gar nicht.
Schwierigkeiten hatten wir also vor allem, wenn wir rüber in’n Osten wollten, denn immer wenn wir nach Ostberlin rein wollten, mussten wir die Grenze passieren. Das war also eine völlig absurde Situation, wenn wir beispielsweise eingekauft haben, zum Beispiel für die Festtage ’ne Ente, dann mussten wir die Grenze passieren. Und da war’s dann lange so, nachdem primär gesagt wurde, der kluge Westberliner kauft in der HO, wurde gesagt, Westler dürfen nicht für Ostgeld im Osten kaufen. Und dann mussten wir immer mit ’nem Ausweis einkaufen und wenn wir dann vom Einkaufen im Osten kamen, haben die uns an der Grenze kontrolliert. Und dann hatten wir den Ausweis, da stand dann drin Bernauer 2, aha, das ist ja gleich hier um die Ecke rum. Wir hätten schmuggeln können wie die Wilden, verstehn’se. Also dit war die Grenzsituation.
Die Abhauerei in der Bernauer Straße war ja relativ einfach, da ja da keiner hinkonnte von den Vopos, war es so: Über uns, Meiers, erster Stock, Bernauer Straße 2, haben sich regelrecht einen Umzugswagen bestellt und dann ihre ganzen Möbel rausgetragen. Und das war dann die Republikflucht. Aber das Schärfste war, in der Bernauer zwischen der Acker und der Strelitzer, da war noch ’n Kuhstall, sowas hatten wir ja früher ooch noch hier, mit Kühen drin und anderm Viehzeug. Die sind auch abgehauen, mit Kühen und allem. Da hatten die Vopos zwar ’ne Tür hinten reingehauen, dass sie kontrollieren konnten, aber die ham’se einfach zugemauert. Und als die Vopos das gemerkt hatten, mussten die erstmal die Mauer wieder aufbrechen und so, aber da war’n die dann schon weg. Das war wirklich ziemlich originell damals in der Gegend.«
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