In den Jahren nach dem Mauerbau machten sich viele die besondere Situation an der Grenze zunutze, um von Ost- nach Westberlin zu flüchten, oder aber Flüchtlinge nach Westberlin rüber zu holen. Die besondere Situation war, dass die Grenze quer durch eine Millionenstadt ging und die beiden Teile über viele Kilometer durch Wohnviertel und anderes bebautes Gebiet miteinander verbunden waren. An unzähligen Stellen war West- mit Ostberlin unterhalb der Erde verbunden, die Tunnel der S-Bahn und U-Bahn waren dabei noch das Wenigste. Auch Versorgungsschächte, Abwasserkanäle, im Krieg unterkellerte Straßenzüge boten am Anfang immer wieder Chancen zur Flucht.
Aber als diese Möglichkeiten mehr und mehr verbaut wurden, begannen viele Menschen zu buddeln: An etwa 20 Stellen wurden zwischen den beiden Stadthälften Tunnel gegraben, durch die die Menschen fliehen wollten. Viele hatten Freunde oder Verwandte auf der anderen Seite und wollten die Trennung nicht hinnehmen. Dabei gab es sehr unterschiedliche Vorgehensweisen. Manche gruben »ihren« Tunnel nur am Wochenende, andere ständig, unterstützt von Freunden. Einmal war ein Tunnel für viele Nachbarn vorgesehen, doch als dann die alten Leute kamen, passten sie nicht hinein, denn sie konnten sich nicht bücken. So wurde daneben ein zweiter Tunnel gegraben, der 1,80 m hoch war.
An anderer Stelle gruben zwei Gruppen unabhängig voneinander Tunnel in Richtung Westen. Doch als der eine Tunnel einstürzte, entdeckte die Grenzpolizei auch den anderen. Manche Tunnel konnten nie zu Ende gebaut werden, weil sie vorher entdeckt oder verraten wurden. Wenn die Vopo bzw. vor allem die Staatssicherheit dann einen solchen Tunnel entdeckte, fackelte sie meistens nicht lang. So starb eine unbekannte Zahl von Flüchtlingen oder Fluchthelfern, weil ihre Häscher Handgranaten in die Tunnel warfen. Die Druckwelle zerriss denjenigen, die sich noch im Tunnel befanden, die Lungen. Generell wurde auf »Republikflüchtlinge« sofort geschossen. Und natürlich auch auf diejenigen, die sie unterstützten.

Nach einigen Jahren wurden dann von der Grenzpolizei vor allem an den Stellen der Grenze, die sich unmittelbar in bebautem Gebiet befanden, Erschütterungsmelder installiert, damit die Wachen mitbekamen, wenn sich unter der Erde was tat.
In der Bernauer Straße kam es zu der wohl spektakulärsten Tunnelflucht. Im Block zwischen der Strelitzer und der Ackerstraße, dort wo auch die Versöhnungskirche stand, bauten etwa 30 Westberliner Studenten und ihre Freunde einen insgesamt 145 Meter langen Tunnel. Sie wollten ihre Freundinnen aus Ostberlin herausholen und auch noch andere Menschen, zu denen sie Kontakt hatten.
Begonnen hatte der Bau Anfang 1964. Unter der Leitung des damaligen Schauspielers Wolfgang Fuchs arbeitete unter anderem auch Reinhard Furrer mit, der später als Astronaut berühmt wurde. Herr Furrer starb 1996 bei einem Flugzeugabsturz.

Durch den Mauerbau waren viele Geschäfte in der Bernauer Straße pleite gegangen, so auch eine Bäckerei in Nummer 97. Als Wolfgang Fuchs die Räume anmietete, sagte er, dass dort ein Fotoatelier entstehen sollte – der Keller wäre für die Dunkelkammer ideal. Tatsächlich begann man dann aber von diesem Keller aus zu graben. Zuerst nach unten, da man möglichst tief rüber wollte, um einen Einsturz zu vermeiden. Doch in 17 Meter Tiefe brach plötzlich das Grundwasser durch. So gruben die Männer in 12 Metern Tiefe den Tunnel in Richtung Ostberlin. Nach fünf Monaten Arbeit drohte alles umsonst gewesen zu sein. Die Tunnelbauer stießen unter einem Haus auf ein Abflußrohr. Der Schlag mit dem schweren Werkzeug war so heftig, daß die Hausbewohner es gehört haben mussten. Doch sie hatten Glück: In der Nacht des 3. Oktober 1964 stießen die Studenten dann durch den Boden eines Toilettenhäuschens nach oben – eigentlich hatte man unter dem Haus rauskommen wollen, sich aber offenbar verrechnet. Noch in dieser Nacht schafften es 28 Ostberliner, sich unbemerkt auf den Hof zu schleichen und durch den engen Spalt im Klohäuschen in den Tunnel hinunter zu kriechen. Da die gesamte ausgehobene Erde im Keller der Bäckerei gelagert werden musste, durfte der Tunnel nicht höher als 90 cm sein. Die Grenzpolizei beobachtete auch die Grenzhäuser im Westen und es hätte auffallen können, wenn plötzlich so viel Sand herausgebracht würde. So brauchten die Flüchtlinge dann zwischen zehn und 30 Minuten, bis sie das Westberliner Gebiet erreicht hatten.

Als erstes kamen die Freunde und Freundinnen der Fluchthelfer rüber. Dann auch noch welche, denen auf unterschiedliche Weise davon berichtet worden war. Auf dem Hof in Ostberlin waren insgesamt vier Fluchthelfer. Zwei direkt am Eingang des Tunnels, einer am Rand des Hofs zum Sichern und einer gleich hinter dem Eingang zum Hof. Dieser hatte die Aufgabe, die Ankommenden in Empfang zu nehmen, sie zu beruhigen und zur richtigen Stelle zu führen. Alles ging glatt und auch in der zweiten Nacht kamen noch mal 29 Menschen.

Doch gegen Mitternacht dann die dramatische Wende: Im Dachgeschoss des Hauses, in dem sich die Bäckerei befand, waren ebenfalls Fluchthelfer stationiert, um von dort aus die Bewegungen auf der anderen Seite zu beobachten und notfalls die Freunde zu warnen. Diejenigen auf dem Dach hatten nur eine provisorische Telefonverbindung zum Keller.
Plötzlich kamen zwei Zivilisten auf den Hof, sie liefen dem ersten Fluchthelfer fast in die Arme. Die beiden behaupteten, zwar das Kennwort nicht zu wissen, spielten aber ihre Rolle so gut, daß der Mann ihnen glaubte, dass sie Flüchtlinge seien. Dann sagten sie aber, dass sie noch einen Kameraden draußen hätten, der so aufgeregt sei und den wollten sie noch holen. Vom Dachfenster aus beobachteten die Studenten, wie plötzlich vor dem Haus Mannschaftswagen auffuhren, und sie gaben Alarm. Doch durch die schlechte Ausrüstung kam dieser Alarm nicht mehr rechtzeitig auf der anderen Seite an.

Was währenddessen geschah, schilderte der Helfer, der den Hof sicherte: »Durch den Spalt der ersten Hoftür sah ich die beiden Zivilisten zurückkehren, aber nicht zu dritt, sondern zu viert. Den vierten Mann konnte ich deutlich erkennen. Ich dachte, mich trifft der Schlag. Der Mann trug die Uniform eines sowjetzonialen Grenzpolizisten und hatte eine Maschinenpistole umgehängt. Ich konnte meinen Freund nicht mehr warnen, ich wollte meinen Standort nicht verraten.« Der andere Fluchthelfer berichtete: »Auf dem Treppenabsatz stand ich den beiden Zivilisten gegenüber und in ihrer Mitte war der Grenzposten, der später als Egon Schultz identifiziert wurde und der seine Waffe auf mich richtete. Das Kommando ‚Durchladen!‘ fiel und ich wurde aufgefordert, mitzukommen. Zwei Meter war der Abstand meines Körpers vom Mündungslauf. Ich ging zurück, langsam, um nicht die Handhabe zu geben, auf einen Flüchtenden zu schießen.«

Alle anderen Fluchthelfer im Hof waren trotz der Gefahr auf ihren Plätzen geblieben. Es ging um das Leben des Freundes, der zwei Nächte lang die gefährlichste Aufgabe übernommen hatte, nämlich die Flüchtenden am Tor in Empfang zu nehmen und der noch lebend den Tunnel erreichen sollte. Der Fluchthelfer auf dem Hof gab einen Warnschuss ab, worauf der Freund zum Tunneleingang rannte. Sofort wurde das Feuer aus mehreren Waffen eröffnet und der Fluchthelfer schoss in Richtung des Mündungsfeuers der Maschinenpistole das Magazin seiner Handfeuerwaffe leer. Geduckt im Kugelhagel erreichten beide das Toilettenhäuschen, dessen Mauerwerk den Einschlägen standhielt. Während sich alle Freunde in den Tunnel runterließen, wurde plötzlich auch von der anderen Seite des Hofes aus geschossen. Anscheinend hatten sich die Polizisten gut verteilt.

Sämtliche Fluchthelfer erreichten unversehrt die andere Seite des Tunnels. Doch während des Kugelhagels kam der Grenzpolizist Egon Schultz ums Leben. Für die Ostpresse war das ein gefundenes Fressen – »Provokateure aus dem Westen morden die Staatsorgane« und so weiter. (Doch viele Jahre später, nach der Wende in der DDR, kam heraus, daß Schultz von den Kugeln der Stasileute erschossen wurde, die in der Dunkelheit wohl nicht richtig gezielt hatten.) Die Strelitzer Straße im Ostteil Berlins wurde daraufhin in Egon-Schultz-Straße umbenannt, auch mehrere Schulen und Kasernen in der DDR erhielten seinen Namen.

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