Mit der Schlie­ßung der Grenze geriet die Gegend um den Weddin­ger Teil der Brun­nen­straße in eine unan­ge­nehme Situa­tion: Bisher war dieser Kiez ein pulsie­ren­der Teil der Stadt. Bernauer und Brun­nen­straße waren wich­tige Verkehrs­adern und Durch­gangs­stra­ßen nach Mitte und in den Prenz­lauer Berg. Zwar gab es schon längere Zeit Grenz­kon­trol­len, trotz­dem war die Brun­nen­straße immer noch mitten­drin. Das war nun plötz­lich völlig anders, und nicht nur die Straße selbst endete in einer Sack­gasse, sondern der ganze Stadt­teil. Zu drei Seiten hin war er nun dicht, abge­schnit­ten durch die Grenze im Osten (Bahn­ge­lände hinter der Wolli­ner und Graun­straße), im Süden (Bernauer Straße) und im Westen (Garten­straße). Probleme machte dies vor allem dem Gewerbe: Plötz­lich war die nörd­li­che Brun­nen­straße Rand­ge­biet, große Teile der Kund­schaft blie­ben aus, auch der Ruf der Gegend verschlech­terte sich. Zuerst muss­ten die klei­nen Händ­ler und Hand­wer­ker begrei­fen, dass sie hier keine Zukunft mehr hatten. Immer mehr Geschäfte stan­den leer, vor allem in den Seiten­stra­ßen war es z.B. für Flei­scher oder Tisch­ler schwie­rig, über­haupt noch Kunden zu finden.

Dann folg­ten die Fabri­ken: Noch hielt AEG zwar am Stand­ort Brun­nen­straße fest, der das größte der vier Berli­ner Werke war, aber auch hier war man nur noch auf Zeit. Die tradi­ti­ons­rei­che Firma Essig-Kühne, die beider­seits der Volta­straße nicht nur ihr Werk hatte, sondern an der Ecke zur Brun­nen­straße sogar ein Kino betrieb, zog nach Reini­cken­dorf.
Vor allem in der Brun­nen­straße gab es bis zum Mauer­bau viele große Fach­ge­schäfte, für Beklei­dung, Elek­tro­be­darf, oder auch mehrere große Möbel­häu­ser. Nichts davon ist übrig geblie­ben, die Gegend trock­nete aus. Und als 1983 die Schlie­ßung des AEG-Werks bekannt gemacht wurde, gab auch das Kauf­haus Hertie an der Stralsunder/Ecke Brun­nen­straße auf.

So wie der Handel und die Produk­tion verschwan­den, sollte es mit den Bewoh­nern nicht gesche­hen. Der West­ber­li­ner Senat befürch­tete wohl die Entste­hung eines Ghet­tos, in dem nur noch die Verelen­dung wohnt und wo das Gespenst des alten, armen Wedding wieder erscheint. So entschloss er sich, das ganze einge­schlos­sene Karree, also sämt­li­che Blöcke zwischen der Bernauer Straße und der S‑Bahn, zum Sanie­rungs­ge­biet zu erklä­ren, gerade hier, wo auch viele Häuser noch durch den Krieg beschä­digt oder zerstört waren. Ein Total­ab­riss mit nach­fol­gen­der Bebau­ung bot die besten Möglich­kei­ten, einen höchst­mög­li­chen Effekt zu erzie­len und den vorlie­gen­den Miss­stand zu besei­ti­gen. Auch sollte »die Gefahr einer einsei­ti­gen, nega­ti­ven sozia­len Bevöl­ke­rungs­aus­lese und damit verbun­den eine Slum­bil­dung« verhin­dert werden. Vom Früh­som­mer 1963 bis 1966 über­leg­ten, plan­ten und disku­tier­ten dann Wissen­schaft­ler von elf deut­schen Tech­ni­schen Hoch­schu­len und Univer­si­tä­ten, wie spezi­ell der Wedding zu sanie­ren sei.

1966 wurde das heutige Erschei­nungs­bild nörd­lich der Bernauer Straße fest­ge­schrie­ben. Und das bedeu­tete: Abriss von 90–95% der Gebäude, Neubau nach den Prin­zi­pien Auflo­cke­rung, Entker­nung, Frei­flä­chen und Begrü­nung. Aller­dings hieß das auch, dass die Bevöl­ke­rungs­dichte sinken musste — viele Bewoh­ner muss­ten ihre vertraute Gegend verlas­sen.
Schon früh schrieb der »Tele­graf«: »Man muss mit dem Wider­stand vieler Bürger rech­nen, die ihre Wohnun­gen in dem abzu­rei­ßen­den Haus nicht aufge­ben wollen, weil die neue und schö­nere Wohnung im Neubau mehr Miete kostet.«
Und so verlief die geplante Sanie­rung auch nicht unge­stört und zog sich bis 1980 hin. Wie zu erwar­ten, wehr­ten sich Viele dage­gen, aus ihrem Kiez raus­zu­zie­hen. Um diese Menschen zu beru­hi­gen, sprach der dama­lige Regie­rende Bürger­meis­ter Willy Brandt von der »behut­sa­men Stadt­er­neue­rung«, die mehr Rück­sicht auf die Wünsche der Mieter nehmen sollte. Mensch­li­che und räum­li­che Bindun­gen soll­ten nicht ange­tas­tet werden. Doch sowohl dieses Verspre­chen, als auch das, keinen Kahl­schlag vorzu­neh­men, erwie­sen sich als Seifen­bla­sen. Allein bis 1965 waren schon 8.500 Wohnun­gen abge­ris­sen.

Anfang der 70er-Jahre, als im Norden Reini­cken­dorfs das »Märki­sche Vier­tel« fertig­ge­stellt wurde, gab es das Ange­bot an die Mieter aus dem Brun­nen­stra­ßen-Kiez, sich das Neubau­ghetto anzu­se­hen. Mit Reise­bus­sen wurden die Menschen ins MV gefah­ren und ihnen die schöne, neue Wohn­welt in Muster­woh­nun­gen vorge­führt. Da die Sanie­rung im Wedding ja auch den Wegfall von 50% der Wohnun­gen vorsah, muss­ten die Mieter irgendwo anders ange­sie­delt werden — und dafür war das Märki­sche Vier­tel vorge­se­hen. Aufgrund des Drucks und der Verspre­chun­gen unter­schrie­ben dann Tausende die Erklä­rung, dass sie eine Wohnung im hohen Norden akzep­tie­ren. Der Zuschuss zu den Umzugs­kos­ten konnte aller­dings die Sorgen wegen der um eini­ges höhe­ren Mieten nicht lindern. Und dass das MV für viele dann eben nicht das verspro­chene Para­dies wurde, ist daran zu erse­hen, dass es bald auch dort Mieter­pro­teste bis hin zu Miet­streiks gab. Bei einer offi­zi­el­len Umfrage unter den vertrie­be­nen Mietern kam ein besorg­nis­er­re­gen­des Ergeb­nis heraus: 14% bewer­te­ten diesen Schritt als »schwe­ren Schlag« bis hin zur »Tragö­die« und damit als exis­ten­zi­el­les Problem. Ledig­lich 27% waren mit der neuen Situa­tion zufrie­den. Der Eingriff in ihre Lebens­si­tua­tion betraf vor allem alte Menschen beson­ders hart. Das zwie­späl­tige Verhält­nis, das selbst die Verant­wort­li­chen teil­weise zu diesen Maßnah­men hatten, kommt in der Äuße­rung der Planer zum Ausdruck: »Es muss sein, aber es ist nicht rich­tig.«

Die Brun­nen­straße wurde, bis auf einige wenige Gebäude, planiert und neu bebaut. Ebenso die Wohn­ge­biete östlich und west­lich davon. Rich­tung Westen entstand rund um die Acker­straße ein eige­nes, mehr oder weni­ger abge­schlos­se­nes Wohn­ge­biet, das sogar einen leicht dörf­li­chen Charak­ter entwi­ckelte. Rich­tung Osten wurde als Zentrum die Swine­mün­der Straße bestimmt, die zwischen Bernauer und Rüge­ner Straße als Fußgän­ger­zone gestal­tet wurde. Mit dieser Maßnahme erreichte man, dass es keinen Durch­gangs­ver­kehr gibt; im Nach­hin­ein betrach­tet sicher eine glück­li­che Entschei­dung, denn noch heute können dort die Kinder und Jugend­li­chen auf der Straße spie­len, ohne dass sie stän­dig auf den Verkehr achten müssen.

Eine beson­dere Stel­lung nimmt hier der Vineta­platz ein, gewis­ser­ma­ßen das Zentrum des »Ostsee-Vier­tels« (viele Stra­ßen sind hier nach Orten an der Ostsee benannt). Der Platz war einst von Hobrecht als nörd­li­ches Ende einer Achse geplant, die entlang der Swine­mün­der Straße vom Zions­kirch- über den Arko­na­platz bis hier in Wedding zum Vineta­platz führte. Aller­dings erin­nert heute nichts mehr an die ehema­lige Gestal­tung des Plat­zes, der bereits 1930 völlig umge­baut wurde. Die Umge­stal­tung des Vineta­plat­zes kostete im Endef­fekt sehr viel Zeit und Geld. Vom Beginn der Planung 1972 dauerte es 18 Jahre bis zur endgül­ti­gen Fertig­stel­lung im Jahre 1990. Insge­samt wurden mehr als zehn Millio­nen Mark inves­tiert.
Heute besteht der auto­freie Stadt­platz aus mehre­ren Abschnit­ten, die durch nied­rige Mauern getrennt sind: Von der Wolli­ner Straße her hört man die Kinder auf dem Fußball­platz, dane­ben kommt gleich ein Spiel­platz. Der mitt­lere Teil, der als Durch­gang dient, ist etwas offe­ner gebaut, und weiter west­lich, schon zur Brun­nen­straße hin, kann man sich in eini­gen der klei­nen Buch­ten hinset­zen und in Ruhe im Arzt­ro­man lesen. Es ist noch immer ein schö­ner Stadt­platz für die Nach­barn.

Doch es sind nicht nur die Häuser und Stra­ßen­züge, die sich in diesem Stadt­teil verän­dert haben, auch die Zusam­men­set­zung der Bevöl­ke­rung hat sich gewan­delt. In den 70er und 80er-Jahren kamen viele Türken in das Gebiet, vor allem die Häuser direkt in der Brun­nen­straße waren für sie inter­es­sant. Viele der Geschäfte und Lokale in der Straße werden von Türken betrie­ben.
Auch gibt es heute wieder viele Fami­lien mit Kindern im Kiez. Der Bezirk trägt dem Rech­nung, so gibt es hier neben mehre­ren Schu­len und Kinder­gär­ten zwei große und mehrere kleine Fußball­plätze, viele Kinder­spiel­plätze, mehrere Jugend­klubs und eine Biblio­thek. Der Stadt­teil rund um die Brun­nen­straße im Wedding hat sich verwan­delt; er ist nicht zum Slum verkom­men und heute stehen hier auch keine Wohnun­gen mehr leer. Die Lebens­qua­li­tät hat sich sicher in den vergan­ge­nen Jahr­zehn­ten erhöht, aller­dings fehlt etwas, das gerade die nörd­li­che Brun­nen­straße und den Gesund­brun­nen einst ausmachte: Kinos, Thea­ter und ähnli­che Kultur­ein­rich­tun­gen findet man heute nicht mehr. Und auch viele Geschäfte sind nicht vermie­tet.

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