Der Rost der Erinnerung

Die Stadt­ge­gend, die man schnell erreicht, wenn man vom Stadt­bahn-Bahn­hof Tier­gar­ten die Straße Sieg­munds Hof nord­wärts geht und über den Wullen­we­ber­steg die geschwun­gene Spree über­quert, ist eine ruhige, gesetzte Gegend. Sie besteht aus Häusern, die die Kriegs­bom­ben stehen gelas­sen haben und solchen aus einer Zeit, in der man sich um das Schmin­ken des Stadt­ge­sichts keine Mühe gab, sondern zufrie­den war, wenn die Wunden verbun­den waren.
Die Stra­ßen­na­men schil­dern in vielen Fällen nicht die Erin­ne­run­gen der Stadt, sondern die histo­risch­po­li­ti­schen Vorlie­ben jewei­li­ger Maßgeb­li­cher. “Synago­gen­straße” oder “Straße der Verfol­gung” heißt die Levet­zow­straße jeden­falls nicht oder die Jagow­straße. So könn­ten sie heißen; denn die aus der gegen­ständ­li­chen Wirk­lich­keit verschwun­dene Synagoge an dieser Stra­ßen­ecke war eines der Sammel­la­ger, von dem aus Deut­sche andere Deut­sche zur Ermor­dung abtrans­por­tier­ten.

An dieser Stelle stehe ich jetzt. An dem Mäuer­chen gegen­über der Aral-Tank­stelle hängen vier verwelkte Kränze: der rechte mit grün-golde­ner Schleife von den Bünd­nis­grü­nen; die beiden mitt­le­ren vom Präsi­den­ten des Abge­ord­ne­ten­hau­ses und vom Regie­ren­den Bürger­meis­ter; der linke von der Kleist-Schule, die der leeren Stelle benach­bart ist.
Die Synagoge, die hier nicht mehr steht, war gebaut 1912 bis 1914 vom Gemein­de­ar­chi­tek­ten Johann Hoenin­ger; gerade vor dem ersten Welt­krieg, dem gegen­über sich die meis­ten jüdi­schen Berli­ner als ange­passte Deut­sche erwie­sen. Die Synagoge war ein mäch­ti­ger Bau, fast fünf­zig mal fünf­zig Meter, die dori­schen Säulen über­rag­ten die Geschosse bis zum hohen Mansar­den­dach, zur Jagow­straße schlos­sen sich Gemeinde- und Wohn­haus an; drei­schif­fi­ger Innen­raum, umlau­fende Empore, zwei­tau­send­ein­hun­dert Sitz­plätze, monu­men­tale Orgel. Nun ist hier ein Kinder­spiel­platz; er ist an diesem Februar-Frei­tag gut bespielt; man hat guten Blick auf die Balkone der ocker-brau­nen Wohn­an­lage in der Agri­co­la­straße. Von dort konnte man also gut beob­ach­ten, wie die Synagoge 1938 brannte, wie 1941 bis 1945 die Juden hier zusam­men­ge­trie­ben wurden, wie das Gottes­haus 1945 zerstört und 1955 abge­ris­sen wurde. Aber natür­lich konnte man das von ande­rer Stelle eben­so­gut sehen. Es gibt aller­dings Aussa­gen von dama­li­gen Schü­le­rin­nen der Kleist-Schule, die gar nichts gese­hen haben; andere sagen, die Levet­zow­straße sei über­haupt abge­sperrt gewe­sen, man kam angeb­lich gar nicht an die Synagoge ran. Andere kamen zwar rein, aber konn­ten nicht helfen. Direkt an dem Kinder­spiel­platz, so dass die hüten­den Mütter sie gut lesen können, steht eine große Tafel aus Corten­stahl, die die Vernich­tungs­trans­porte aufzählt; davor ein Güter­wa­gen mit marmor­nen Kunst­sym­bo­len für die hinein­ge­press­ten und hinein­ge­trie­be­nen Menschen. Ein umstrit­te­nes Denk­mal, steht in dem Hand­buch; ein eindrucks­vol­les Denk­mal, denke ich; ein eindrucks­vol­le­res, denke ich dann, wäre die Ruine selbst, wenn man stehen gelas­sen hätte von der Synagoge, was Natio­nal­so­zia­lis­mus und Krieg übrig­ge­las­sen hatten und wenn die Chris­ten mit dem jüdi­schen Gottes­haus getan hätten, was sie am Breit­scheid­platz mit einem zerstör­ten christ­li­chen Gottes­haus getan haben. Aber die demo­kra­tisch gewor­de­nen Chris­ten, die Deut­schen haben sich über­haupt wenig Mühe gege­ben, die Stät­ten der Opfer wenigs­tens als Denk­mä­ler ihrer selbst zu erhal­ten. Unten, in den Boden einge­las­sen, ist hier an der Levet­zow­straße ein Berli­ner Synago­gen­ver­zeich­nis eisern zu lesen; vom Baumeis­ter der Levet­zow-Synagoge, kann man daraus auch entneh­men, ist eine andere Synagoge ziem­lich voll­stän­dig erhal­ten: es ist die Synagoge in der Ryke­straße; ein paar Jahre älter als die Levet­zow-Synagoge, von der Straße zurück­ge­setzt, sich von der allge­mei­nen deut­schen Aufmerk­sam­keit zurück­zie­hend in einer “Wer-weiß-wer-weiß”-Gesinnung, zu der man hier in der Levet­zow­straße kurz vor dem ersten Welt­krieg, vor dem selbst der anti­se­mi­ti­sche Kaiser “nur noch Deut­sche” kannte, keinen Anlass mehr zu haben glaubte.

Zu Füßen der schräg aufra­gen­den rosti­gen Stahl­stele, durch die der Himmel die Daten und Zahlen des Massen­mor­des anzeigt, liegen die zerbro­che­nen roten Plas­tik­schäl­chen, in denen die Lich­ter der Erin­ne­rung zum letz­ten Gedenk-Anlass brann­ten. Kinder spie­len die eiserne Rampe hinauf, über die sich die Opfer in der Vorstel­lung derer bewe­gen, die den bewe­gungs­lo­sen gefes­sel­ten Marmor zu lesen verste­hen. Drau­ßen bren­nen die Synago­gen, auch das sind Gottes­häu­ser, hatte der für solche Sätze sein Leben einset­zende Dompropst Lich­ten­berg gesagt; ich weiß nicht, ob das in der Erlö­ser­kir­che am Ende oder am Anfang der Levet­zow­straße auch ein Gottes­mann gesagt hat. Ich will es in unser aller Inter­esse einfach anneh­men.
Die Erin­ne­rung und das Geden­ken, ohne die das Land nicht besteht, brau­chen Gegen­ständ­li­ches; keine Ästhe­ti­sie­rung des Grau­ens (wie zum Beispiel Stelen­fel­der, von denen der Bundes­kanz­ler wünschen kann, dass sie schön seien). Die Güter­wa­gen verros­ten. Aller­dings; die Erin­ne­rung vergeht. Eine Zeit­lang treten noch die Erin­ne­rungs­re­prä­sen­tan­ten auf; der einzige Kranz von denen dort, der zählt, ist viel­leicht der der Kleist-Schule. Die Schule hält die Nach­bar­schaft aufrecht, die der Wirk­lich­keit gegen­über aller­dings nicht gehol­fen hat. Nach einer gewis­sen Zeit ist alles Ploetz.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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