Hier wird chro­no­lo­gisch doku­men­tiert, was sich von Anfang August bis zum 9. Novem­ber 1989 in der DDR tat: Anhand von Fakten, Nach­rich­ten, Zeitungs­ar­ti­keln und auch Interna aus der Staats­si­cher­heit wird deut­lich, wie sich die Situa­tion inner­halb von 97 Tagen immer mehr zuspitzte — und in der Nacht des 9. Novem­ber der Staats­füh­rung endgül­tig aus der Hand glitt.

Samstag, 5. August 1989

Nach­rich­ten
Rumä­nien ruft seinen Botschaf­ter aus Ungarn zu Konsul­ta­tio­nen ab. Anlass war ein Inter­view des unga­ri­schen Fern­se­hens mit dem rumä­ni­schen Ex-König Michael I., der den Buka­res­ter Staats- und Partei­chef Ceau­sescu beschul­digte, Verbre­chen gegen das Volk zu bege­hen und wie ein abso­lu­ter Monarch zu herr­schen.

Veröf­fent­li­chun­gen
Frank­fur­ter Rund­schau
Honecker und seine Leute verbit­ten sich, zuneh­mend gereizt, jegli­che Reform­vor­schläge von west­li­cher Seite. Nach bewähr­ter Tradi­tion glau­ben sie offen­bar, dass die Schwie­rig­kei­ten nach­las­sen, wenn nur die Kritik verstummt. Doch sie müssen es schlu­cken: Was sie viel­leicht im stil­len Kämmer­lein bere­den, in der Öffent­lich­keit aber nicht zuge­ben wollen, ist die für sie so betrüb­li­che Tatsa­che, dass der Versuch schon heute geschei­tert ist, die DDR als eine Insel der seli­gen Sozia­lis­ten in einem aufge­wühl­ten Meer trocken­hal­ten zu können.

Berli­ner Zeitung
Es ist ganz lehr­reich, noch einmal auf die Sache mit den Gänse­füß­chen zurück­zu­kom­men, die Axel Sprin­ger einst der DDR in seinen Zeitun­gen verord­net hatte. “DDR” sollte es heißen, ob auf der Sport­seite oder in poli­ti­schen Kommantaren, Verkehrs­mel­dun­gen oder Wetter­be­rich­ten. Über­all, wo unser Land in den Spal­ten der Bild-Zeitung, der “Welt” oder der “Morgen­post” auftauchte, hatte es in Gänse­füß­chen gedruckt zu werden. Vor ein paar Tagen hat man nun dieses kuriose Verfah­ren aufge­ge­ben.
Hitlers Propa­gan­dis­ten nann­ten Nieder­la­gen einst “Front­be­gra­di­gun­gen”, die man vornehme, um neue Siege zu errin­gen. Die Chef­re­dak­teure des Hauses Sprin­ger teil­ten ihren Lesern mit, sie würden jetzt auf die klei­nen Häkchen verzich­ten, weil man Ballast abwer­fen wolle, um künf­tig seriö­ser, glaub­haf­ter bei den Menschen im Osten zu wirken, wenn man ihnen mit den ollen Kamel­len von “Einheit und Frei­heit” kommt. Man gab der DDR im Okto­ber 1949 höchs­tens drei Monate, dann zwei bis drei Jahre. Inzwi­schen sind es vier­zig.

Sonntag, 6. August 1989

Nach­rich­ten
Nach einem Bitt-Gottes­dienst in der Kirche von Dres­den-Gitter­see gegen die Errich­tung eines wegen seiner Risi­ken abge­lehn­ten Chemie­wer­kes kommt es auf dem Bauge­lände zu schwe­ren Über­grif­fen der Poli­zei gegen etwa 1.500 Demons­tran­ten. Aussage eines Augen­zeu­gen: “Eine Gruppe von etwa 40 jungen Leuten wurde abge­drängt, mit sinn­lo­ser Gewalt zusam­men­ge­schla­gen und ausein­an­der­ge­zerrt. Blind­wü­tig schlu­gen Bereit­schafts­po­li­zis­ten sogar auf eine Mutter ein, die ihr sechs Wochen altes Baby vor dem Bauch trug, und zerr­ten einen Roll­stuhl­fah­rer aus dem Roll­stuhl, um ihn dann, auf der Straße liegend, zu verprü­geln.”

Veröf­fent­li­chun­gen
Jürgen Kuczyn­ski: Schwie­rige Jahre — mit einem besse­ren Ende?
Wie ich es dem Regis­seur voraus­ge­sagt, wird der Film, der von mir gemacht wurde, nicht zu meinem Geburts­tag aufge­führt. Er war betrübt, aber ich trös­tete ihn damit, dass er ihn sicher bei meiner Beer­di­gung auffüh­ren kann.
Am Donners­tag brachte das ND einen viele Spal­ten langen Arti­kel gegen einen West­deut­schen, in dem behaup­tet wurde, dass es mit uns bergab geht. Am Sonn­abend kam die übli­che begeis­terte Statis­tik über unse­ren wirt­schaft­li­chen Fort­schritt.

Montag, 7. August 1989

Nach­rich­ten
Rechts­an­walt Vogel teilt dem Bonner Minis­te­rium für inner­deut­sche Ange­le­gen­hei­ten mit, dass er Botschafts­flücht­lin­gen Straf­frei­heit nur bei Rück­kehr in die DDR zusa­gen könne — ohne Zusi­che­rung der Ausreise.

Die Leip­zi­ger Oppo­si­tio­nel­len Werner Horn und Stef­fen Weigel werden verhaf­tet, weil sie zum 13. August eine Demons­tra­tion anmel­den und auf dem Markt eine Mauer errich­ten woll­ten.

Veröf­fent­li­chun­gen
Der Spie­gel
Da Buda­pest im Juni der UNO-Flücht­lings­kon­ven­tion beigetre­ten ist und immer mehr Flücht­linge unga­ri­scher Abstam­mung aus Rumä­nien kommen (bisher 17.000), will Ungarn ein Büro des UN-Hoch­kom­mis­sa­ri­ats für Flücht­linge auf seinem Gebiet zulas­sen. Dann aber könnte es DDR-Flücht­linge schwer­lich noch zurück­schi­cken, ohne seine gegen­über der UNO einge­gan­ge­nen Verpflich­tun­gen zu verlet­zen.
Einer mögli­chen dras­ti­schen Einschrän­kung des DDR-Reise­ver­kehrs mit Ungarn durch Ost-Berlin sieht Buda­pest rela­tiv gelas­sen entge­gen: Ungarn, das in diesem Jahr einen gewal­ti­gen Touris­ten­boom erlebt, kann auf die Billig-Urlau­ber aus der DDR, deren Ost-Mark nicht gefragt sind, leicht verzich­ten.

Dienstag, 8. August 1989

Nach­rich­ten
Die Stän­dige Vertre­tung der BRD in der DDR in der Ostber­li­ner Hanno­ver­schen Straße wird wegen Über­fül­lung geschlos­sen.

Das Durch­gangs­la­ger Gießen für DDR-Flücht­linge, die über Ungarn in die Bundes­re­pu­blik gekom­men sind, ist mit 2.000 Bele­gun­gen über­las­tet. Neuan­kömm­linge ziehen in Turn­hal­len und Wohn­con­tai­ner.

Veröf­fent­li­chun­gen
Neues Deutsch­land
Seit eini­gen Tagen führen bundes­deut­sche Medien eine laut­starke Kampa­gne um einige DDR-Bürger, denen in der BRD-Botschaft in Buda­pest wider­recht­lich Aufent­halt gewährt wird, und die auf ille­ga­len Wegen in die BRD gelan­gen wollen. Die Wahr­neh­mung soge­nann­ter Obhut­s­pflich­ten gegen­über Bürgern ande­rer Staa­ten durch die BRD ist eine typi­sche groß­deut­sche Anma­ßung, die aufs Schärfste zurück­ge­wie­sen werden muss.

Berli­ner Zeitung
Der Leiter des unga­ri­schen Reise­bü­ros hat gegen­über Jour­na­lis­ten verleum­de­ri­sche Behaup­tun­gen west­li­cher Medien und Poli­ti­ker über Einschrän­kun­gen im Touris­ten­ver­kehr zwischen der DDR und Ungarn zurück­ge­wie­sen.

Mittwoch, 9. August 1989

Nach­rich­ten
Die Bundes­re­gie­rung bezeich­net die Situa­tion der 200 Ausrei­se­wil­li­gen in der bundes­deut­schen Botschaft in Buda­pest als “ernst, aber im Griff”. Intern wird eine Schlie­ßung erwo­gen.

Der stell­ver­tre­tende SPD-Frak­ti­ons­vor­sit­zende Horst Ehmke appel­liert an die DDR-Bürger, die sich in die Stän­dige BRD-Vertre­tung in Ost-Berlin bege­ben haben, diese zu verlas­sen und sich mit der zuge­si­cher­ten Straf­frei­heit zufrie­den zu geben.

Veröf­fent­li­chun­gen
Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung
9 Uhr: Um diese Zeit öffnet für gewöhn­lich die Rechts­ab­tei­lung der Stän­di­gen Vertre­tung ihre Pfor­ten. Heute passiert gar nichts: Das schwere Eisen­git­ter bleibt herun­ter­ge­las­sen. Auch alle ande­ren Tore und Zufahr­ten sind verram­melt und verrie­gelt.
Dafür fahren zwei Last­wa­gen der Deut­schen Post vor. Monteure machen sich an einem Vertei­ler­kas­ten und unter einem Verteil­erde­ckel auf dem Bürger­steig zu schaf­fen. Zwei Stun­den lang sind dann sämt­li­che Tele­fon­lei­tun­gen in der Vertre­tung lahm­ge­legt.
9.45 Uhr: Der briti­sche Botschaf­ter fährt vor. Er will sich über die Lage infor­mie­ren. Für den Nach­mit­tag ist die fran­zö­si­sche Botschaf­te­rin ange­sagt. Der Botschaf­ter wird einge­las­sen, das Fahr­zeug nicht. Das weit­ge­öff­nete Tor könnte die Warten­den zu Verzweif­lungs­ta­ten verfüh­ren.

Die Tages­zei­tung
Rund 500 DDR-Bürger kommen täglich im Notauf­nah­me­la­ger Gießen an, etwa 130 wollen die bundes­deut­sche Vertre­tung in Ost-Berlin nur noch gen Westen verlas­sen. So hoch sind die Zahlen, dass die Bonner Regie­rung einen Sogef­fekt befürch­tet und deshalb eine Nach­rich­ten­sperre über den gesam­ten Vorgang verhängt hat. Sogar die öster­rei­chi­schen Behör­den konnte sie über­re­den, nicht mehr bekannt­zu­ge­ben, wieviele Flücht­linge jeden Tag aus dem benach­bar­ten Ungarn eintref­fen.
Staats­se­kre­tär Pries­nitz bringt die Bonner Ängste unge­schickt deut­lich auf den Punkt: “Die Menschen sollen möglichst blei­ben, wo sie sind, damit die Wieder­ver­ei­ni­gung nicht in der Bundes­re­pu­blik statt­fin­den muss.” An diesen Rat wollen sich viele DDRler ganz offen­sicht­lich nicht halten.

Donnerstag, 10. August 1989

Nach­rich­ten
DDR-Bürger, die nicht nach Ungarn dürfen, flüch­ten über die CSSR nach Ungarn und von da über die Grenze nach Öster­reich, wo täglich etwa 50 Perso­nen eintref­fen.

DDR-Zeitun­gen drucken den Text des Bonner DDR-Korre­spon­den­ten, der am Vorabend in der “Aktu­el­len Kamera” verle­sen worden war. Zum ersten Mal wird das Flücht­lings­thema ange­spro­chen. Bislang hatten DDR-Bürger offi­zi­ell nur durch die Erklä­rung des Außen­mi­nis­te­ri­ums erfah­ren, dass sich “einige” Menschen in der Stän­di­gen Vertre­tung aufhal­ten.

Veröf­fent­li­chun­gen
Aktu­elle Kamera (Korre­spon­den­ten­be­richt vom Vortag):
Hier in Bonn fragt sich so mancher, was die hyste­ri­sche Kampa­gne der Massen­me­dien mit eini­gen Leuten soll, die auf dem Umweg über die auslän­di­schen Vertre­tun­gen der BRD ille­gal die DDR verlas­sen wollen. Es könne ja wohl nicht nur das poli­ti­sche Sommer­loch sein, das ARD und ZDF, den Rund­funk und die Zeitun­gen veran­lasse, sich in einer Art “Front­be­richt­erstat­tung” zu über­schla­gen. Mit Regie­an­wei­sun­gen für ille­gale Grenz­über­tritte, mit der Lüge von einer angeb­li­chen Einschrän­kung des Reise­ver­kehrs nach Ungarn, mit wilden Zahlen­ma­ni­pu­la­tio­nen wird versucht, Bürger der DDR zu unüber­leg­ten Schrit­ten zu veran­las­sen und die Wahr­heit total auf den Kopf zu stel­len. Da wird von einem “großen Zustrom” gespro­chen. Man meint aber nicht die 3,288 Millio­nen Reisen von DDR-Bürgern in die Bundes­re­pu­blik und nach Berlin (West) in den ersten sieben Mona­ten dieses Jahres, man meint auch nicht die über 1,8 Millio­nen Reisen von DDR-Bürgern in die Unga­ri­sche Volks­re­pu­blik. Nein, dieje­ni­gen, die an einem Anhei­zen der Atmo­sphäre inter­es­siert sind, meinen jene 131 Leute, die im Empfangs­saal der Stän­di­gen Vertre­tung der BRD in Berlin unter menschen­un­wür­di­gen Bedin­gun­gen kampie­ren, bzw. jene 158 in der Bonner Botschaft in Buda­pest. Den hiesi­gen Behör­den sind diese Zahlen und ihre Unver­hält­nis­mä­ßig­keit natür­lich wohl­be­kannt.
Kenner der DDR-Poli­tik in Bonn wissen auch, dass kein DDR-Bürger vom Besuch einer auslän­di­schen Botschaft abge­hal­ten wird, und niemand, der sie wieder verlässt, Folgen zu befürch­ten hat. Warnende Stim­men weisen darauf hin, dass diese Kampa­gne der Bonner Einmi­schung in innere Ange­le­gen­hei­ten der DDR dazu ange­tan sei, eine “härtere Gang­art” der DDR gera­dezu zu provo­zie­ren.

Freitag, 11. August 1989

Nach­rich­ten
Der Strom von Flücht­lin­gen über die grüne Grenze zwischen Ungarn und Öster­reich dauert an. Das unga­ri­sche Innen­mi­nis­te­rium erklärt: DDR-Bürger kommen beim ersten Flucht­ver­such nach Öster­reich mit einer Verwar­nung davon, beim zwei­ten Versuch wird ein Vermerk in den Pass gestem­pelt. Werden DDR-Bürger zum wieder­hol­ten Male gestellt, erfolgt eine Infor­ma­tion auch an die zustän­di­gen DDR-Behör­den. In der ersten Hälfte des Jahres sei das in über 400 Fällen gesche­hen. Einige hundert DDR-Bürger, die in Ungarn einen Sicht­ver­merk im Pass erhal­ten haben, sind in deshalb bereits Buda­pest abge­taucht, sie warten auf Klärung und schlie­ßen die Rück­kehr in die DDR aus.
In der Bonner Botschaft in Prag halten sich mitt­ler­weile 30 ausrei­se­wil­lige DDR-Bürger auf.

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Radio Buda­pest
An unse­rer west­li­chen Grenze haben wir den eiser­nen Vorhang nicht deshalb liqui­diert, um jenes Tor zu öffnen, das die Berli­ner Mauer zuge­sperrt hat. Die moderne Völker­wan­de­rung ist ein neuar­ti­ges deut­sches Problem, bei seiner Lösung kann Ungarn nicht behilf­lich sein.

Stefan Heym in einem ARD-Inter­view
Die Ausrei­se­welle ist ein fürch­ter­li­ches Phäno­men, das droht, die ganze DDR zu vernich­ten. Die DDR kann ihre Gren­zen nicht komplett aufma­chen, sonst ist keine Masse mehr da. Den auto­ri­tä­ren und auch noch schlech­ten Sozia­lis­mus will niemand mehr.

Der Tages­spie­gel
Auf dem SED-Regime lastet gegen­wär­tig ein Ausrei­se­druck. Er setzt ein ironi­sches Frage­zei­chen hinter alle spitz­fin­dig-akade­mi­schen und gegen­wär­tig in poli­ti­schen Zirkeln der Bundes­re­pu­blik so belieb­ten Gedan­ken­spiele, ob die deut­sche Frage mehr oder weni­ger offen oder gänz­lich zu sei.

Samstag, 12. August 1989

Nach­rich­ten
Die Berli­ner Grünen (Alter­na­tive Liste) schlägt vor, die Bundes­re­pu­blik sollte die DDR-Bürger bei der Einreise wie andere Nicht-EG-Auslän­der (z.B. Öster­rei­cher oder Schwei­zer) behan­deln. Das würde bedeu­ten, dass eine Einreise in die Bundes­re­pu­blik zwar ohne Visum möglich ist, die DDR-Bürger aber keinen auto­ma­ti­schen Anspruch auf eine Staats­bür­ger­schaft der BRD hätten. Die DDR könnte dann, ohne Furcht vor einer Massen­flucht, ihre Reise­re­ge­lun­gen libe­ra­li­sie­ren.

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The Guar­dian
Wenn die West­deut­schen die Ostdeut­schen als Vertre­ter einer ande­ren Natio­na­li­tät würden, könnte die Mauer umge­hend abge­ris­sen werden. Dies würde auch Kanz­ler Kohls Problem mit der neuen Ultra-Rech­ten erleich­tern, die ironi­scher­weise die Einwan­de­rung von ethni­schen Deut­schen ablehnt. Honecker könnte sich in der Zwischen­zeit anstren­gen, Ostdeutsch­land zu einer besse­ren Lebens­qua­li­tät zu verhel­fen, um die Warte­schlange am Ausgang zu verkür­zen.

Ein Über­sied­ler im Tages­spie­gel
Das Notauf­nah­me­la­ger empfängt seine “neuen” Deut­schen mit hoch­zäh­li­gen Warte­num­mern aus oran­ge­far­bi­gen Auto­ma­ten. Ein knap­pes Will­kom­men, eine kurze Befra­gung nach der Person und die Über­gabe eines langen Lauf­zet­tels mit einem ersten Stem­pel been­det das Gast­spiel an der Lager­re­zep­tion. Die Alli­ier­ten geben drei Stem­pel. Der “Lauf­zet­tel für das Aufnah­me­ver­fah­ren” beginnt sich zu füllen.
Dritte Station: Die Weisungs­stelle. “Sie erhal­ten von uns Verpfle­gungs­geld”, sagt die freund­li­che Bear­bei­te­rin, “und sieben Tickets für die BVG. Viel Glück in Berlin.” Danke. Der vier­tel Stem­pel. Stem­pel Nummer 5 liefert das Bundes­auf­nah­me­ver­fah­ren. Hier wird entschie­den, ob die Deut­schen aus der DDR im Land Berlin blei­ben dürfen oder nach Gießen ausge­flo­gen werden. “Vorprü­fung” heißt die nächste Station der zukünf­ti­gen Insu­la­ner. Der Verfas­sungs­schutz hat das Wort. Wenn sich die gutge­si­cher­ten Türen wieder öffnen, ist der sechste Stem­pel auf dem Papier, der vier­tel Lager­tag ist vorbei und der Compu­ter mit den wich­tigs­ten Daten des Neuan­kömm­lings gefüt­tert. Drei Instan­zen sieht der Lauf­weg noch vor.

Bild-Zeitung
Ost-Berlin, Buda­pest, Prag. Es geht um Flücht­linge. Deut­sche. Die Lage ist verfah­ren. Kein Ausweg in Sicht. Auf der Ebene Staats­se­kre­tär Pries­nitz (West) und Rechts­an­walt Vogel (Ost) kommt man nicht voran, wie BILD sicher weiß. Das Kanz­ler­amt erklärt, Helmut Kohl nehme “inten­si­ven Anteil” an den Vorgän­gen. Was spricht eigent­lich dage­gen, dass er zum Tele­fon greift und Honecker anruft? Tun Sie’s, Herr Bundes­kanz­ler!

Sonntag, 13. August 1989

Nach­rich­ten
Die BRD-Botschaft in Buda­pest wird am 28. Tag des Mauer­baus geschlos­sen. Die Aufnah­me­ka­pa­zi­tät für DDR-Flücht­linge ist rest­los erschöpft.
Von den 131 in der Stän­di­gen Vertre­tung der BRD verhar­ren­den DDR-Bürgern verlas­sen nur 15 das Gebäude aufgrund der Zusi­che­rung von Anwalt Vogel, dass sie zwar keine Ausreise, aber Straf­frei­heit zu erwar­ten haben.

Der Ost-Berli­ner Physi­ker Hans-Jürgen Fisch­beck ruft in der Berli­ner Bekennt­nis­kir­che zur Grün­dung der ersten oppo­si­tio­nel­len Samm­lungs­be­we­gung in der DDR auf, um die Ausrei­se­wil­li­gen mit einer Alter­na­tive zum Blei­ben zu bewe­gen.

Veröf­fent­li­chun­gen
Jürgen Kuczyn­ski: Schwie­rige Jahre — mit einem besse­ren Ende?
Die Entfer­nung der Führung von uns, dem Volk, und ihre frechen Über­heb­lich­keit uns gegen­über wird immer größer. Das ND bringt lange Arti­kel von Rein­hold & Co., die keiner liest, die aber zeigen sollen, wie groß­ar­tig alles bei uns geord­net ist und vorwärts geht… Geht das noch länger, muss es zur Explo­sion führen — auch wenn wir noch so viele auswan­dern lassen.

Berli­ner Zeitung
Für die DDR war der 13. August nicht nur deshalb eine Erleich­te­rung, weil durch ihr entschlos­se­nes Handeln die Kriegs­ge­fahr gebannt worden war. Sie konnte sich bei siche­ren Gren­zen endlich ohne massive Störun­gen durch ihre Gegner, wie sie die offene Grenze ermög­lichte, syste­ma­tisch entwi­ckeln und noch sicht­ba­rer den Nach­weis führen, wozu der Sozia­lis­mus auf deut­schem Boden fähig ist. Sie stieg im Verlauf der 60er und 70er Jahre in die Reihe der ersten zehn Indus­trie­staa­ten der Welt auf, setzte dann ein nie dage­we­se­nes Wohnungs­bau-Programm in Gang und bot den Werk­tä­ti­gen eine soziale Sicher­heit, von der in den Zwei-Drit­tel-Gesell­schaf­ten im Kapi­ta­lis­mus keine Rede sein kann. Inter­na­tio­nal wurde die DDR ein inter­es­san­ter Handels- und ein gefrag­ter Dialog­part­ner. Sie wurde zu einem Eckpfei­ler im welt­wei­ten Kampf um Entspan­nung und Frie­den, gegen Hoch­rüs­tung, Revan­chis­mus und Neona­zis­mus.

Montag, 14. August 1989

Nach­rich­ten
Nach Schät­zun­gen der unga­ri­schen Regie­rung befin­den sich 200.000 DDR-Touris­ten im Lande. Viele woll­ten nicht in die DDR zurück­keh­ren.

Veröf­fent­li­chun­gen
Schrift­stel­le­rin Monika Maroni im Spie­gel
Ein DDR-Flücht­ling, der sagt, dass er von der vielen Arbeit, die er in seinem Leben zu leis­ten haben wird, ein adäqua­tes Leben führen möchte, ein Leben, das die Bundes­deut­schen seit Jahr­zehn­ten führen, bleibt in dem verdacht niede­rer Beweg­gründe vor dem Publi­kum sitzen. Warum sollte er sich nichts ande­res wünschen, als eine Reise nach Rumä­nien oder in den Harz? Warum glau­ben die West­deut­schen plötz­lich, dass sie für das poli­ti­sche Schick­sal der Ostdeut­schen nicht zustän­dig sind? Es ist den West­deut­schen erspart geblie­ben, die Nach­kriegs­ge­schichte der Ostdeut­schen zu teilen. Die Aussicht, nun ihren Wohl­stand mit ihnen teilen zu müssen, versetzt sie in Schre­cken.

Dienstag, 15. August 1989

Nach­rich­ten
Das DDR-Fern­se­hen zeigt Rück­keh­rer aus Ungarn, die nun den West­deut­schen Verfüh­rung vorwer­fen. In der “Aktu­el­len Kamera” kommen zwei Männer zu Wort, die “ille­gal” in die BRD geflo­hen waren. Sie berich­te­ten von ihre schlim­men Erleb­nis­sen, der Verein­sa­mung und der Kälte im Westen.

Veröf­fent­li­chun­gen
Aus einer Rede Erich Honeckers, abge­druckt im Neuen Deutsch­land:
Den Sozia­lis­mus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!

Der DDR-Bürger­recht­ler Roland Jahn in der Tages­zei­tung:
Wo sind die Alter­na­ti­ven in der DDR zu finden? Wo sind die SED-Genos­sen, die ihre Reform­kon­zepte angeb­lich schon in der Schub­lade haben? Sie laufen mit auf vorge­ge­be­ner Linie oder schwei­gen. Wo sind die Friedens‑, Umwelt- und Menschen­rechts-Grup­pen? Ihre Entfer­nung zur Bevöl­ke­rung ist fast so groß wie die der SED.

Mittwoch, 16. August 1989

Nach­rich­ten
Vor der BRD-Botschaft in Buda­pest sowie vor einer Kirche entste­hen Zelt­la­ger von DDR-Bürgern. Gleich­zei­tig wird ein Vertre­ter Ungarns ins DDR-Außen­mi­nis­te­rium bestellt. Die DDR verlangt das sofor­tige Ende der Unter­stüt­zung der Flücht­linge. Die Reichs­bahn würde Züge zur Abho­lung nach Buda­pest schi­cken. Während­des­sen wird bei der Stasi ein Opera­tiv­stab einge­rich­tet, der eine Gruppe Agen­ten nach Buda­pest schickt.

Der Leiter der Stän­di­gen Vertre­tung in Ost-Berlin, Franz Bertele, wird ins DDR-Außen­mi­nis­te­rium bestellt, das sich gegen völker­recht­li­chen Akti­vi­tä­ten der BRD in Ungarn verwahrt.
Gleich­zei­tig gibt die US-Botschaft in Ost-Berlin bekannt, dass nur noch Perso­nen einge­las­sen werden, die mit der unmit­tel­ba­ren Tätig­keit der Botschaft in Zusam­men­hang stehen. Marine ‑Infan­te­ris­ten würden “jeden unge­be­te­nen Gast” auf die Straße setzen.

Veröf­fent­li­chun­gen
Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung
Nicht nur die Sowjet­union ist auf Distanz zur DDR gegan­gen. Auch Polen betrach­tet seinen west­li­chen Part­ner mit großer Skep­sis. Die Polen haben nicht verges­sen, dass die DDR die Erhe­bung der Jahre 1980/81 in polen schärfs­tens verur­teilt und die Funk­tio­näre der “Soli­da­ri­tät” mit einer Nazi­bande vergli­chen hat.

Berli­ner Morgen­post
Sozi­al­se­na­to­rin Stah­mer warnte davor, alle Aussied­ler in einen Topf zu werfen. Auch sie habe von Leuten gehört, die eine Wohnung mit Ofen­hei­zung ablehn­ten: “Für so etwas bin ich nicht in den Westen gekom­men.” Aber diese Einstel­lung, die Emotio­nen schüre, habe nur ein klei­ner Teil der Zuwan­de­rer. Die Mehr­heit nimmt, was man ihr anbie­tet.

Donnerstag, 17. August 1989

Nach­rich­ten
Der bundes­deut­schen Botschaft in Ungarn gehen die Pass­for­mu­lare aus, ein Sonder­ku­rier bringt tausend neue Formu­lar.

Veröf­fent­li­chun­gen
Berli­ner Morgen­post
Jörg Kotterba, zuvor Redak­teur der BERLI­NER ZEITUNG berich­tet von seiner Flucht
Ich bin in Rich­tung Bundes­re­pu­blik unter­wegs. Ihr werdet meinen Schritt sicher nicht verste­hen, soll­tet ihn aber tole­rie­ren. Gute Heim­fahrt. J.” — Drei Stun­den lang hing dieser Abschies­ds­brief an der Türklinke des Zimmers 547 im schwe­di­schen Hotel SAS Radis­son. Als Dele­ga­ti­ons­lei­ter hatte ich die promi­nen­ten Leicht­ath­le­ten zum inter­na­tio­na­len Meeting nach Malmö beglei­tet. Ich nutzte meine Privi­le­gien, um aus- bzw. umzu­stei­gen. Doch die Hafen­stadt präsen­tierte sich mir, dem Inha­ber eines DDR-Reise­pas­ses, als glit­zernd-freund­li­che Mause­falle. Die Mitar­bei­ter der deut­schen Botschaft in Kopen­ha­gen schie­nen auch nach meinem drit­ten Anruf bedau­ernd die Schul­tern zu heben: “Es tut uns leid. Ohne ein däni­sches Visum haben Sie keine Chance, zu uns in die Stock­holm­gade zu kommen.” Auch die Damen des däni­schen Konsu­lats in Malmö schüt­tel­ten char­mant aber konse­quant mit dem Kopf. “Nein, fünf Tage brau­chen wir mindes­tens, um für Sie die Forma­li­tä­ten zu erle­di­gen.” Doch mein Visum für Schwe­den lief ab, und Enttäu­schung machte sich breit, dass eine Flucht vom Westen in den Westen für einen DDR-Bürger zwar nicht durch Stachel­draht, dafür aber durch büro­kra­ti­sche Hürden gestoppt werden kann.
Ob mein Trio eine gute Heim­reise hatte? Gab ihnen mein Abschieds­brief zu denken?
Wieso fand ich kurz vor meiner Flucht inner­halb von 14 Tagen drei Flug­blät­ter im Brief­kas­ten, auf denen stand: “Honni, mach das Getto auf, wir wollen in die Frei­heit”? Warum rich­tet Ost-Berlin als erste Stadt in der DDR nach hefti­gem Drän­gen aus Kirchen­krei­sen ein “Tele­fon des Vertrau­ens” ein? Weshalb stei­gen Alko­hol­kon­sum und Selbst­mord­quo­ten? Warum stöh­nen die Mitar­bei­ter des Ost-Berli­ner Grie­sin­ger-Kran­ken­hau­ses, einer Fach­ein­rich­tung für Depres­sive, über einen Zulauf wir nie zuvor?

Freitag, 18. August 1989

Nach­rich­ten
Die Moskauer Partei­zei­tung “Prawda” schreibt offen über die Möglich­keit eines poli­ti­schen Umstur­zes in der Sowjet­union, bei dem Gorbat­schow abge­löst oder gezwun­gen wird, den Kurs der Verwal­tung des Staa­tes zu ändern. Die Zeitung weist auch auf die Möglich­keit hin, dass der Ausnah­me­zu­stand verhängt wird.

Veröf­fent­li­chun­gen
Der Tages­spie­gel
Das SPD-Führungs­mit­glied Horst Ehmke weist den von Ost-Berlin erho­be­nen Vorwurf einer Einmi­schung zurück: “Wenn in diesem Jahr 100.000 Menschen von drüben zu uns kommen, sind wir sehr wohl von dem betrof­fen, was in der DDR vor sich geht.”

Berli­ner Zeitung
1.000 FDJ-Funk­tio­näre aus Berli­ner Ober­schu­len berei­ten sich gegen­wär­tig in Lenz am Plaue­ner See auf das kommende Schul­jahr vor. Zum tradi­tio­nel­len “Tag der Partei” begrüß­ten sie gestern Helmut Müller, 2.. Sekre­tär der SED-Bezirks­lei­tung Berlin. Er erin­nerte zunächst an die Geschichte dieses Schu­lungs­la­gers und verwies auf die beson­dere Bedeu­tung des Durch­gangs, der im Jahr vor dem XII. Partei­tag der SED statt­fin­det. “Auf dem Partei­tag wird das Sozia­lis­mus­bild der DDR für die 90er Jahre fixiert. Jahre, in denen eure Gene­ra­tion die Entwick­lung unse­res Landes wesent­lich mitbe­stim­men wird.”

Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung
Man hat sich auf ein “Manage­ment der deut­schen Teilung” beschränkt, hat für mensch­li­che Erleich­te­run­gen der DDR Geld gezahlt, dessen Einfluss für die DDR zuneh­mend lebens­not­wen­dig wurde. Damit wurde das Regime in einer bestimm­tes Weise gefes­tigt; nun wundert man sich, dass eine so verhär­tete DDR-Führung sich entspre­chend verhält. Honecker will das beschei­dene Türchen, durch das er die Bühne verlas­sen könnte, nicht selbst öffnen. Vage ist die Rede von einem Tref­fen Kohls mit dem Staats­rats­vor­sit­zen­den. Der könnte in der Art eines Feld­herrn einen Gnaden­akt erlas­sen. Aber Kohl könnte nicht garan­tie­ren, dass Umstände, die nach einer Wieder­ho­lung verlan­gen, nicht eintre­ten. Abwar­ten heißt die Parole, bei wech­sel­sei­ti­ger Mini­mie­rung des Gesichts­ver­lusts.

Leser­brief in der Berli­ner Zeitung
Die Entwick­lung des 32-bit-Prozes­sors der Erfur­ter Mikro­elek­tro­ni­ker ist ein erneu­ter Beweis für die Leis­tungs­kraft unse­rer Volks­wirt­schaft. Solche Leis­tun­gen sind zugleich die beste Antwort auf die wüste Kampa­gne kapi­ta­lis­ti­scher Medien gegen die DDR. Gerade in diesen Tagen, wo west­li­cher Medi­en­rum­mel weis­ma­chen will, dass es in der DDR-Wirt­schaft kriselt, sind die Fakten aus Erfurt von enor­mer Bedeu­tung.

Samstag, 19. August 1989

Nach­rich­ten
Die unga­ri­sche Oppo­si­tion lädt zu einem “paneu­ro­päi­schen Früh­stück” an der unga­risch-öster­rei­chi­schen Grenze bei Sopron ein. Durch die symbo­li­sche Öffnung eines Grenz­to­ren soll für ein geein­tes Europa demons­triert werden. Flug­blät­ter mit Anga­ben über Ort und Zeit der Aktion kursie­ren auch unter der DDR-Flücht­lin­gen in Buda­pest. Tatsäch­lich wird ein Durch­gang geöff­net, durch den 660 DDR-Bürger nach Öster­reich flie­hen. Einige Stun­den später wird das Tor aber wieder geschlos­sen.

Veröf­fent­li­chun­gen
Inter­view mit Peter Lohauß, Partei­vor­stand der Grünen in Berlin (Alter­na­tive Liste):
Dieje­ni­gen, die poli­ti­scher Verfol­gung ausge­setzt sind, müss­ten einen Asyl­an­trag stel­len. Für dieje­ni­gen, die endlich mal keinen Trabi fahren wollen, sondern ein schö­ne­res Auto, hätte das zur Folge, dass sie nicht mehr über­sie­deln könn­ten. Wir wollen die völlige Öffnung der Reise­mög­lich­kei­ten, aber nicht die allge­meine Perspek­tive des Wech­sels der Staats­bür­ger­schaft und des Aufbaus neuer Lebens­ver­hält­nisse hier. Bei diesen DDR-Bürgern muss aber klar sein, dass sie DDR-Bürger blei­ben. Das Ventil der Ausrei­se­mög­lich­keit, wie es jetzt exis­tiert, bestärkt die DDR-Führungin ihrem Kurs und schwächt immer wieder die Oppo­si­tion.
Ihr sagt den Leuten also: Bleibt drüben?
Ja, das sagen wir, als allge­meine Perspek­tive. Wir wollen nicht, dass die schlim­men Verhält­nisse in der DDR dadurch gelöst werden, dass die Menschen indi­vi­du­ell in den Westen rüber­kom­men.
Mit welchem Recht könnt ihr das sagen?
Es ist eine gemein­same Posi­tion der AL, dass wir kein wieder­ver­ei­nig­tes Deutsch­land in der Mitte Euro­pas wollen, sondern zwei deut­sche Staa­ten. Diese Posi­tion haben wir, obwohl wir wissen, dass viele Menschen in der DDR das anders sehen.
Das hört sich an wie die alte Krisen-Theo­rie der K‑Gruppen: Das Ventil Ausreise zu verstop­fen, damit es innen drin explo­diert.
Nicht damit es explo­diert, sondern damit es zu Verän­de­run­gen kommt. Es ist doch in der DDR zu keinen Verän­de­run­gen gekom­men, weil die Möglich­keit immer da war, in den Westen zu gehen.

Sonntag, 20. August 1989

Nach­rich­ten
Wegen des star­ken Anstroms polni­scher Touris­ten entste­hen für West-Berli­ner DDR-Besu­cher lange Warte­zei­ten an den Grenz­über­gän­gen. Der Senat verein­barte deshalb mit der DDR die Einrich­tung eines neuen Über­gangs spezi­ell für Polen in Lich­ten­rade. Die geplante Eröff­nung: 1992.

Veröf­fent­li­chun­gen
Jürgen Kuczyn­ski: Schwie­rige Jahre — mit einem besse­ren Ende?
Der Traum: Ich habe den Nobel­preis bekom­men. Das wurde am Abend bekannt. Gleich morgens kam jemand mit einem Glück­wunsch von Erich. Ich dankte höflich, wie es sich gehört, aber bat ihn, Erich zu sagen, er möchte den Glück­wunsch nicht wie üblich im ND veröf­fent­li­chen lassen; ich würde ihm gleich schrei­ben, warum. “Sehr geehr­ter Genosse Gene­ral­se­kre­tär Erich Honecker: Ich danke Ihnen viel­mals für Ihre freund­li­chen Glück­wün­sche. Aber ich muss mir noch über­le­gen, ob ich den Preis anneh­men soll. Die Folge einer Annahme wäre nämlich das übli­che Hoch­loben des Genos­sen J.K. einer­seits und Selbst­zu­frie­den­heit der Partei­füh­rung mit ihrer Wissen­schafts­po­li­tik ande­rer­seits. Zur Selbst­zu­frie­den­heit aber liegt nicht der mindeste Grund vor.“
Nach­dem ich aufge­wacht war, lag ich noch gegen alle sons­tige Gewohn­heit eine Vier­tel­stunde voll nach­denk­li­cher Freude im Bett. Aber dann sagte ich mir, wie es stets mein Vater bei solchen Träu­men tat: “So gut ist der liebe Gott nun wieder nicht.”

Junge Welt
Vor 21 Jahren, am 21. August 1968, wurden Einhei­ten der Sowjet­ar­mee, der NVA der DDR, der bulga­ri­schen, polni­schen und unga­ri­schen Volks­ar­mee in die CSSR verlegt, um an der Seite der tsche­cho­slo­wa­ki­schen Werk­tä­ti­gen die sozia­lis­ti­schen Errun­gen­schaf­ten in diesem Lande gegen impe­ria­lis­ti­sche und konter­re­vo­lu­tio­näre Angriffe zu schüt­zen. Jedes Jahr aufs neue ist dieses Datum Anlass für einige west­li­che Poli­ti­ker, “Poli­to­lo­gen” und Medien, die Entwick­lung in der CSSR zu entstel­len und eine wüste Kampa­gne gegen den Sozia­lis­mus zu entfa­chen. Was hat sie vor gut zwei Jahr­zehn­ten so sehr getrof­fen, dass sie noch heute wehkla­gen?

Montag, 21. August 1989

Nach­rich­ten
Die SED bittet Moskau erst­mals um Unter­stüt­zung bei der Flücht­lings­pro­ble­ma­tik.

Veröf­fent­li­chun­gen
Der Tages­spie­gel
Wirt­schafts- und Gewerk­schafts­funk­tio­näre machen keinen Hehl daraus, dass sie Unruhe in den DDR-Betrie­ben wächst. Die allge­meine Unzu­frie­den­heit mit den Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen über­trägt sich auf die Stim­mung in den Volks­ei­ge­nen Betrie­ben und lähmt die Arbeits­freude. Wenn ein Kollege am Vortag ein drin­gend benö­tig­tes Ersatz­teil für seinen Trabant wieder nicht bekom­men hat, nutz­ten auch Grün­pflan­zen am Arbeits­platz nichts, um seine Stim­mung zu heben. Entspre­chend sei dann seine Arbeits­leis­tung. Wohl aus diesem Grund hat sich der VEB Carl Zeiss Jena, der sich norma­ler­weise mit ganz ande­ren Dingen abgibt, kürz­lich veran­lasst gese­hen, einen betriebs­in­ter­nen Sonder­ver­kauf von Damen­schlüp­fern zu arran­gie­ren. Diese sind in bestimm­ten Größen zum Ärger vieler Frauen nicht nur in Jena kaum zu bekom­men. Dem Groß­un­ter­neh­men ging es mit seiner einma­li­gen Aktion offen­bar darum, die Arbeits­freude seiner zahl­rei­che weib­li­chen Beleg­schafts­an­ge­hö­ri­gen zu heben. Bei nicht in dem Kombi­nat beschäf­tig­ten Frauen schaffte die Schlüp­fer-Initia­tive indes­sen böses Blut, wie aus der Lokal­presse hervor­ging.

Dienstag, 22. August 1989

Nach­rich­ten
Die Bonner Botschaft in Prag wird geschlos­sen, weil etwa 140 DDR-Bürger darin Zuflucht gesucht haben. Dennoch kommen in den folgen­den Tagen wieder Tausende, die nun über den Zaun in den Garten der Botschaft klet­tern und dort kampie­ren.

240 DDR-Bürger durch­bre­chen erneut die Grenze zwischen Ungarn und Öster­reich, dies­mal jedoch ohne vorbe­rei­tete Abspra­che mit den unga­ri­schen Sicher­heits­be­hör­den.

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Neues Deutsch­land
Gruß­te­le­gramm von Erich Honecker zum 85. Geburts­tag von Deng Xiao­ping: “Unsere Grüße an Sie verbinde ich mit der festen Über­zeu­gung, dass sich die Freund­schaft und das Zusam­men­wir­ken unse­rer Parteien, Staa­ten und Völker zum Nutzen der weite­ren Stär­kung der Posi­tion des Sozia­lis­mus sowie im Inter­esse der Erhal­tung und Festi­gung des Frie­dens weiter­hin entwi­ckeln und vertie­fen werden. Ich wünsche Ihnen, lieber Freund Deng Xiaopeng, beste Gesund­heit, Schaf­fens­kraft und weitere Erfolge in Ihrem segens­rei­chen Wirken zum Wohl des chine­si­schen Volkes und des Frie­dens.”

Mittwoch, 23. August 1989

Nach­rich­ten
Unga­ri­sche Gren­zer und Arbei­ter­mi­li­zen verhin­dern die erneute Flucht von DDR-Bürgern nach Öster­reich. Dabei kommt es zu einer Ausein­an­der­set­zung, bei der ein Ostdeut­scher, bereits zehn Meter auf öster­rei­chi­schem Boden, erschos­sen wird. Von unga­ri­schen Oppo­si­tio­nel­len wird gefor­dert, den DDR-Bürgern poli­ti­sches Asyl zu gewäh­ren.

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Lite­ra­tur­naja Gazeta
Ich wage zu behaup­ten, dass für die meis­ten sowje­ti­schen Touris­ten in Berlin die Mauer ein halb­abs­trak­ter und unin­ter­es­san­ter Gegen­stand war und geblie­ben ist. Nehmen wir an, sie sind mit dem Zug am Ostbahn­hof ange­kom­men und stehen auf dem Bahn­hofs­vor­platz. Linker­hand, weit entfernt, erscheint ein grau­schim­mern­der, fast weißer “Zaun”. Ein sehr hoher Zaun, gründ­lich gebaut und gepflegt. Aber woher sollen sie wissen, dass eben dies die Mauer ist?
Und wenn sie mit dem Flug­zeug gekom­men sind, so wird der Weg vom Flug­ha­fen Schö­ne­feld zur Stadt­mitte sie die Mühlen­straße entlang­füh­ren, und der Zaun wird sie einen Kilo­me­ter lang oder länger beglei­ten. Was dahin­ter ist, bleibt unbe­kannt.
Selbst das Bran­den­bur­ger Tor, zu dem man sie unbe­dingt bringt und so oder so erwähnt, dass dahin­ter die Mauer sei, wird kaum Eindruck auf sie machen, das Unding wird ihnen viel­leicht sogar ein biss­chen gefal­len. Die Mauer sieht hier ziem­lich deko­ra­tiv aus, wie eine Thea­ter­ku­lisse, die die schwe­ren Säulen wirkungs­voll hervor­tre­ten lässt. Auch der Reichs­tag, direkt hinter der Mauer, wirkt wie ein Teil dieser Deko­ra­tion. Er steht hier majes­tä­tisch einsam und ist nicht einge­engt durch andere Bauten. Außer ihm sind hinter der Mauer nur noch die Bäume des Tier­gar­tens und der Himmel zu sehen.
Von der west­li­chen Seite kommt man hier unmit­tel­bar an die Mauer heran, kann sie mit der Hand berüh­ren und ein Auto­gramm hinter­las­sen. Man holt aus der Tasche eine Spray­dose und schreibt, was jedem so einfällt: “Greta, ich liebe dich”, “Frei­heit den unter­drück­ten Völkern”, “Wir atmen alle die selbe Luft”. Oder auch: “Hier war Janny aus Verona.” Es ist einfach, sich hier “künst­le­risch” zu betä­ti­gen. Die Poli­zei greift nicht ein. Die Mauer steht voll und ganz auf dem Gebiet der DDR und ist ihr souve­rä­nes Eigen­tum.

Donnerstag, 24. August 1989

Nach­rich­ten
Die unga­ri­sche Regie­rung lässt die 108 Beset­zer der BRD-Botschaft in Buda­pest nach Öster­reich ausflie­gen. Sofort danach wird die Botschaft geschlos­sen, um eine erneute Inbe­sitz­nahme zu verhin­dern. Die DDR reagiert wie zu erwar­ten mit dem Protest, dass sie ihre souve­rä­nen Rechte sowie die Vertrags­pflich­ten durch Ungarn verletzt sieht. Aus Moskau kommt keine Reak­tion.

Veröf­fent­li­chun­gen
STERN-Inter­view mit Günter Gaus
Es stecken viel mehr Menschen als früher den Kopf aus der priva­ten Nische und versu­chen, sich einzu­mi­schen ins öffent­li­che Leben. Das passiert im Seiten­schiff der Kirche, das passiert an der Basis der SED, wo sich auf Partei­ver­samm­lun­gen Wider­spruch und sogar Hohn arti­ku­lie­ren, wenn die von oben vorge­ge­be­nen Themen disku­tiert werden. Nicht zuletzt gibt es eine gewach­sene Demons­tra­ti­ons­be­reit­schaft vieler Menschen. Es gibt größe­ren Frei­mut in der DDR bei gerin­ge­rem Risiko, den Behör­den unan­ge­nehm aufzu­fal­len. Frei­heit beginnt mit der Vermin­de­rung von Angst.
Aber das sind doch fast alles Frei­hei­ten, die sich die Menschen selbst erkämpft haben.
Rich­tig. Es gibt bisher kaum Verän­de­run­gen in den poli­ti­schen Struk­tu­ren. Und keine zuver­läs­sige kriti­sche Öffent­lich­keit, höchs­tens spora­disch, etwa auf Kirchen­ta­gen.
Flüch­ten die Leute heute nicht mehr wegen des größe­ren Wohl­stands in den Westen, sondern weil sie merken, dass an den Macht­ver­hält­nis­sen zu Hause nichts zu ändern ist?
Die Motive sind viel­schich­tig. Bei 80.000 Ausrei­sen­den gibt es 80.000 Gründe. Es gibt ein Ermat­ten an der eige­nen Exis­tenz. Man hat sich müde gewar­tet auf schnelle Verbes­se­run­gen, man hat nicht mehr die Geduld für kleine Schritte. Die Leute sind konfron­tiert mit einer stink­st­re­be­li­gen, verant­wor­tungs­scheuen Büro­kra­tie. Und die Leute haben es einfach satt, dass ihnen die DDR-Medien immer das Gegen­teil dessen erzäh­len, was sie selbst jeden Tag erfah­ren. Die SED braucht die Courage, die Reise-Erleich­te­run­gen fort­zu­füh­ren.
Wird sie dann auch irgend­wann die Courage haben, die Mauer abzu­rei­ßen?
Wenn die Mauer ohne vorhe­rige Refor­men in der DDR abge­ris­sen würde, wäre das Miss­trauen vieler DDR-Bürger ihrem eige­nen Staat gegen­über so groß, dass sie massen­haft zu uns kämen, weil sie sich nicht darauf verlas­sen woll­ten, dass die Mauer nicht über Nacht wieder errich­tet wird.

Freitag, 25. August 1989

Nach­rich­ten
Der unga­ri­sche Minis­ter­prä­si­dent Nemeth und sein Außen­mi­nis­ter Horn flie­gen in gehei­mer Mission nach Bonn zu Kohl und Genscher. Nemeth eröff­net das Gespräch: “Herr Bundes­kanz­ler, Ungarn hat sich entschie­den, den DDR-Bürgern die freie Ausreise zu erlau­ben. Wir haben uns dazu vor allem aus huma­ni­tä­ren Grün­den entschie­den. Die Bundes­re­gie­rung gewährt Ungarn im Gegen­zug, jedoch zeit­lich versetzt, einen zusätz­li­chen Kredit und verspricht die Aufhe­bung des Visa­zwangs und poli­ti­sche Hilfe beim ange­streb­ten Beitritt Ungarns in die EU (damals noch EG).

Veröf­fent­li­chun­gen
Neues Deutsch­land
Die sich von Tag zu Tag fort­set­zende Front­be­richt­erstat­tung über den Aufent­halt von DDR-Bürgern in diplo­ma­ti­schen Vertre­tun­gen der BRD im Ausland, über Ausrei­sen von DDR-Bürgern ist darauf ange­legt, Menschen zu verfüh­ren und in ein unge­wis­ses Schick­sal zu trei­ben. Dabei wird das West­fern­se­hen skru­pel­los und unver­hoh­len dazu benutzt, mit orga­ni­sa­to­ri­schen Regie-Anwei­sun­gen Bürger der DDR zum Verlas­sen ihrer Heimat anzu­stif­ten.

Die Welt
Der Autor kommt zu dem Schluss, dass der Druck der außen­po­li­ti­schen Ereig­nisse — die Verän­de­run­gen in der Sowjet­union — und der Druck, der von der eige­nen Bevöl­ke­rung ausgeht, so groß gewor­den ist, dass die Ost-Berli­ner Führung mit einer Lähmung reagie­ren wird. Sie ist nicht mehr hand­lungs­fä­hig, weil ihre gesamte ideo­lo­gi­sche Grund­lage in Frage gestellt worden ist. Die neue Londo­ner Analyse ist umso bemer­kens­wer­ter, als sie schon vor der gegen­wär­ti­gen Flücht­lings­welle abge­schlos­sen wurde.
Der unga­ri­sche Partei-Gene­ral­se­kre­tär Karoly Grosz hat schon vor eini­ger Zeit davon gespro­chen, ein wirk­lich radi­ka­ler Wandel Ost-Berli­ner Poli­tik sei auch ein biolo­gi­sches Problem. Dieser unver­blümte Hinweis auf die Alters­struk­tur des SED-Polit­bü­ros, dessen Alters­durch­schnitt 70 Jahre beträgt, ist in letz­ter Zeit häufi­ger im Westen aufge­grif­fen worden. Der Autor meint, die ideo­lo­gi­sche Verkrus­tung der DDR-Führung, die letz­ten Endes jeden radi­ka­len Kurs­wech­sel verhin­dern wird, sei auch typisch für die Funk­tio­näre im Alter von 50 bis 70 Jahren. Sie müss­ten 30 bis 40 Jahre ihres eige­nen Lebens verleug­nen, wenn sie eine völlig neue Poli­tik einlei­ten soll­ten.

Samstag, 26. August 1989

Nach­rich­ten
Die unga­risch-öster­rei­chi­sche Grenze wird verstärkt über­wacht, um eine neue Massen­flucht zu verhin­dern. Moskau fordert die Bundes­re­gie­rung auf, die DDR-Staats­bür­ger­schaft zu achten.

Veröf­fent­li­chun­gen
Der Tages­spie­gel
Die härtere Gang­art der unga­ri­schen Behör­den hatte bereits unmit­tel­bare Folgen: In der Nacht zum Frei­tag trafen wesent­lich weni­ger DDR-Flücht­linge in Öster­reich ein, als in den vergan­ge­nen Tagen. Der Versuch einer Gruppe von 300 DDR-Bürgern, die Grenze am Mitt­woch vor laufen­den Fern­seh­ka­me­ras eines bundes­deut­schen Privat­sen­ders zu über­que­ren, war für Ungarns Gren­zer offen­bar der Trop­fen, der das Fass zum Über­lau­fen brachte. Die Gruppe wurde fest­ge­nom­men.

Der Frust in der DDR nimmt zu, denn Ausrei­sende und Flücht­linge hinter­las­sen große Lücken in Gesell­schaft und Wirt­schaft. Gravie­rende Lücken tun sich im medi­zi­ni­schen Bereich auf. Kran­ken­haus-Statio­nen muss­ten dem Verneh­men nach schon schlie­ßen. In eini­gen Kran­ken­häu­sern verse­hen nur noch ganz junge Assis­tenz­ärzte und ältere Medi­zi­ner ihren Dienst. In eini­gen Städ­ten und Regio­nen müssen DDR-Bürger weit reisen, um einen Spezia­lis­ten zu sehen. In Jena können schon nicht mehr die Busse nach dem alten Fahr­plan verkeh­ren, da Busfah­rer fehlen.
Einige Über­sied­ler plagt auch nach dem Wegge­hen das schlechte Gewis­sen. So über­legte sich eine Kran­ken­schwes­ter, die von ihrer geneh­mig­ten West­reise nicht in die DDR zurück wollte, ob sie das ihren Pati­en­ten antun könne. Ihre Gewis­sens­bisse legte sie aber ab, als sie ihren Chef­arzt in West-Berlin im Bus wieder­traf.

Sonntag, 27. August 1989

Veröf­fent­li­chun­gen
Der Tages­spie­gel
Die SED hat ihren Führungs­an­spruch bekräf­tigt und sich erneut gegen Refor­men nach polni­schem und unga­ri­schem Vorbild ausge­spro­chen. In einem gestern im SED-Zentral­or­gan “Neues Deutsch­land” veröf­fent­lich­ten Grund­satz­bei­trag zur Vorbe­rei­tung des zwölf­ten Partei­tags im nächs­ten Früh­jahr wurde die führende Rolle der kommu­nis­ti­schen Partei als “objek­tive Notwen­dig­keit” bezeich­net. Der Autor vertritt in seinem an der Partei­hoch­schule “Karl Marx” gehal­te­nen Vortrag die Auffas­sung, eine Symbiose von Sozia­lis­mus und Kapi­ta­lis­mus in einer neuen Gesell­schafts­ord­nung sei abso­lut ausge­schlos­sen.

Berli­ner Morgen­post
Den Flücht­lin­gen und Über­sied­lern aus der DDR schlägt bei ihrer Ankunft in der Bundes­re­pu­blik zurzeit eine beispiel­lose Welle der Hilfs­be­reit­schaft entge­gen. Bemer­kens­wert ist nach den bishe­ri­gen Erfah­run­gen mit den Neubür­gern aus der DDR deren ausge­präg­ter Wille zur Eigen­in­itia­tive. Sie sind offen­sicht­lich so sehr der Gänge­lung in ihrer alten Heimat müde, dass sie in der neuen, von persön­li­cher Frei­heit gepräg­ten Umge­bung, gera­dezu danach drän­gen, ihre Zukunft nun selbst zu gestal­ten.

Montag, 28. August 1989

Nach­rich­ten
Während eines Menschen­rechts­se­mi­nars in der Berli­ner Golga­tha-Kirche stellt Markus Meckel den Aufruf zur Grün­dung einer Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Partei in der DDR vor. Der Aufruf wird von Meckel, Ibra­him Böhme, Martin Gutzeit und Arndt Noack unter­zeich­net.

Veröf­fent­li­chun­gen
Süddeut­sche Zeitung — Bericht über ein Tref­fen zwischen Stefan Heym und Egon Bahr in Nieder­sach­sen
Heym würde, wenn er mit Erich Honecker zu reden hätte, mit dem reden über die versäum­ten Gele­gen­hei­ten zur Reform des DDR-Sozia­lis­mus. Was jetzt bei ihm zuhause zusam­men­bre­che, sei nicht der Sozia­lis­mus als Idee, sondern der Stali­nis­mus und dessen Struk­tu­ren. Was gesche­hen soll? “Frei­heit der Kritik muss kommen, wenn wir etwas bewir­ken wollen” sagt Heym. Frei­heit öffent­li­cher Kritik meint er — in Zeitun­gen, in den Medien. Wünschens­wert wäre das wohl, meint Bahr. Mitt­ler­weile lebe die DDR-Gesell­schaft im Stande der Schi­zo­phre­nie; täglich würden den Menschen zwei Wahr­hei­ten präsen­tiert — die DDR-Wahr­heit in den dorti­gen Medien und unsere Wahr­heit in den west­li­chen Medien.
Was wird in zehn, zwan­zig Jahren in Deutsch­land sein? Stefan Heym verwei­gert darauf die Antwort. Er wolle keine Prophe­zei­un­gen machen, für die er seinen Alters wegen höchst­wahr­schein­lich nicht mehr einzu­ste­hen hätte. Bahr hinge­gen ließ eine Version anklin­gen, die frei­lich nichts mit Wieder­ver­ei­ni­gung nach herkömm­li­chem Muster zu schaf­fen hat: “Es ist Quatsch, verant­wor­tungs­los, heute von Wieder­ver­ei­ni­gung zu reden. Keine Regie­rung in Ost oder West würde auch nur einen Finger für die Wieder­ver­ei­ni­gung heben.”

Dienstag, 29. August 1989

Nach­rich­ten
Der Berli­ner SPD-Poli­ti­ker Körting fordert in einem Posi­ti­ons­pa­pier seine Partei zu einer illu­si­ons­lo­sen Deutsch­land-Poli­tik auf. Besu­che bei Honecker seien eine “Reise wie mit der Zeit­ma­schine in die Vergan­gen­heit.” Statt­des­sen spricht er sich für Kontakte mit oppo­si­tio­nel­len Grup­pen aus. Gleich­zei­tig fordert er einen Stopp der Flucht­be­we­gung und die Aner­ken­nung der DDR-Staats­bür­ger­schaft, weil nur so in der DDR eine Demo­kra­ti­sie­rung entste­hen könne. Der CDU-Oppo­si­ti­ons­füh­rer Diep­gen spricht von einem “Skan­dal­pa­pier.”

Günter Schab­ow­ski in der Sitzung des SED-Polit­bü­ros:
“Der Gegner hat doch ein großes Konzept, er will bei uns alles zerschla­gen. Sie wollen doch, dass wir den harten Rund­um­schlag führen. Wir müssen den Feind angrei­fen. Das ist der Impe­ria­lis­mus in der BRD. Das sind die eigent­li­chen Schul­di­gen. Nicht zuerst auf die Verlei­te­ten rumha­cken, aber den Verrat müssen wir als solchen brand­mar­ken. Das ist auch ein Reflex der der Selbst­auf­lö­sungs-Tenden­zen im Sozia­lis­mus, den Menschen wird die Perspek­tive genom­men. Deshalb kommen Paro­len des Gegners zum Teil an. Was die sozia­lis­ti­schen Länder betrifft, müssen wir an allem anknüp­fen, was sich noch bietet. Wir soll­ten auch die Versor­gungs­frage beach­ten. Nicht lamen­tie­ren, sondern vor der eige­nen Tür kehren.”

Mittwoch, 30. August 1989

Nach­rich­ten
DDR-Betriebe schi­cken Mitar­bei­ter nach West-Berlin, um dort DDR-Mark in DM zu wech­seln, da sie Devi­sen brau­chen. Darauf­hin fällt der Kurs in den Wech­sel­stu­ben auf 8,75 DM für 100 Mark.

Veröf­fent­li­chun­gen
Bild
Ungarn: 20.000 brechen durch. Noch diese Woche größte Flucht aller Zeiten. Schon seit zwei Wochen kommen jeden Nacht auf dem Bahn­hof Passau zwei Züge mit bis 300 DDR-Flücht­lin­gen an. In der DDR enden die Ferien am 31. August, dann ist nach Exper­ten­mei­nung nicht mehr mit einem nennens­wer­ten Zustrom von Flücht­lin­gen zu rech­nen. Die Ungarn aber wollen nicht, dass die schät­zungs­weise 20.000 Ausrei­se­wil­li­gen noch Wochen und Monate im Land blei­ben.

MfS Intern
MfS-Lage­ein­schät­zung für die Jahres­pla­nung 1990:
In der Erkennt­nis der bishe­ri­gen weitest­ge­hen­den Wirkungs­lo­sig­keit der Unter­grund-Akti­vi­tä­ten orien­tie­ren sich die Inspi­ra­to­ren und Orga­ni­sa­to­ren poli­ti­scher Unter­grund-Tätig­keit stär­ker als bisher auf die Suche nach geeig­ne­ten Verbin­dun­gen und Einfluss­po­si­tio­nen im Staats­ap­pa­rat, in der Partei, der NVA sowie den Schutz- und Sicher­heits­or­ga­nen. Sie verfol­gen lang­fris­tig das Ziel, über derar­tige Verbin­dun­gen und Posi­tio­nen Einfluss auf staat­li­che und gesell­schaft­li­che Prozesse zu bekom­men, die innere Stabi­li­tät der DDR zu unter­gra­ben und damit Voraus­set­zun­gen für gesell­schaft­li­che Verän­de­run­gen zu schaf­fen. Es zeigt sich, dass die harten Kräfte des poli­ti­schen Unter­grun­des eine verfes­tigte feind­li­che Haltung haben und nicht erzieh­bar sind.
Es treten verstärkt ideo­lo­gi­sche Probleme und Schwan­kun­gen bei im Unter­grund einge­setz­ten IM auf, die teil­weise bis zu Dekon­spi­ra­tio­nen bzw. der Ableh­nung einer weite­ren Zusam­men­ar­beit mit dem MfS führen. Aus den glei­chen Grün­den und Proble­men erge­ben sich zuneh­mend Schwie­rig­kei­ten bei der Gewin­nung neuer IM für einen Einsatz im Unter­grund.

Donnerstag, 31. August 1989

Nach­rich­ten
Der unga­ri­sche Außen­mi­nis­ter Gyula Horn kommt auf Einla­dung nach Ost-Berlin. Er trifft sich mit dem DDR-Außen­mi­nis­ter Oskar Fischer und Günter Mittag, dem ZK-Sekre­tär für Wirt­schaft.

Veröf­fent­li­chun­gen
Hori­zont Inter­na­tio­nal — Erin­ne­run­gen von Gyula Horn
Fischer hat nur wieder­holt, dass dieje­ni­gen, die in die BRD ausrei­sen möch­ten, keine guten Leute seien und die Mehr­heit der Gesell­schaft sie sogar verur­teile. Ich gab Fischer zu verste­hen, dass ich nicht wüsste, weshalb man uns über­haupt nach Berlin einge­la­den hat. Kein neuer Vorschlag. Keine Lösung. Keine Konstruk­ti­vi­tät.
Das hat Fischer nicht gefal­len. Noch weni­ger, als ich ihm sagte, dass wir den Schritt, den wir plan­ten, auch tun werden. Ich teilte ihm mit, dass wir am 4. Septem­ber die Gültig­keit entspre­chen­der Punkte des Abkom­mens vom 1969 aufhe­ben. Wir werden die DDR-Bürger in die Länder ausrei­sen lassen, die bereit sind, sie mit DDR-Pass zu empfan­gen, egal um welches Dritt­land es sich handelt. Fischer darauf: Das ist ein schreck­li­cher Vorschlag. Ich hielt ihm entge­gen, dies sei keines­wegs ein Vorschlag, sondern unsere Entschei­dung, über die ich nur infor­miere. Darüber wurde er noch nervö­ser. Wir kamen nicht mehr weiter. Günter Mittag wollte mich empfan­gen. Mittag bat uns, wenigs­tens den Termin, den 4. Septem­ber, zu verschie­ben. Ich stimmte der Verschie­bung um eine Woche sofort zu.

MfS Intern
Aus einer Dienst­be­spre­chung der Staats­si­cher­heit:
Stasi-Minis­ter Erich Mielke

Also sie aner­ken­nen die Vorzüge des Sozia­lis­mus und alles, was der Sozia­lis­mus bietet an Vorzü­gen, aber trotz­dem wollen sie weg, weil, das betrach­ten sie als Selbst­ver­ständ­lich­keit. Der Sozia­lis­mus ist gut; da verlan­gen sie immer mehr. So ist die Sache. Ich denke immer daran, als wir erleb­ten, ich konnte auch keine Bana­nen essen und kaufen. Nicht, weil es keine gab, sondern weil wir kein Geld hatten, sie zu kaufen. Ich meine, das soll man nicht so schlecht­hin nehmen. Das soll man ideo­lo­gisch nehmen, die Einwir­kung auf die Menschen.
Gene­ral­leut­nant Hummitzsch, Chef der Stasi in Leip­zig
Was die Frage der Macht betrifft, Genosse Minis­ter, wir haben die Sache fest in der Hand, sie ist stabil, aber es ist außer­or­dent­lich hohe Wach­sam­keit erfor­der­lich. Es ist tatsäch­lich so, dass aus einer zufäl­lig entstan­de­nen Situa­tion hier und da ein Funke genügt, um etwas in Bewe­gung zu brin­gen.
Oberst Dangrieß, Chef der Stasi in Jena
Genosse Minis­ter, ich würde sagen, natür­lich ist die Gesamt­lage stabil. Aller­dings sind wegen der Ungarn-Probleme viele auch progres­sive Kräfte nach­denk­lich.
Mielke
Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?
Dangrieß
Der ist morgen nicht, Genosse Minis­ter, der wird nicht statt­fin­den, dafür sind wir ja auch da.

Freitag, 1. September 1989

Nach­rich­ten
Das DDR-Außen­mi­nis­te­rium errich­tet in Ungarn Wohn­wa­gen als “mobile konsu­la­ri­sche Bera­tungs­stel­len”, um in der Nähe der Flücht­lings­la­ger Rück­keh­rer mit dem Verspre­chen der Straf­frei­heit zu gewin­nen. Während­des­sen verstärkt die Stasi dort ihre Bemü­hun­gen, die Iden­ti­tät der Flücht­linge heraus­zu­krie­gen.

Der sowje­ti­sche Außen­mi­nis­ter Eduard Sche­ward­n­adse antwor­tet der DDR-Führung auf deren Anfrage zur Unter­stüt­zung in der Flücht­lings­frage, dass die Versu­che von DDR-Bürgern, ille­gal in die BRD zu gelan­gen, nichts mit dem Verhält­nis zwischen der UdSSR und der DDR zu tun habe.

Veröf­fent­li­chun­gen
Berli­ner Zeitung
Zwischen den Außen­mi­nis­tern der DDR und Ungarns, Oskar Fischer und Gyula Horn, fand gestern in Berlin ein freund­schaft­li­ches Gespräch statt. Dabei führ­ten die Minis­ter einen Meinungs­aus­tausch über Fragen der Bezie­hun­gen DDR/Ungarn. Von DDR-Seite wurde darauf hinge­wie­sen, dass der Weg, sich über diplo­ma­ti­sche Vertre­tun­gen ande­rer Staa­ten Ausrei­se­mög­lich­kei­ten zu erzwin­gen, nicht gang­bar ist.

Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung
Am Donners­tag war über­ra­schend der unga­ri­sche Außen­mi­nis­ter Horn in Ost-Berlin mit DDR-Außen­mi­nis­ter Fischer zusam­men­ge­kom­men. Gegen­stand der Unter­re­dung waren die ausrei­se­wil­li­gen Deut­schen aus der DDR. In einem Bericht von Radio Buda­pest wurde kriti­siert, dass ADN nur über die Darle­gun­gen Fischers berich­tet und nicht auch die Haltung Horns darge­legt habe. Die Bundes­re­gie­rung befürch­tet unter­des­sen, dass sich die Ausreise vieler DDR-Deut­scher aus Ungarn verzö­gern wird. Grund hier­für ist das Bekannt­wer­den wich­ti­ger Details des mit den Ungarn geheim verab­re­de­ten Unter­neh­mens. Die öster­rei­chi­sche Bundes­bahn gab bekannt, dass sie von der Bundes­re­gie­rung gebe­ten worden sei, für den Trans­port von Flücht­lin­gen aus Ungarn in die Bundes­re­pu­blik 50 Eisen­bahn­wa­gen zur Verfü­gung zu stel­len. In der Bundes­re­pu­blik hat das Bekannt­wer­den wich­ti­ger Details, die auf Zeit­punkt und Umfang der von Bonn bisher strikt geleug­ne­ten Aktion schlie­ßen lassen, zu Entset­zen geführt.

Samstag, 2. September 1989

Nach­rich­ten
Der stell­ver­tre­tende unga­ri­sche Außen­mi­nis­ter Istvan Öszi erklärt, Buda­pest und Bonn hätten keiner­lei Geheim­pakt abge­schlos­sen, wonach Ungarn “wirt­schaft­li­che Abgel­tung” aus Bonn für die legale Ausreise der DDR-Flücht­linge nach Öster­reich erhal­ten solle. Ein derar­ti­ger “Menschen­han­del” wäre untrag­bar.

In eini­gen Bundes­län­dern wird die Schlie­ßung von Schu­len erwo­gen, um dort die DDR-Flücht­linge unter­zu­brin­gen.

Die Konfe­renz der Evan­ge­li­schen Kirchen in der DDR bittet ange­sichts der Ausrei­se­welle “erneut und dring­lich” um “längst fällige Verän­de­run­gen” in der Gesell­schaft.

Veröf­fent­li­chun­gen
Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung
Der Schuh­ma­cher der Produk­ti­ons­ge­nos­sen­schaft wimmelt alle Aufträge ab. Die Hälfte der Kolle­gen sei in Urlaub, aber niemand wisse, ob sie nicht in Wirk­lich­keit über alle Berge seien. Auch die Friseuse ist nicht da. Sie sei in die Ferien gefah­ren, erklärt die Leite­rin des Salons. “Nach Ungarn”, flüs­tert eine Kolle­gin von hinten und macht dazu ein viel­sa­gen­des Gesicht. Für Freunde, Nach­barn und Kolle­gen, die im Augen­blick in Ungarn sind, legt in der DDR niemand mehr die Hand ins Feuer.
Und wer zurück­kommt, ist beinahe über­rascht, nicht von Erich Honecker persön­lich mit Hand­schlag begrüßt zu werden. “Was kontrol­lie­ren die denn da vorne so lange?” ruft es hinten in einer Schlange von Flug­gäs­ten, die, aus Buda­pest kommend, auf dem Flug­ha­fen Schö­ne­feld gelan­det sind und sich nun vor dem Zoll anstel­len müssen: “Die sollen uns lieber einen Blumen­strauß über­rei­chen, statt die Koffer zu durch­wüh­len.” Der, der dies sagt, fühlt sich offen­bar als eine Art tragi­scher Held. Schließ­lich ist er von der Urlaubs­reise an den Plat­ten­see in die Heimat zurück­ge­kehrt und hat nicht, wie so viele seiner Lands­leute, versucht, die Gele­gen­heit beim Schopfe zu ergrei­fen und sich in den Westen abzu­set­zen.
“Glas­nost und Pere­stroika” — das sind bei uns die Ausreise. Der Schrift­stel­ler Stefan Heym hat mit diesem Satz das ganze Dilemma der DDR beschrie­ben.

Der Tages­spie­gel
Zwei Kinder, die sich in der Stän­di­gen Vertre­tung Bonns in Ost-Berlin befin­den, werden den heuti­gen Sonn­abend wohl nicht verges­sen. In einer “Ersatz­ein­schu­lungs­feier” werden sie ihren Schul­be­ginn feiern. Ein Lehrer, der sich unter den 116 Zuflucht­su­chen­den befin­det, hat einen Grund­schul­un­ter­richt bis zur 7. Klasse orga­ni­siert.

Sonntag, 3. September 1989

Nach­rich­ten
Um die zuneh­mende Welle von DDR-Flücht­lin­gen unter­zu­brin­gen, werden außer­ge­wöhn­li­che Maßnah­men getrof­fen. So werden in zum Beispiel West­ber­lin leer­ste­hende Wohnun­gen beschlag­nahmt. Abge­ord­nete rufen die Bevöl­ke­rung dazu auf, neben leeren Wohnun­gen auch andere Einrich­tun­gen zu melden, in denen die Über­sied­ler vorüber­ge­hend unter­ge­bracht werden könn­ten.

Veröf­fent­li­chun­gen
Markus Wolf in “Im eige­nen Auftrag“
Die Ausrei­se­welle über Ungarn und die Botschaf­ten der BRD in Buda­pest, Prag und Berlin schwillt weiter an und entwi­ckelt sich zum Dauer­krimi im West­fern­se­hen. Unsere Führung ist wie gelähmt. Honecker krank, die Medien reagie­ren mit Krampf, sie brin­gen Treue-Bekun­dun­gen und angeb­li­che Leser-Proteste gegen einen Vorgang, über den sie bislang gar nicht berich­tet haben. Dazu die immer verwir­ren­dere Entwick­lung in der Sowjet­union, die Regie­rungs­bil­dung in Polen mit Soli­dar­nosc-Premier Mazowiecki an der Spitze, der Auflö­sung der USAP in Ungarn.
Was Wunder, dass der Glaube vor allem junger Menschen an die Zukunft des “real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus” schwin­det und Bundes­kanz­ler Kohl wie ein Sieger der Geschichte schwa­dro­niert.

Montag, 4. September 1989

Nach­rich­ten
In Leip­zig demons­trie­ren nach einem Frie­dens­ge­bet in der Niko­lai-Kirche 1.200 Bürger, viele rufen: “Wir wollen raus!”. Bei einer Pres­se­kon­fe­renz auf der Leip­zi­ger Messe fordert der Regie­rende Bürger­meis­ter von West-Berlin, Walter Momper, die DDR solle schnellst­mög­lichst Refor­men erlas­sen.

Veröf­fent­li­chun­gen
Pfar­rer Fried­rich Magi­rius im Frie­dens­ge­bet
Wer auf Vernunft und guten Willen setzt, sucht das Gespräch, nicht ohne das Element, das Chris­tus gestif­tet hat. Versöhnung.Weil wir uns unse­rer Geschichte des Krie­ges und der Nach­kriegs­zeit mit all ihren Fehlern und ihrer Schuld stel­len, werden wir uns bei aller Respek­tie­rung der Tren­nung von Kirche und Staat nicht auf einen inner-kirch­li­chen Bereich begren­zen lassen.

Pfar­rer Schor­lem­mer in der Refor­mier­ten Kirche in Leip­zig
Die Mündel flie­hen aus dem Haus des Vormunds. Ich wüsste schon gerne, wie viele von ihnen noch am 7. Mai ihre Stim­men den Kandi­da­ten der Natio­na­len Front vertrau­ens­voll gege­ben haben, oder sind in Ungarn alles Nicht­wäh­ler und Nein­sa­ger? Wir werden nur gesun­den, wenn wir uns erneu­ern, außen und innen. Solange aber regie­rungs­zei­tungs­amt­lich die Flücht­linge in Anfüh­rungs­zei­chen gesetzt, als verführ­bare Objekte darge­stellt, als Verrä­ter klas­si­fi­ziert werden, deren Wert an den vom Staat in sie inves­tier­ten Geldern bemes­sen wird, die sie jetzt nicht mehr dem Staat zurück­ge­ben, und nicht als Perso­nen, die wir verlo­ren haben, so lange wird der Mensch staat­li­ches Objekt der Begierde blei­ben.

Dienstag, 5. September 1989

Nach­rich­ten
Die DDR-Nach­rich­ten­agen­tur ADN meldet Straf­frei­heit für ausrei­se­wil­lige DDR-Bürger in Ungarn, wenn sie zurück­keh­ren. Das Vorspre­chen in den Heimat­or­ten gelte dann als Ausrei­se­an­trag.

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Der Spie­gel
Bislang gibt es in der SED-gesteu­er­ten Öffent­lich­keit nicht einmal eine Andeu­tung, dass die SED-Oberen auch nur über­le­gen würden, wo ihre eige­nen Fehler liegen und warum sie es nicht vermocht haben, einer Gene­ra­tion, die im Sozia­lis­mus groß gewor­den ist, so viel Iden­ti­tät und Selbst­be­wusst­sein zu vermit­teln, dass sie bis auf ein paar Queru­lan­ten im Land blei­ben.

Mittwoch, 6. September 1989

Nach­rich­ten
Mitt­ler­weile haben sich in unga­ri­schen Lagern fast 6.000 DDR-Flücht­linge ange­sam­melt. Da ihre Lage sehr unklar ist und sie keine Ausrei­se­ga­ran­tie haben, versu­chen wieder viele von ihnen, ille­gal über die Grenze nach Öster­reich zu flie­hen. Gleich­zei­tig haben zwei DDR-Diplo­ma­ten in Buda­pest ihr Büro in einem Wohn­wa­gen eröff­net, um DDR-Bürger zu finden, die bereit sind, in ihre Heimat­orte zurück­zu­keh­ren und dort einen Ausrei­se­an­trag zu stel­len.

Veröf­fent­li­chun­gen
Junge Welt
Warum berich­tet die “Junge Welt” nicht über die Demons­tra­tion von mehre­ren hundert Leuten am Montag abend in der Leip­zi­ger Innen­stadt, wurden wir gestern von einem Leser am Tele­fon gefragt.
Die Antwort ist einfach: Weil dieje­ni­gen, die sich da im Anschluss an einen Gottes­dienst (!) zusam­men­rot­te­ten, uns, die Junge Welt, nicht infor­miert hatten, dass sie in Leip­zig eine staats­feind­li­che Aktion gegen die DDR anzet­teln wollen. Wie anders als staats­feind­lich soll man es denn nennen, wenn dort Rufe laut werden wie “Mauer weg” oder “Weg mit den Kommu­nis­ten”. Das sind Worte gegen die Gesetze der DDR, gegen die Verfas­sung, das ist Verleum­dung von Millio­nen Menschen, die unse­ren Staat mit aufbau­ten und aufbauen, die flei­ßig arbei­ten, die im Gegen­satz zu Ausrei­ßern gern in unse­rer Repu­blik leben und diese, unge­stört von Egois­ten und poli­ti­schen Rowdys, immer attrak­ti­ver und freund­li­cher machen wollen.
Erfah­ren haben wir von dieser Provo­ka­tion aus dem West­fern­se­hen, das auf seiner tägli­chen Suche nach anti­so­zia­lis­ti­schen Elemen­ten wieder man recht­zei­tig von seinen eige­nen Statis­ten einge­la­den worden war. Auf den Bildern war frei­lich auch das Entschei­denste zu sehen: Stören­friede haben bei uns keine Chance! Unsere Genos­sen der VP und ande­rer Schutz- und Sicher­heits­or­gane haben entschlos­sen gehan­delt und verhin­dert, dass der Aufruf zur Verlet­zung der Gesetze der DDR öffent­lich verbrei­tet wird — was die West­me­dien ja schon zur Genüge tun. Und verhin­dert wurde auch, dass sich Bruta­li­tä­ten und Unver­schämt­hei­ten gegen unsere Genos­sen auswei­ten. Darüber kann die Junge Welt nur so berich­ten: Danke, Genos­sen, für eure Wach­sam­keit.

Donnerstag, 7. September 1989

Nach­rich­ten
Horst Neubauer, Leiter der Stän­di­gen Vertre­tung der DDR in der Bundes­re­pu­blik, fordert vom Bundes­kanz­ler­amt die “unver­züg­li­che Einstel­lung der Hetz- und Verleum­dungs-Kampa­gne”.

In der Bonner Botschaft in Prag drän­gen sich während­des­sen bereits 300 DDR-Bürger.

Auf dem Alex­an­der­platz in Berlin-Mitte versu­chen DDR-Bürger­recht­ler eine Demons­tra­tion durch­zu­füh­ren. Sie wollen damit gegen die Wahl­ma­ni­pu­la­tion vom 7. Mai protes­tie­ren. Die Demons­tra­tion wird jedoch von Sicher­heits­kräf­ten gewalt­sam aufge­löst, 59 Perso­nen werden fest­ge­nom­men. Gleich­zei­tig werden west­deut­sche Jour­na­lis­ten daran gehin­dert, den Platz zu betre­ten.

MfS Intern
Stasi-Gene­ral­ma­jor Felber bei einer MfS-Tagung
Die Quali­tät der poli­ti­schen Führungs­tä­tig­keit muss in erster Linie daran gemes­sen werden, wie die erfor­der­li­chen Wirkun­gen in den Kollek­ti­ven erzielt werden. Das Letz­tere wird auch deshalb immer notwen­di­ger, weil auch in unse­ren Reihen immer deut­li­cher wird, dass eben nicht nur das Partei­kol­lek­tiv auf unsere Genos­sin­nen und Genos­sen einwirkt. Sie werden in ihrer tsche­kis­ti­schen Arbeit mit der Ideo­lo­gie des Fein­des, mit ideo­lo­gi­schen Unklar­hei­ten und Frage­stel­lun­gen, mit Mängeln, Miss­stän­den und Fehlern konfron­tiert.
Im Frei­zeit­be­reich wirkt auch das auf sie ein, was unsere Werk­tä­ti­gen bewegt. Und machen wir uns nichts vor, es setzen sich nicht wenige Genos­sin­nen und Genos­sen den Werk­tä­ti­gen der west­li­chen Massen­me­dien gewollt aus.

Mittwoch, 8. September 1989

Nach­rich­ten
In der Stän­di­gen Vertre­tung der Bundes­re­pu­blik in Ost-Berlin gelingt es den DDR-Behör­den, die 117 Zufluchts­su­chen­den davon zu über­zeu­gen, dass sie mit einer anwalt­li­chen Betreu­ung eine reale Chance zur lega­len Ausreise bekom­men. Die DDR-Bürger verlas­sen darauf­hin die Vertre­tung, die darauf­hin sofort geschlos­sen wird, um eine erneute Flucht von DDR-Bürgern zu verhin­dern.

Erst­mals druckt die staat­li­che Presse in der Tsche­cho­slo­wa­kei BRD-freund­li­che Arti­kel, was als vorsich­tige Annä­he­rung und psycho­lo­gi­sche Vorbe­rei­tung für eine huma­ni­täre Lösung des Flücht­lings­pro­blems gewer­tet wird. Während­des­sen werden die Flücht­linge in der Prager BRD-Botschaft in Zelten unter­ge­bracht, nach­dem im Botschafts­ge­bäude sämt­li­che Räume belegt sind.

Veröf­fent­li­chun­gen
Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung
“Frei­heits­ro­sen” aus dem Draht des Eiser­nen Vorhangs stellt ein öster­rei­chisch-unga­ri­sches Gemein­schafts­un­ter­neh­men her. Die Firma, an der auch die unga­ri­sche Armee betei­ligt ist, kaufte ein 50 Kilo­me­ter langes Stück des Grenz­zauns. Nach den Vorstel­lun­gen des Unter­neh­mens soll die “einfa­che Version” der “Frei­heits­rose” für umge­rech­net 10 bis 14 Mark auf den Markt gebracht werden. Für bessere Ausfüh­run­gen müss­ten Lieb­ha­ber 25 bis 30 Mark aufwen­den. Ein Zerti­fi­kat bestä­tigt, dass es sich bei dem glän­zen­den Draht aus einer Chrom-Molyb­dän-Verbin­dung aus deut­scher Fabri­ka­tion auch wirk­lich um ein Stück Geschichte handelt.

Samstag, 9. September 1989

Nach­rich­ten
In der Wohnung von Katja Have­mann (Witwe von Robert Have­mann) in Grünau bei Berlin grün­den 30 Perso­nen aus elf DDR-Bezir­ken das NEUE FORUM. Die Stasi beob­ach­tet das Tref­fen, greift aber nicht ein.

MfS Intern
Stasi-inter­nes Papier
Es zeigt sich ein unge­nü­gen­des Verständ­nis für die Kompli­ziert­heit des sozia­lis­ti­schen Aufbaus in seiner objek­ti­ven Wider­sprüch­lich­keit, wobei aus ihrer Sicht nicht erreichte Ziele und Ergeb­nisse sowie vorhan­dene Probleme, Mängel und Miss­stände dann als fehler­hafte Poli­tik inter­pre­tiert und gewer­tet werden.
Diese Perso­nen gelan­gen in einem länge­ren Prozess zu der Auffas­sung, dass eine spür­bare, schnelle und dauer­hafte Verän­de­rung ihrer Lebens­be­din­gun­gen, vor allem bezo­gen auf die Befrie­di­gung ihrer persön­li­chen Bedürf­nisse, nur in der BRD oder West­ber­lin reali­sier­bar sei.

Als wesent­li­che Gründe / Anlässe für Bestre­bun­gen zur stän­di­gen Ausreise bzw. das unge­setz­li­che Verlas­sen der DDR werden ange­führt:

• Unzu­frie­den­heit über die Versor­gungs­lage
• Verär­ge­rung über unzu­rei­chende Dienst­leis­tun­gen
• Unver­ständ­nis für Mängel in der medi­zi­ni­schen Betreu­ung und Versor­gung
• einge­schränkte Reise­mög­lich­kei­ten inner­halb der DDR und nach dem Ausland
• unbe­frie­di­gende Arbeits­be­din­gun­gen und Diskon­ti­nui­tät im Produk­ti­ons­ab­lauf
• Unzu­läng­lich­kei­ten / Inkon­se­quenz bei der Anwen­dung / Durch­set­zung des Leis­tungs­prin­zips sowie Unzu­frie­den­heit über die Entwick­lung der Löhne und Gehäl­ter
• Verär­ge­rung über büro­kra­ti­sches Verhal­ten von Leitern und Mitar­bei­tern staat­li­cher Organe, Betriebe und Einrich­tun­gen sowie über Herz­lo­sig­keit im Umgang mit den Bürgern
• Unver­ständ­nis über die Medi­en­po­li­tik der DDR

Sonntag, 10. September 1989

Nach­rich­ten
Die unga­ri­sche Regie­rung gibt bekannt, dass um Mitter­nacht die Grenze geöff­net wird. Gleich­zei­tig kündigt sie das gegen­sei­tige Abkom­men mit der DDR von 1969, das beiden Ländern unter­sagte, Staats­bür­ger des jeweils ande­ren Landes in den Westen ausrei­sen zu lassen, die nicht über Ausrei­se­ge­neh­mi­gun­gen ihres Landes verfü­gen.

In evan­ge­li­schen Gottes­diens­ten in mehre­ren DDR-Bezir­ken wird ein Brief vom Landes­bi­schof Leich an Erich Honecker verle­sen, in dem Verän­de­run­gen in der Gesell­schaft gefor­dert und Ausrei­se­wil­lige gebe­ten werden, das Land nicht zu verlas­sen.

Veröf­fent­li­chun­gen
Kommu­ni­que der staat­li­chen unga­ri­schen Nach­rich­ten­agen­tur MTI
Jeder sich in Ungarn aufhal­tende DDR-Bürger kann von Mitter­nacht an das Land in Rich­tung des von ihm gewünsch­ten Zieles unter der Bedin­gung verlas­sen, dass die Behör­den des Aufnah­me­lan­des ihn aufneh­men.

Montag, 11. September 1989

Nach­rich­ten
Am ersten Tag der offe­nen Gren­zen verlas­sen 10.000 DDR-Flücht­linge Ungarn in Rich­tung Öster­reich. Im Gegen­zug gewährt die Bundes­re­gie­rung Ungarn einen Kredit über 500 Millio­nen DM. Außer­dem verspricht sie, die Nach­teile auszu­glei­chen, die Ungarn durch even­tu­elle Vergel­tungs­maß­nah­men der DDR entstün­den.

In Leip­zig gehen 1.000 Teil­neh­mer eines Frie­dens­ge­bets nach der Andacht auf die Straße. Die Poli­zei stürmt die Demons­tra­tion und nimmt 89 Perso­nen in Haft, die teil­weise erst im Okto­ber wieder frei­ge­las­sen werden.

Veröf­fent­li­chun­gen
Neues Deutsch­land
Wie aus Buda­pest verlau­tet, wurde sich in der UVR aufhal­ten­den DDR-Bürgern ille­gal und unter Verlet­zung völker­recht­li­cher Verträge und Verein­ba­run­gen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion über die Grenze zu Öster­reich die Ausreise in die BRD ermög­licht. Dabei handelt es sich um eine direkte Einmi­schung in die inne­ren Ange­le­gen­hei­ten der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik. Unter dem Vorwand huma­ni­tä­rer Erwä­gun­gen wird orga­ni­sier­ter Menschen­han­del betrie­ben. Mit Bedau­ern muss fest­ge­stellt werden, dass sich Vertre­ter der Unga­ri­schen Volks­re­pu­blik dazu verlei­ten ließen, unter Verlet­zung von Abkom­men und Verein­ba­run­gen diese von der BRD von langer Hand vorbe­rei­tete Aktion zu unter­stüt­zen.

MfS Intern
Bericht an Minis­ter Mielke
Als Haupt­gründe für Austritte aus der Partei (Hinweise über eine erheb­li­che Zunahme von Partei­aus­trit­ten, beson­ders aus dem Bereich der mate­ri­el­len Produk­tion, liegen aus allen Bezir­ken der DDR und der Haupt­stadt der DDR, Berlin, vor) würden insbe­son­dere ange­ge­ben:
• Nicht­ein­ver­ständ­nis mit der Um- und Durch­set­zung der ökono­mi­schen Poli­tik der Partei (Haupt­ar­gu­ment: Trotz vieler Beschlüsse änderte sich nichts an der kompli­zier­ten Lage, in der Volks­wirt­schaft und auf dem Gebiet der Versor­gung. Man habe keine über­zeu­gende Argu­mente gegen­über Partei­lo­sen und könne deshalb die Partei­li­nie nicht mehr vertre­ten);
• mangeln­des Vertrauen in die Partei­füh­rung (Haupt­ar­gu­ment: Sie wolle die Probleme nicht wahr­ha­ben; sie habe sich von der Basis gelöst);
• Ableh­nung der Infor­ma­ti­ons­po­li­tik der Partei (Haupt­ar­gu­ment: Die Partei über­lasse es dem Gegner, sich mit unse­ren inne­ren Proble­men zu befas­sen; die DDR-Massen­me­dien hiel­ten an der Linie einer “Erfolgs­be­richt­erstat­tung” fest; die Einheit von Wort und Tat sei nicht mehr gewähr­leis­tet.
Mitglie­der und Funk­tio­näre der SED üben zum Teil scharfe Kritik an der Arbeit über­ge­ord­ne­ter Partei­lei­tun­gen sowie am Inhalt und Verlauf von Mitglie­der­ver­samm­lun­gen. Diese würden häufig nur noch den Charak­ter von Pflicht­ver­an­stal­tun­gen tragen.
Es werde an den Proble­men vorbei gere­det. Auf konkrete Fragen gebe es keine Antwor­ten bzw. kriti­sche Diskus­sio­nen würden mit dem Hinweis auf die Partei­dis­zi­plin “abge­würgt”. Wer auf Partei­ver­samm­lun­gen die vorhan­de­nen Probleme anspre­che und klare Antwor­ten verlange, werde sehr schnell als Nörg­ler abge­stem­pelt. Haupt­amt­li­che Partei­funk­tio­näre wirken in ihrer Argu­men­ta­tion “hilf­los”; teil­weise weichen sie unbe­que­men Fragen aus. Auf den Partei­ver­an­stal­tun­gen werde das Vermit­teln von über­zeu­gen­den Argu­men­ten und Hinter­grund-Infor­ma­tio­nen vermisst. Es gebe erheb­li­che Infor­ma­ti­ons­de­fi­zite in der Partei. Dies sei der Grund dafür, dass viele Partei­mit­lie­der resi­gnier­ten, da sie sich mit ihren Proble­men allein gelas­sen fühlen.
Darüber hinaus mangele es den DDR-Massen­me­dien an Objek­ti­vi­tät bei der Darstel­lung innen­po­li­ti­scher Probleme. Es werde das Bild einer “heilen Welt” des Sozia­lis­mus in der DDR vermit­telt, das teil­weise in kras­sem Wider­spruch zur Wirk­lich­keit stehe.
Die fehlende Offen­heit hemme in entschei­den­dem Maße die Bereit­schaft der Werk­tä­ti­gen, akti­ver mitzu­wir­ken bei der Über­wen­dung vorhan­de­ner kompli­zier­ter Probleme im Innern der DDR.

Dienstag, 12. September 1989

Nach­rich­ten
Diskus­sion im Polit­büro
Günter Mittag: Die erste Frage für mich ist, das Loch in Ungarn zuzu­ma­chen. Wieso müssen die wack­li­gen Kandi­da­ten fahren? Diese interne Rege­lung darf aller­dings nicht unsere Partei und die Masse der Bevöl­ke­rung betref­fen. Es ist jetzt eine Welt­kam­pa­gne gewor­den, die durch den Verrat der Ungarn noch erwei­tert wird.
Kurt Hager: Es steht über­haupt die Frage, was wir mit diesem soge­nann­ten Bruder­land machen. Wir soll­ten unse­ren Botschaf­ter zur Bericht­erstat­tung zurück­ru­fen.
Heinz Keßler: Unse­ren Botschaf­ter aus Ungarn dürfen wir jetzt nicht abbe­ru­fen. Genau das wollen sie.
Hager: Ich bin doch nicht das Sprach­rohr des Gegners. Ich habe mir doch den Vorschlag, den Botschaf­ter zurück­zu­zie­hen, gut über­legt.
Hermann Axen: Der Haupt­feind ist die BRD, nicht Ungarn.
Erich Mielke: Der Vorschlag zur Kontrolle der Reisen nach Ungarn ist intern. Der Feind schlägt gegen die Partei.
Horst Sinder­mann: Was sich der Westen gegen Erich Honecker leis­tet, ist wie zur Zeit der faschis­ti­schen Juden-Pogrom­hetze.
Hager: Wir haben mitt­ler­weile 250.000 Alko­ho­li­ker in der DDR. Ich habe Infor­ma­tio­nen von Schrift­stel­lern, die regel­rechte Hoff­nungs­lo­sig­keit wider­spie­geln.
Mittag: Das war eine gute Ausspra­che, um zu einem Gesamt­bild zu kommen.

Mittwoch, 13. September 1989

Nach­rich­ten
Die DDR-Regie­rung protes­tiert in Ungarn gegen die Grenz­öff­nung, die ihrer Meinung nach eine Verlet­zung völker­recht­li­cher Verträge darstellt. Außer­dem verlangt sie die sofor­tige Rück­nahme dieser Entschei­dung.
Während­des­sen sind über 11.000 Flücht­linge in Bayern einge­trof­fen.

Veröf­fent­li­chun­gen
Inter­view in der Tages­zei­tung mit Jens Reich zur Grün­dung des Neuen Forums
Ihr Grün­dungs­auf­ruf ist sehr mode­rat gehal­ten, ist das ein Zufall oder ein Charak­te­ris­ti­kum für die geplante Samm­lungs­be­we­gung?
Das ist kein Zufall. Es muss auch ruhige Stim­men in der jetzi­gen Situa­tion geben. Wir wollen vermei­den, gleich wie ein Lehr­meis­ter aufzu­tre­ten. Zudem ist das, was jetzt zu tun ist, in weiten Krei­sen strit­tig. Einig­keit besteht darüber, dass wir in der DDR einen offe­nen Dialog brau­chen.
Sie wollen sich für ein brei­tes Spek­trum offen­hal­ten. Verbirgt sich dahin­ter aber nicht auch ein program­ma­ti­sches Defi­zit?
Wir wollen uns strikt an die legale Proze­dur halten, und deshalb dürfen wir, bevor die Anmel­dung nicht geneh­migt ist, keine Grün­dungs­hand­lung oder program­ma­ti­sche Ausspra­chen vorneh­men. Wenn es dazu kommt, wird es keinen Mangel an auch diver­gie­ren­den Vorstel­lun­gen geben.
Würden Sie sich denn über­haupt als Oppo­si­tion begrei­fen wollen?
Dieser Begriff ist uns schon mehr­mals aufge­zwun­gen worden. Ich möchte ihn aber wegen der Impli­ka­tio­nen vermei­den wollen, wegen der Hühner­au­gen, auf die man da gleich tritt. Aber im Sinne von kriti­schem Dialog, Tole­ranz gegen­über auch radi­kal abwei­chen­den Meinun­gen, würde ich den Begriff akzep­tie­ren.

Die Welt
Es mehren sich die Anzei­chen, dass der Macht­kampf um die Nach­folge voll entbrannt ist. Honecker, der am 8. Juli vorzei­tig vom Ostblock-Gipfel in Buka­rest abrei­sen musste, wurde an der Gallen­blase operiert und trat danach seinen “Jahres­ur­laub” an. Während dieser Zeit wurde er von dem 52-Jähri­gen Polit­bü­ro­mit­glied Egon Krenz vertre­ten. Als Honecker am 14. August die Amts­ge­schäfte über­nahm, fuhr Krenz in Urlaub. Honecker war jedoch nur vier Tage im Amt und trat einmal öffent­lich auf; am 18. August musste er sich einer zwei­ten Opera­tion unter­zie­hen. Krenz wurde nicht aus dem Urlaub zurück­ge­holt, obwohl er seine sofor­tige Rück­kehr ange­bo­ten haben soll. Dafür über­nahm der Wirt­schafts­experte des Polit­bü­ros, Günter Mittag (62), die Honecker-Vertre­tung.

MfS Intern
Maßnah­me­plan zum recht­zei­ti­gen Erken­nen und vorbeu­gen­den Verhin­de­rung des Miss­brauchs von Reisen in bzw. durch die Unga­ri­schen Volks­re­pu­blik
Zur zentra­len Über­prü­fung der im MfS vorlie­gen­den Infor­ma­tio­nen, die Einsprü­che zu Reise­an­träge von Bürgern der DDR in die Unga­ri­sche Volks­re­pu­blik, die Volks­re­pu­blik Bulga­rien und die Sozia­lis­ti­sche Repu­blik Rumä­nien erfor­dern, sind folgende Arbeits­schritte durch­zu­set­zen (…)
• Alle Reise­an­träge in die genann­ten Länder sind in der Abtei­lung XII zentral zu über­prü­fen
• An den für den Reise­ver­kehr nach der UVR vorwie­gend genutz­ten GÜSt an der Staats­grenze zur CSSR sowie auf den inter­na­tio­na­len Flug­hä­fen der DDR ist ziel­ge­rich­tet die Filtrie­rungs­tä­tig­keit im Zusam­men­wir­ken mit den Grenz­zoll­äm­tern zum Erken­nen von Verdachts­mo­men­ten auf unge­setz­li­ches Verlas­sen der DDR zu verstär­ken, ohne die reibungs­lose Abwick­lung des grenz­über­schrei­ten­den Verkehrs zu beein­träch­ti­gen.
Dazu sind in den Bezirks­ver­wal­tun­gen Dres­den und Karl-Marx-Stadt Möglich­kei­ten zur kader­mä­ßi­gen Verstär­kung ausge­wähl­ter Pass­kon­troll-Einhei­ten zu schaf­fen und zum verstärk­ten Dienst über­zu­ge­hen.

Donnerstag, 14. September 1989

Nach­rich­ten
Nach Gesprä­chen mit dem DDR-Anwalt Vogel verlas­sen etwa 250 der 460 Ausrei­se­wil­li­gen die Bonner Botschaft in Prag. Gleich danach klet­tern aber erneut Flücht­linge über den Zaun auf das Botschafts­ge­lände.

Die Botschaft in Warschau wird eben­falls von DDR-Bürgern bedrängt, derzeit halten sich 60 Flücht­linge dort auf.

In der DDR gibt der “Demo­kra­ti­sche Aufbruch” seine Grün­dung bekannt.

Bundes­kanz­ler Kohl dankt Ungarn für die Öffnung der Grenze.

Veröf­fent­li­chun­gen
Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung
Der Ergrif­fen­heit über den unge­stü­men Frei­heits­drang der neuen Mitbür­ger aus der DDR werden wohl schon bald die ersten Fragen nach den Kosten folgen: Werden sie nicht die ohne­hin als zu hoch empfun­de­nen Mieten in die Höhe trei­ben? Wie lange werden sie Unter­stüt­zung aus öffent­li­chen Mitteln bean­spru­chen? Werden sie die Arbeits­lo­sen­sta­tis­tik belas­ten oder sich als lästige Konkur­ren­ten um knappe Arbeits­plätze erwei­sen?
Nach Kosten zu fragen ist nicht inhu­man. Und für das Gelin­gen der Einglie­de­rung sind ja die wirt­schaft­li­chen Motive wahr­lich nicht die schlech­tes­ten. Wer auch oder gar vorwie­gend kommt, um die ökono­mi­schen Frei­heit des Westens genie­ßen zu können, der hat nicht nur den Führer durchs Sozi­al­recht im Marsch­ge­päck.
Man muss die Mitbür­ger aus der DDR nicht im Über­schwang der Gefühle zu Heroen der Arbeit stili­sie­ren. Viele werden keine oder nur mangel­hafte Erfah­rung mit der Tech­nik des Arbeits­all­tags haben; indes: 86 Prozent haben eine solide Lehre absol­viert. Die Menschen aus der DDR sind gekom­men, um zuzu­pa­cken und mitzu­ma­chen. Wenn wir sie lassen, dann sind sie uns keine Last.

Mittwoch, 15. September 1989

Nach­rich­ten
Die Synode des Evan­ge­li­schen Kirchen­bun­des fordert bei ihrer Jahres­ta­gung in Eisen­ach demo­kra­ti­sche Partei­en­viel­falt, ein neues Wahl­ver­fah­ren, Reise­frei­heit, die Möglich­keit fried­li­cher Demons­tra­tio­nen und eine plura­lis­ti­sche Medi­en­po­li­tik.

Veröf­fent­li­chun­gen
Landes­bi­schof Johan­nes Hempel in der Synode in Eisen­ach
Dass seit vielen Mona­ten jeden Montag um 17 Uhr in der Niko­lai­kir­che Leip­zig ein Frie­dens­ge­bet gehal­ten wird, ist Ihnen sicher­lich allen bekannt. Nach unse­rem Eindruck sind es vor allem jetzt jüngere Menschen, die da kommen. Die poli­zei­li­che Beglei­tung dieses Gesche­hens, die eben­falls seit Mona­ten besteht, hat zu einem gewis­sen Ritual des Abends geführt. 30 Minu­ten unge­fähr nach dem Ende des Gottes­diens­tes ist die Möglich­keit zum unge­hin­der­ten Nach­hause gehen. Davon machen auch sehr viele Gebrauch. Es blei­ben aber auch Menschen auf dem Platz des Niko­lai­kirch­ho­fes stehen. Es erfolgt dann durch bereit stehende Laut­spre­cher eine mehr­ma­lige Auffor­de­rung, ausein­an­der und nach Hause zu gehen. Der Auffor­de­rung kommen wiederum viele nach. Es bleibt dann ein Rest — wie gesagt meist junge Menschen -, die werden von Bereit­schafts­po­li­zei, die in Kette agiert, lang­sam zurück­ge­drängt unter Angabe des freien Ausgangs, der bestehen bleibt. Es erfol­gen dabei in der Regel Zufüh­run­gen. Die Betrof­fe­nen werden dann meis­tens in der Nacht entlas­sen.
Am 11. Septem­ber war es so, wie es immer war, aber gradu­ell spür­bar härter in der Endphase. Es waren Hunde hörbar und sicht­bar — soweit ich gese­hen habe mit Beiß­korb — und es sind am Ende eine ganze Reihe von Leuten einbe­hal­ten worden mit Ermitt­lungs­ver­fah­ren einschließ­lich U‑Haft. Was geht in den Jugend­li­chen vor, was bleibt in ihnen zurück, wenn sie so behan­delt werden? Was sind das für Bürger der Zukunft? Auch in den offen­sicht­lich sehr jungen Bereit­schafts­sol­da­ten, die doch, soweit ich weiß, Wehr­pflich­tige sind und die jetzt in Kette vorge­hen gegen fast Gleich­alt­rige? Was geht in denen vor?

Samstag, 16. September 1989

Nach­rich­ten
Die Zahl der Flücht­linge, die über Ungarn in die Bundes­re­pu­blik kommen, steigt auf 14.000 an.

Vier Mitglie­der der DDR-CDU veröf­fent­li­chen einen “Brief aus Weimar”, in dem sie inner­par­tei­li­che und gesell­schaft­li­che Refor­men fordern.

Die “Bild” behaup­tet, ein Geheim­pa­pier der CDU zu kennen, das sich mit einer Wieder­ver­ei­ni­gung verfasst.

Veröf­fent­li­chun­gen
Wirt­schafts­his­to­ri­ker Jürgen Kuczyn­ski
Am 13. Septem­ber strahlte das west­li­che Fern­se­hen Ausschnitte aus einem Forum, das ich im Mai in der Volks­uni­ver­si­tät [in West-Berlin] hatte, aus. Natür­lich nur die über uns kriti­schen Bemer­kun­gen von mir. Die Folge: Die ganze Akade­mie ist zum größ­ten Teil zustim­men­der Aufre­gung. Erst eine Ableh­nung: Bier­mann, der Chef von Zeiss Jena, ließ mir durch seinen Sekre­tär erklä­ren, dass er in abso­lute Distanz zu meinen Äuße­run­gen geht und nicht wünscht, dass ich am Diens­tag zu einer Lehr­lings­gruppe spre­che.

Horst Sinder­mann (Präsi­dent der Volks­kam­mer) an Horst Ehmke (SPD-Bundes­tags-Frak­tion)
Die von Ihnen am gest­ri­gen Tag in Bonn gemachte Ausfüh­run­gen zur Reise der Bundes­tags­frak­tion sowie die Ausfüh­run­gen des Vorsit­zen­den der SPD, H.J. Vogel, im Bundes­tag besa­gen eindeu­tig, dass der im Früh­jahr dieses Jahres verein­barte Besuch einer Dele­ga­tion der SPD-Bundes­tags­frak­tion nicht den verein­bar­ten Zielen des Dialogs im Inter­esse des Frie­dens und der Sicher­heit sowie der gleich­be­rech­tig­ten Zusam­men­ar­beit der beiden deut­schen Staa­ten dient, sondern voll und ganz nur auf Konfron­ta­tion und direkte Einmi­schung in die inne­ren Ange­le­gen­hei­ten der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik gerich­tet ist. Der Besuch kann deshalb nicht statt­fin­den.

Sonntag, 17. September 1989

Veröf­fent­li­chun­gen
Egon Krenz in persön­li­chen Noti­zen
Die poli­ti­sche Situa­tion ist ange­spannt, wie ich dies bisher nicht erlebt habe. Mit wem und wo man auch disku­tiert, in der Regel wird die Frage aufge­wor­fen, dass sich in der Vorbe­rei­tung des XII. Partei­tags etwas ändern müsse. In welcher Rich­tung diese Ände­run­gen sein sollen, bleibt oft unklar.
Defi­zite des Systems wie seine Unfä­hig­keit, das normale Funk­tio­nie­ren des Alltags zu garan­tie­ren, die früher als Details gegol­ten haben, werden von den Bürgern plötz­lich zum System­ver­gleich heran­ge­zo­gen. Vor zwei, drei Jahren gab es noch eine verbrei­tete gesell­schaft­li­che Ableh­nung der Antrag­stel­ler. Heute wächst unter Teilen der Bevöl­ke­rung das Verständ­nis für sie. Es ist sehr bedau­er­lich, dass es dem Gegner gelun­gen ist, bis in die Kreise der Partei­mit­glie­der die Frage nach der “Mündig­keit des Bürgers” zu stel­len.
Aktu­ell ist die Frage, wie wir mit “Anders­den­ken­den” umge­hen. Wich­tig scheint mir das diffe­ren­zierte Heran­ge­hen an diese Grup­pen zu sein. Es wäre falsch, auch zuge­spitzte Fragen — selbst wenn sie vom Gegner herein­ge­tra­gen werden — nur dem Gegner zu unter­stel­len. Die Zeit, dass nur bestimmte “Spin­ner” sie aufwer­fen, ist vorbei. Manche Fragen gehen bis in die Leitun­gen der Partei.
Die neue Reise­ord­nung steht bei jenen in Kritik, die nicht reisen können und auch nicht einse­hen wollen, dass das Krite­rium für Reisen ins nicht­so­zia­lis­ti­sche Ausland Verwandt­schafts­be­zie­hun­gen sind. Denk­bar wäre, die Reise­ord­nung zu erneu­ern, davon auszu­ge­hen, dass alle Bürger der DDR reisen können, dies öffent­lich zu machen und gleich­zei­tig mitzu­tei­len, dass diese Reise­ver­ord­nung in Kraft tritt, wenn die Regie­rung der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land die Staats­bür­ger­schaft der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik aner­kennt.

Montag, 18. September 1989

Nach­rich­ten
In Leip­zig demons­trie­ren Hunderte im Anschluss an ein Frie­dens­ge­bet. Die Sprech­chöre “Wir blei­ben hier” mischen sich jetzt mit denen, die “Wir wollen raus” rufen. 46 Demons­tran­ten werden fest­ge­nom­men.

Immer mehr DDR-Bürger, die über die CSSR nach Ungarn wollen, werden behin­dert und zurück­ge­schickt.

Die Rock­gruppe Pankow fordert zusam­men mit ande­ren Rock­mu­si­kern in einer Reso­lu­tion einen öffent­li­chen Dialog.

Veröf­fent­li­chun­gen
Rudolf Augstein im Spie­gel
Kein Zwei­fel, eine baldige Verei­ni­gung der beiden deut­schen Teil­staa­ten würde die Gewichte in Europa verschie­ben, könnte die Nato unter­mi­nie­ren und die EG, bereits ein recht wabb­li­ges Gebilde, in Gefahr brin­gen. Nur, was können die Deut­schen dabei tun? Kracht der Ostblock zusam­men, dann gibt es einen deut­schen Gesamt­staat inner­halb der bishe­ri­gen Gren­zen. Hält sich aber der Warschauer Pakt über Wasser, so bleibt es bei zwei deut­schen Staa­ten, ohne oder mit zutun der West­deut­schen. Wir müssen die Geschichte aussit­zen.

Dienstag, 19. September 1989

Nach­rich­ten
Das Neue Forum stellt beim Minis­te­rium des Innern den Antrag, die Gruppe gemäß Arti­kel 29 der DDR-Verfas­sung als poli­ti­sche Verei­ni­gung zuzu­las­sen.

Das Komi­tee für Unter­hal­tungs­kunst verlangt in einem Brief an das ZK der SED “scho­nungs­lose Offen­heit”.

Vorkomm­nisse bei einem Konzert des 5. Rock­som­mers in Döbeln
(Bericht der SED Kreis­lei­tung an die Bezirks­lei­tung Leip­zig)
Die Veran­stal­tung wurde durch den Mode­ra­tor Karney eröff­net, der zum Schluss seiner Ansage den Sänger Herz­berg der Gruppe “Pankow” ankün­digte mit der Bemer­kung, dass dieser den Anwe­sen­den etwas sagen möchte. Herz­berg erklärte, dass die Gruppe “Pankow” mit ande­ren Grup­pen und Einzel­per­so­nen am 18.9.89 eine Reso­lu­tion verfasst hat. Sie vertre­ten die Auffas­sung, dass man in der DDR den Sozia­lis­mus nicht abschaf­fen sollte, viel­mehr wären Refor­men erfor­der­lich. Sie schlie­ßen sich damit dem Programm an, was von der neuge­grün­de­ten Orga­ni­sa­tion “Neues Forum” vertre­ten wird.

MfS Intern
Infor­ma­tion über Bestre­bun­gen feind­li­cher, oppo­si­tio­nel­ler Kräfte zur Schaf­fung DDR-weiter Verei­ni­gun­gen
Wie bereits darge­stellt, propa­gierte der hinläng­lich bekannte Pfar­rer Meckel / Magde­burg im Rahmen eines am 26. August 1989 statt­ge­fun­de­nen “Menschen­rechts-Semi­nars” in der Golga­tha-Kirchen­ge­meinde Berlin die Bildung einer soge­nann­ten Initia­tive zur Schaf­fung einer sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Partei. Deren Konsti­tu­ie­rung ist nach vorlie­gen­den Hinwei­sen für den 7. Okto­ber 1989 vorge­se­hen.
Streng vertrau­li­chen Hinwei­sen zufolge fand in jüngs­ter Zeit eine Zusam­men­kunft der Kräfte um Meckel statt, während der ein “Aufruf der Initia­tiv­gruppe Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Partei in der DDR” verfasst wurde, der verviel­fäl­tigt und verbrei­tet werden soll. damit erhof­fen sich die Inspi­ra­to­ren / Orga­ni­sa­to­ren eine höhere Wirk­sam­keit hinsicht­lich der Samm­lung von Gleich­ge­sinn­ten / Sympa­thi­san­ten.
Anfang Septem­ber “konsti­tu­ierte” sich im Rahmen einer lang­fris­tig vorbe­rei­te­ten Zusam­men­kunft von ca. 30 Führungs­kräf­ten perso­nel­ler Zusam­men­schlüsse und weite­ren feind­lich-nega­ti­ven Perso­nen aus der Haupt­stadt Berlin, sowie den Bezir­ken Leip­zig, Halle, Dres­den, Magde­burg, Frankfurt/Oder, Pots­dam und Schwe­rin eine soge­nannte Verei­ni­gung “Neues Forum”.
Erklär­tes Ziel der “Grün­dungs­mit­glie­der” der Verei­ni­gung “Neues Forum” ist es, ausge­hend von der Behaup­tung, wonach die Kommu­ni­ka­tion zwischen Staat und Gesell­schaft gestört und die Lösung anste­hen­der loka­ler und globa­ler Ausga­ben behin­dert seien, mit der Verei­ni­gung “Neues Forum” eine poli­ti­sche Platt­form für die ganze DDR zu bilden, die es “Menschen aus allen Beru­fen, Lebens­krei­sen, Parteien und Grup­pen” möglich machen soll, sich an der “Diskus­sion und Bera­tung lebens­wich­ti­ger Gesell­schafts­pro­bleme”, am “demo­kra­ti­schen Dialog über die Aufga­ben des Rechts­staa­tes, der Wirt­schaft, der Kultur” und ande­rer gesell­schaft­li­cher Probleme zu betei­li­gen.
Eine Gruppe reak­tio­nä­rer kirch­li­cher Amts­trä­ger, in der Mehr­zahl lang­jäh­rige Inspi­ra­to­ren / Orga­ni­sa­to­ren poli­ti­scher Unter­grund­tä­tig­keit, unter­neh­men inten­sive Bemü­hun­gen, um bis Anfang Okto­ber 1989 eine Samm­lungs­be­we­gung “Demo­kra­ti­scher Aufbruch” zu bilden. Die Konsti­tu­ie­rung des “Demo­kra­ti­schen Aufbruchs” ist für den 1. Okto­ber 1989 in der Sama­ri­ter­kir­che Berlin-Fried­richs­hain vorge­se­hen. Dabei ist in Rech­nung zu stel­len, dass dieses Vorha­ben kirchen­lei­ten­den Perso­nen der Evan­ge­li­schen Kirche Berlin-Bran­den­burg bekannt ist und von diesen z.T. unter­stützt wird. Nach Meinung von Bischof Forck, der sich unter Vorbe­halt dieser “poli­ti­schen Bewe­gung” anzu­schlie­ßen gedenkt, dürfen sich oppo­si­tio­nelle Grup­pen vom Staat nicht in die Knie zwin­gen lassen.

Mittwoch, 20. September 1989

Nach­rich­ten
In der bundes­deut­schen Botschaft in Prag kampie­ren über 500 DDR-Flücht­linge, die Botschaft in Warschau wird geschlos­sen. Die DDR-Bürger werden bei Pries­tern unter­ge­bracht.

Etwa 1.500 Perso­nen haben bis jetzt den Aufruf des Neuen Forums unter­schrie­ben.

Veröf­fent­li­chun­gen
Staats­se­kre­tär Bertele, Leiter der Stän­di­gen BRD-Vertre­tung, an das Bundes­kanz­ler­amt
(Betrifft eine Veran­stal­tung des Neuen Forum in der Geth­se­mane-Kirche): Die Veran­stal­tung zeigt, dass die Arbeit neuer und alter Grup­pen in der DDR weit entfernt ist von effek­ti­ver Oppo­si­ti­ons­ar­beit. Die in unse­rer Presse veröf­fent­lich­ten Berichte über die “Oppo­si­tion” in der DDR sind über­trie­ben und aufge­bauscht. Bärbel Bohley konnte keine Orien­tie­rung geben, ihr amateur­haf­tes Auftre­ten zeigte deut­lich die Schwie­rig­kei­ten bei inhalt­li­cher und orga­ni­sa­to­ri­scher Umset­zung ihrer Ziele. Der Teil­neh­mer­kreis bestand, soweit erkenn­bar, ausschließ­lich aus Intel­lek­tu­el­len, unter denen keine poli­ti­schen Talente sicht­bar wurden. Die Arbeit des Staats­si­cher­heits­diens­tes wird auch weiter­hin dafür sorgen, dass die Aufbruchs­stim­mung nicht zu einem tatsäch­li­chen Aufbruch wird.

Donnerstag, 21. September 1989

Nach­rich­ten
Das DDR-Innen­mi­nis­te­rium gibt seine Entschei­dung bekannt, das “Neue Forum” nicht zuzu­las­sen.

Veröf­fent­li­chun­gen
Neues Deutsch­land
Inter­view mit Hart­mut Ferworn: Am 11. Septem­ber kam ich mit dem Corvina-Express in Buda­pest an. In einem Bistro zwischen Bahn­hof Nyugati und Kauf­haus Metro setzte sich plötz­lich ein junger Mann zu mir.
Ein Ungar?
Nein, er sprach Leip­zi­ger Dialekt und sagte mir auf den Kopf zu: “Sie sind doch der Mitropa-Koch aus dem Corvina!“
Welchen Eindruck machte er auf Sie?
Keinen schlech­ten. Er war Anfang 20, trug einen moder­nen Jeans­an­zug. Als wir ins Gespräch kamen, bot er mir an, mir inter­es­sante Ecken der Stadt zu zeigen. Er müsse vorher nur noch Gepäck bei seiner Gast­ge­be­rin abstel­len und bat mich, mitzu­kom­men. In der ganz norma­len Altbau-Wohnung bot mir eine gut deutsch spre­chende Unga­rin zunächst einen Kaffee und dann eine Menthol-Ziga­rette an. Sie schmeckte irgend­wie komisch, und nach weni­gen Minu­ten fielen mir die Augen zu, schwan­den mir die Sinne.
Wie und wo sind Sie wieder aufge­wacht?
In einem Reise­bus, noch ziem­lich bene­belt. Mein “Frem­den­füh­rer” aus Buda­pest saß neben mir, schlug mir auf die Schul­ter und antwor­tete auf meine Frage, wo wir seien: In der Frei­heit, auf dem Weg in die BRD.
Wie erklä­ren Sie sich denn, dass Sie in der Buda­pes­ter Wohnung bewusst­los wurden?
Offen­sicht­lich hat man mir ein Betäu­bungs­mit­tel gege­ben. Wie ich jetzt erfah­ren habe, eine beliebte Methode west­li­cher Geheim­dienste und ihrer Hand­lan­ger.
Sie wurden also nicht “abge­wor­ben”, sondern regel­recht verschleppt?
Ja, ich fühle mich als Opfer von Entfüh­rern, von Verbre­chern.
Was war im Bus Ihre erste Reak­tion?
Ich sagte dem “Frem­den­füh­rer”: “Ich will doch gar nicht in die BRD.” Er feixte nur: “Mitge­gan­gen, mitge­han­gen. Jetzt geht’s erst mal in die BRD-Botschaft nach Wien.” Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und über­legte krampf­haft, wie ich da raus­komme.
Wo wurden Sie hinge­bracht?
Der Bus hielt gegen 21.30 Uhr vor der BRD-Botschaft in der Wiener Metter­nich­gasse. Gleich­zei­tig kamen vier weitere Busse mit verlei­te­ten DDR-Bürgern an. Wir wurden schon erwar­tet.
Wie konn­ten Sie diesen profes­sio­nel­len Menschen­händ­lern aus der BRD wieder entkom­men?
Ich nutzte die erst­beste Gele­gen­heit, um tele­fo­nisch Kontakt mit der DDR-Botschaft in Wien aufzu­neh­men. Man schenkte mir Vertrauen. Am 14. Septem­ber war ich wieder in der Heimat.
Welche Gedan­ken bewe­gen Sie, wenn Sie auf diese wahr­haft drama­ti­schen Tage zurück­bli­cken?
Durch eine Dumm­heit — man soll gerade im Ausland offen­sicht­lich nicht zu vertrau­ens­se­lig sein — bin ich in die von Bonn in Ungarn lang­fris­tig vorbe­rei­tete Abwer­be­kam­pa­gne hinein­ge­ra­ten. Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger “gemacht” werden. Ich selbst hatte keinen Augen­blick die Absicht, unser Land zu verlas­sen, denn ich bin der Meinung, dass es dafür über­haupt keine Gründe gibt.
[Nach­be­mer­kung: Am 3. Novem­ber 1989 entschul­digte sich das ND für diesen Bericht, den es darin selbst als unwahr bezeich­nete]

Mittwoch, 22. September 1989

Nach­rich­ten
Erich Honecker weist in einem Fern­schrei­ben die Ersten Sekre­täre der SED-Bezirks­lei­tun­gen an, “dass diese feind­li­chen Aktio­nen im Keim erstickt werden müssen. Zugleich ist Sorge zu tragen, dass die Orga­ni­sa­to­ren der konter­re­vo­lu­tio­nä­ren Tätig­keit isoliert werden.“
Als Folge wird noch am selben Tag der “Plan zur Reali­sie­rung der Vorbeuge- und Sonder­maß­nah­men” präzi­siert. Dieser Plan liegt seit Dezem­ber 1988 für den “Span­nungs­fall” vor und sieht die Konzen­tra­tion von “Konter­re­vo­lu­tio­nä­ren” in Isolie­rungs­la­gern vor. Allein in Leip­zig stehen 4.000 Bürger auf den Isolie­rungs­lis­ten der Staats­si­cher­heit.

Veröf­fent­li­chun­gen
Neues Deutsch­land
Der Minis­ter des Innern der DDR teilt mit, dass ein von zwei Perso­nen unter­zeich­ne­ter Antrag zur Bildung einer Verei­ni­gung “Neues Forum” einge­gan­gen ist, geprüft und abge­lehnt wurde. Ziele und Anlie­gen der bean­trag­ten Verei­ni­gung wider­spre­chen der Verfas­sung der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik und stel­len eine staats­feind­li­che Platt­form dar. Die Unter­schrif­ten­samm­lung zur Unter­stüt­zung der Grün­dung der Verei­ni­gung war nicht geneh­migt und folg­lich ille­gal. Sie ist ein Versuch, Bürger der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik über die wahren Absich­ten der Verfas­ser zu täuschen.

Samstag, 23. September 1989

Nach­rich­ten
Das sowje­ti­sche Außen­mi­nis­te­rium weist die Behaup­tung in unga­ri­schen Kommen­ta­ren zurück, Ungarn habe zuvor die Sowjet­union über die Absicht infor­miert, die Grenze nach Öster­reich für DDR-Bürger zu öffnen, und es hätte keine Einwände aus Moskau gege­ben. Der offi­zi­elle sowje­ti­sche Stand­punkt sei in einer Erklä­rung der Nach­rich­ten-Agen­tur TASS vom 12. Septem­ber formu­liert. Danach würden die Hand­lun­gen der BRD als Einmi­schung in die inne­ren Ange­le­gen­hei­ten der DDR beur­teilt.

Veröf­fent­li­chun­gen
Der Dich­ter Thomas Rosen­lö­cher — Tage­buch
Das Schlimmste an diesem Land: Neben Verfall und Zerstö­rung und offi­zi­el­ler Verlo­gen­heit, eben auch der Nieder­gang der Umgangs­for­men, die unter uns herr­schende Unfreund­lich­keit, die längst in den Gesich­tern fest­ge­schrie­bene Verdros­sen­heit.
Lieber zahle ich für einen Becker Quark 4,- M, als weiter­hin diese verlo­ge­nen Wurst­blät­ter Tag für Tag aus dem Brief­kas­ten zu ziehen. Gewiss prägt auch das schon die Physio­gno­mie. Zumin­dest an meinem schad­haf­ten Gebiss bin ich erkenn­bar.

Berli­ner Zeitung
[Bericht von einer Hallen­ser Bezirks­tags-Sitzung]
Man spüre auch im Verlauf der Bera­tung, sagte Margot Honecker in ihrem Diskus­si­ons­bei­trag, wie groß das Vertrauen der Bürger zu ihren gewähl­ten Abge­ord­ne­ten ist. “In unse­ren Volks­ver­tre­tun­gen wird nach gründ­li­cher Prüfung eines Sach­ver­halts gemein­sam mit den Bürgern bera­ten, im Inter­esse aller Bürger entschie­den und gemein­sam gehan­delt”, hob Margot Honecker hervor. “Das kann nur funk­tio­nie­ren, wo wie bei uns die Macht in den Händen der Arbei­ter und Bauern und aller Werk­tä­ti­gen liegt, die die Inter­es­sen des ganzen Volkes vertre­ten. Diese Grund­frage darf man nicht aus dem Auge verlie­ren, wenn von Demo­kra­tie die Rede ist, und es wird ja sehr viel darüber von denen geschwätzt, denen es daran mangelt”, unter­strich der Minis­ter.

Sonntag, 24. September 1989

Nach­rich­ten
Bis zu diesem Tag haben 4.000 DDR-Bürger den Aufruf des “Neuen Forums” unter­zeich­net. Bärbel Bohley erklärt, das Ziel der Bewe­gung sei nicht die Einfüh­rung des Kapi­ta­lis­mus, sondern “ein ande­rer Sozia­lis­mus als der in der DDR prak­ti­zierte.“
In Leip­zig disku­tie­ren Vertre­ter des “Neuen Forums”, der “Verei­nig­ten Linken”, des “Demo­kra­ti­schen Aufbruchs”, von “Demo­kra­tie jetzt” und ande­ren oppo­si­tio­nel­len Grup­pen über ihre weitere Zusam­men­ar­beit. Die mehr als 80 Teil­neh­mer eini­gen sich darauf, dass das “Neue Forum” die Dach­or­ga­ni­sa­tion werden soll.

Veröf­fent­li­chun­gen
Jürgen Kuczyn­ski — Tage­buch
Die Lage spitzt sich immer mehr zu, und es kann nicht mehr lange so weiter­ge­hen. Das Wich­tige ist nur, dass es nicht zu einer Explo­sion kommt. Hatte drei Versamm­lun­gen in einer Woche, davon zwei im Kultur­bund in Werni­ge­rode, da die erste sofort völlig besetzt war. Bei der zwei­ten stan­den etwa 20 Menschen im Freien vor dem Fens­ter.
Auch auf diesen Veran­stal­tun­gen ist die Stim­mung unge­dul­dig kritisch. Die Menschen fragen: Was können wir tun, um eine Verän­de­rung zu brin­gen? Wann werden endlich die Alten oben abge­löst? Es herr­schen Zorn und Verzweif­lung.

Montag, 25. September 1989

Nach­rich­ten
In Leip­zig nehmen an der Montags­de­mons­tra­tion circa 4.000 Menschen teil, sie fordern die Zulas­sung des “Neuen Forums”. Die Demons­tran­ten marschie­ren über den Ring um die Innen­stadt bis zur “Runden Ecke”, dem Leip­zi­ger Stasi-Haupt­quar­tier und weiter zum Haupt­bahn­hof. Dort beset­zen sie die Haupt­halle.

Veröf­fent­li­chun­gen
Jurek Becker in der Tages­zei­tung
Die Legi­ti­ma­ti­ons­krise speist sich vor allem daraus, dass seit nunmehr 40 Jahren ein Land gegen die Wünsche der über­wie­gen­den Mehr­heit seiner Bevöl­ke­rung regiert wird. Wenn ich immer wieder höre, die Entwick­lung zum Sozia­lis­mus in der DDR sei unum­kehr­bar, dann frage ich mich, woher diese Gewiss­heit kommt. Ist damit gemeint: Und wenn Ihr Euch auf den Kopf stellt, wir machen weiter?

Dienstag, 26. September 1989

Nach­rich­ten
Erich Honecker befiehlt “zur Gewähr­leis­tung von Sicher­heit und Ordnung und zur Verhin­de­rung von Provo­ka­tio­nen” am Jahres­tag der DDR die Herstel­lung der Führungs­be­reit­schaft der Bezirks­ein­satz­leis­tung und der Kreis­ein­satz­leis­tung der Berli­ner Stadt­be­zirke.

Die Gewerk­schafts­gruppe des künst­le­ri­schen Perso­nals des Deut­schen Thea­ters in Berlin fordert in einem Offe­nen Brief an Minis­ter­prä­si­dent Stoph die Öffnung der DDR-Medien für das Neue Forum.
Die Kunst­hoch­schule Berlin protes­tiert mit einem Offe­nen Brief an den FDJ-Zentral­rat gegen das Verbot des Neuen Forums und kriti­siert die “Verant­wor­tungs­lo­sig­keit unse­rer Medi­en­po­li­tik.“
In Berlin-Prenz­l­berg formiert sich nach dem Fürbitt­ge­bet in der Geth­se­mane-Kirche die erste klei­nere Demons­tra­tion.

Im China wird die Partei- und Staats­de­le­ga­tion der DDR unter Leitung von Egon Krenz begrüßt. Ihr erster öffent­li­cher Auftritt führt sie auf den Pekin­ger Platz des Himm­li­schen Frie­dens, auf dem drei­ein­halb Monate zuvor die chine­si­schen Panzer die oppo­si­tio­nel­len Studen­ten-Proteste zermalm­ten.

MfS Intern
Infor­ma­tion über eine öffent­lich­keits-wirk­same provo­ka­to­risch-demons­tra­tive Aktion im Anschluss an das sog. Montags­ge­bet in der Niko­lai­kir­che in Leip­zig
Das “Montags­ge­bet” wurde durch den hinläng­lich bekann­ten Pfar­rer Wonne­ber­ger zum Thema “Gewalt” gestal­tet. In provo­ka­to­ri­scher Absicht tätigte er gezielt Aussa­gen wie “Wer den Knüp­pel zieht, muss auch den Helm tragen” sowie “Wenn die Verfas­sung nicht dem Bürger nützt, muss die Verfas­sung geän­dert werden.“
Abschlie­ßend wurden die Anwe­sen­den aufge­for­dert, sich beim Verlas­sen der Kirche ruhig, beson­nen und gefasst zu verhal­ten, sich bei Konfron­ta­tio­nen mit den Sicher­heits­or­ga­nen unter­zu­ha­ken und hinzu­set­zen. Weitere gege­bene Orien­tie­run­gen bezo­gen sich auf das Verhal­ten bei Zufüh­run­gen und Verneh­mun­gen (eindeu­tige Orien­tie­rung auf Aussa­ge­ver­wei­ge­rung). Der Inhalt dieses Montags­ge­bets erzeugte unter den Teil­neh­mern eine ange­heizte Atmo­sphäre und aggres­sive Stim­mung.
Nach Been­di­gung der Veran­stal­tung verein­ten sich die Teil­neh­mer mit den auf dem Vorplatz versam­melt gewe­se­nen Perso­nen zu einer auf ca. 3.500 Perso­nen ange­wach­se­nen Menschen­an­samm­lung, die sich gegen 18.20 Uhr, initi­iert durch eine ca. 300-köpfige Perso­nen­gruppe durch das Stadt­zen­trum in Leip­zig in Rich­tung Geor­gi­ring bewegte. Diese Gruppe initi­ierte außer­dem Sprech­chöre mit Rufen wie “Frei­heit” und den Gesang der Inter­na­tio­na­len sowie des Liedes “We shall over­come.“
Gegen 18.50 Uhr begab sich diese Perso­nen­an­samm­lung in voller Stra­ßen­breite zum Vorplatz des Haupt­bahn­ho­fes Leip­zig, zog weiter zum Fried­rich-Engels-Platz und kehrte von dort aus zum Haupt­bahn­hof zurück,wo sie sich teil­weise auflöste.

Mittwoch, 27. September 1989

Nach­rich­ten
Die Initia­tive Frie­den und Menschen­rechte verlangt in einem Brief an das Polit­büro die Aufhe­bung des Para­graphs 213 des Straf­ge­setz­bu­ches, der “versuch­ten ille­ga­len Grenz­über­tritt” unter Strafe stellt. Es sei unver­ständ­lich, dass die DDR Ausrei­se­wil­li­gen in bundes­deut­schen Missio­nen Straf­frei­heit zusi­chere, aber Flücht­linge verfolge.

Inzwi­schen sind über 26.500 DDR-Bürger über Ungarn geflo­hen.

Veröf­fent­li­chun­gen
Der Dich­ter Thomas Rosen­lö­cher — Tage­buch
Dauer­be­such. Zuletzt Czechow­ski, der die Woche über meist in der Psycho­the­ra­pie blei­ben muss: Depres­sio­nen. Auch für ihn formu­liere ich einen klei­nen Brief an seine Exzel­lenz, den Vorsit­zen­den des Staats­rats, Forum­ver­bot. Komme mir dabei sehr kühn vor. Verfalle sofort in einen leich­ten Funk­tio­närs­ton. Entkomme ihm erst eini­ger­ma­ßen, da ich begreife, dass ich den Brief gar nicht an ihn, sondern an mich schreibe, nämlich aus Grün­den der Selbst­ach­tung. Rakow­ski, höre ich im Radio, fürch­tet, die Pere­stroika müsse noch durch Blut und Tränen gehen.

MfS Intern
Plan der Maßnah­men zur Gewähr­leis­tung der Sicher­heit während des 40. Jahres­tags der Grün­dung der DDR
Die Koor­di­nie­rung und Orga­ni­sa­tion des Zusam­men­wir­kens aller Schutz- und Sicher­heits­or­gane wird dem Minis­ter für Staats­si­cher­heit über­tra­gen. Alle Versu­che von Künst­lern, Mode­ra­to­ren und ande­ren Kultur­schaf­fen­den, statt­fin­dende Veran­stal­tung zur Propa­gie­rung von Aufru­fen im Sinne von “Neues Forum” zu miss­brau­chen, sind konse­quent und wirk­sam zu unter­bin­den.

Infor­ma­tion über die Reak­tion von Antrag­stel­lern auf die Ableh­nung der Anmel­dung der Verei­ni­gung “Neues Forum“
Bis zum gegen­wär­ti­gen Zeit­punkt wurden durch die Stell­ver­tre­ter des Leiters der Haupt­ab­tei­lung Innere Ange­le­gen­hei­ten des MdI bzw. durch den Stell­ver­tre­ter des Ober­bür­ger­meis­ters der Haupt­stadt der DDR, Berlin, für Inne­res und durch die Stell­ver­tre­ter der Vorsit­zen­den der Räte der Bezirke für Inne­res in Pots­dam, Schwe­rin, Leip­zig, Cott­bus, Dres­den, Halle und Neubran­den­burg Gesprä­che mit den Antrag­stel­lern über die Ableh­nung ihrer Anmel­dun­gen der Verei­ni­gung “Neues Forum” geführt.
Alle Antrag­stel­ler nahmen die Entschei­dung und Beleh­rung zur Kennt­nis. Die Mehr­heit zwei­felte die gege­bene Begrün­dung, der zufolge für die Bildung der Verei­ni­gung keine gesell­schaft­li­che Notwen­dig­keit besteht, an und brachte zum Ausdruck, diese nicht anzu­er­ken­nen. Wieder­holt wurde unter Bezug­nahme auf Ergeb­nisse von Unter­schrif­ten-Samm­lun­gen betont, “viele Bürger wünsch­ten diese Verei­ni­gung”.
Mehr­fach wurde seitens der Antrag­stel­ler die Frage aufge­wor­fen, ob sie die Entschei­dung schrift­lich erhal­ten und Beschwerde einle­gen können (beides wurde verneint). In diesem Fall wurde die Absicht geäu­ßert, sich beschwer­de­füh­rend an die UNO wenden zu wollen.

Donnerstag, 28. September 1989

Nach­rich­ten
Bundes­au­ßen­mi­nis­ter Hans-Diet­rich Genscher spricht in New York mit dem sowje­ti­schen Außen­mi­nis­ter Eduard Sche­ward­n­adse über die Situa­tion in den Botschaf­ten.

Veröf­fent­li­chun­gen
Die Zeit [über die Montags­de­mons­tra­tio­nen]
Nach der Gebets­stunde, die besucht war wie nie zuvor, blieb es bei der Gewalt­lo­sig­keit. In Zwan­zi­ger-Reihen ging es dann Rich­tung Haupt­bahn­hof. Effekt­voll stürmte die Menge die breite Beton­treppe, die zu den Bahn­stei­gen hinauf­führt und funk­tio­nierte sie zu einer riesi­gen Tribüne um. Dicht bei dicht stan­den sie dort wie in einem Amphi­thea­ter, und ihr rhyth­mi­sches Klat­schen brauste durch die hoch­ge­wölbte Halle. Einer stimmte das Lied an, Hunderte fielen ein, einer alten Frau in der lange Reihe vor den Fahr­kar­ten­schal­tern knick­ten buch­stäb­lich die Knie ein: “Völker hört die Signale…”, die Inter­na­tio­nale. Und danach: “We shall over­come”. Als ein Bass versuchte, mit dem Deutsch­land­lied durch­zu­kom­men, ging er in Pfif­fen unter.
(…)
Die ersten Schritte zu einer notwen­di­gen Umge­stal­tung der DDR erge­ben sich aus deren Zustand. Als Erstes müss­ten die über­al­ter­ten Partei­füh­rer (oder deren Nach­fol­ger) einse­hen, dass sie nicht unfehl­bar sind. Bei alldem fällt frei­lich auf, dass selbst in den Klage­ka­ta­lo­gen der Oppo­si­tio­nel­len von Wirt­schaft wenig die Rede ist, oder wenn, dann nur in Form von linker Traum­tän­ze­rei. “Die merken gar nicht, auf welchem Trüm­mer­hau­fen sie alle sitzen”, kommen­tiert ein kundi­ger Beob­ach­ter. Der Umbau der DDR — eine Sisy­phus­ar­beit.

MfS Intern
Bericht für den Monat Septem­ber. Verlauf und Ergeb­nisse
Viele Genos­sin­nen und Genos­sen, so kam zum Ausdruck, scheuen sich vor solchen Diskus­sio­nen (über die Ausrei­se­welle) mit den Bürgern, weil heute allge­meine Argu­mente wie z.B. der Sozia­lis­mus siegt oder der Impe­ria­lis­mus ist ster­ben­der Kapi­ta­lis­mus eben nicht mehr ausrei­chen.

Mittwoch, 29. September 1989

Nach­rich­ten
In der bundes­deut­schen Botschaft in Warschau sind etwa 550, in Prag 2.500 Flücht­linge. Der Platz in den Zelten in Prag wird immer enger. Erste Befürch­tun­gen über den Ausbruch von Seuchen werden laut. Durch die Enge sind die Menschen gezwun­gen, in Schich­ten zu schla­fen, da nicht genug Platz für alle da ist.

Gewerk­schaft­ler des VEB Berg­mann Borsig kriti­sie­ren in einem Brief an Harry Tisch, Vorsit­zen­der des FDGB-Vorstan­des, die infor­ma­ti­ons­po­li­tik: “Es trifft nicht im Entfern­tes­ten die Über­zeu­gung und Empfin­dun­gen der Mehr­zahl unse­rer Kolle­gen, wenn die Medien nach pein­li­chem Schwei­gen nun den Versuch unter­neh­men, die Abkehr so vieler unse­rer Menschen ausschließ­lich als Mach­werk des Klas­sen­geg­ners zu entlar­ven, bei dem diese DDR-Bürger nur Opfer oder Statis­ten sein sollen.”

Veröf­fent­li­chun­gen
Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung
Genscher beschrieb [gegen­über Sche­ward­n­adse] die Lage der 2.000 Deut­schen aus der DDR in der Prager Botschaft als “kaum vorstell­bar”. Sche­ward­n­adse antwor­tete mit allge­mei­nen Wendun­gen, verzich­tete aber auf propa­gan­dis­ti­sche Ausfüh­run­gen. Die Bonner Gesprächs­teil­neh­mer spür­ten eine Anteil­nahme Sche­ward­n­ad­ses: “Es ging ihm mensch­lich nahe”, sagte ein Diplo­mat.

Junge Welt
Prof. Heinz Kamnit­zer, Präsi­dent des PEN der DDR
Ihr Völker der Welt, schaut auf diesen Staat. In dem Land zwischen Kiel und Konstanz geht die Drachen­saat auf. Da fordert man gebie­te­risch die Gebiet jenseits der Gren­zen zurück und will sich wieder alles, was deut­scher Herkunft ist, einver­lei­ben oder in Obhut nehmen.
Schaut auf diesen Staat, in dem die Ehren­male der Wider­stands­kämp­fer geschän­det, den Türken ihr Los mit dem “Lied vom Tod” voraus­ge­sagt wird. Ihr Fran­zo­sen und Englän­der, ihr Hollän­der und Schwe­den, ihr Polen und Ungarn, ihr Deut­schen über­all: Was ist das für ein Staat? Ihr kennt ihn nicht? Ihr werdet ihn kennen­ler­nen!

Noti­zen von Frank Elbe, Leiter des Büros von Genscher
Wir erfah­ren gegen 17 Uhr, dass die DDR am Sams­tag für Prag und Warschau die Lösung verwirk­li­chen will, wie sie am Mitt­woch mit Genscher verab­re­det worden ist. Trotz mehr­fa­cher Bemü­hun­gen von Genscher ist Außen­mi­nis­ter Fischer nicht für ihn zu spre­chen, noch nicht einmal tele­fo­nisch. Abflug von New York um 19 Uhr. Wir nehmen den unga­ri­schen Außen­mi­nis­ter Horn mit. Während des Fluges errei­chen uns Draht­be­richte, dass sich die Zahl der Deuut­schen in unse­rer Vertre­tung in Prag auf 3.500 erhöht hat.

Samstag, 30. September 1989

Nach­rich­ten
Außen­mi­nis­ter Genscher eröff­net den mitt­ler­weile 5.000 Flücht­lun­gen in der Botschaft in Prag, dass sie in die Bundes­re­pu­blik ausrei­sen können.

Noti­zen von Frank Elbe, Leiter des Büros von Genscher
Wir bespre­chen das Szena­rio auf der Grund­lage der mit DDR-Botschaf­ter Neubauer in Bonn heute morgen um 11 Uhr getrof­fe­nen Abspra­che. Die Flücht­linge in der Prager Botschaft werden mit Zügen, die von Prag über das Gebiet der DDR führen, nach Hof gebracht. Den ersten Zug wird Genscher beglei­ten, den nächs­ten Seiters. Den letz­ten Zug soll Staats­se­kre­tär Pries­nitz über­neh­men. Auf der Stre­cke soll es einen tech­ni­schen Aufent­halt geben. Dann werden ostdeut­sche Beamte den zug bestei­gen, den Flücht­lin­gen die Pässe abneh­men und ihnen Ausrei­se­pa­piere aushän­di­gen. Das glei­che Verfah­ren wird für die Zufluchts­su­chen­den in der Botschaft Warschau gelten.
Als die Chal­len­ger in Köln/Wahn start­klar gemacht wird, kommt ein Unter­of­fi­zier an die Maschine, der mitteilt, dass der Minis­ter ans Tele­fon geru­fen werde. Genscher folgt ihm. Nach seiner Rück­kehr klärt er uns auf, dass die DDR sich in einem wich­ti­gen Punkt nicht an die Abrede halte: Die Minis­ter sollen die Züge nicht beglei­ten. Wir sind alle betrof­fen, weil wir ein Schei­tern des Unter­neh­mens befürch­ten. Wir star­ten gegen 17 Uhr.
18.30 Uhr Ankunft am Palais Lobko­wicz. Wir treten in das Torge­wölbe des Barock­pa­lais. Es ist voller Menschen. Als sie uner­war­tet Genscher erken­nen, bricht ein unbe­schreib­li­cher Jubel los.
18.58 Uhr. Genscher tritt auf den Balkon. “Liebe Lands­leute!” beginnt Genscher. Ein Aufschrei der begeis­te­rung. Als er zu dem heik­len Punkt kommt, dass die Züge über das Gebiet der DDR fahren werden, kippt die Stim­mung radi­kal um. Genscher erklärt den Menschen, dass er sich für ihre Sicher­heit verbürge. Er erläu­tert, dass die Züge von hohen Beam­ten der Bundes­re­gie­rung beglei­tet werden. Die Menge reagiert mir Erleich­te­rung. Es ist geschafft.
Wenig später schon beginnt der Abzug der ersten Flücht­linge zu den Bussen, die die Botschaft der DDR bereit­ge­stellt hat. Es gibt bewe­gende Szenen des Abschied­neh­mens von den Mitar­bei­tern der Botschaft.
Die Busse fahren zum Prager Vorstadt­bahn­hof Liben. Jansen und ich sollen den drit­ten Zug nach Hof beglei­ten. Der Zug ist bereits total über­füllt. Auf der ande­ren Seite des Bahn­steigs fährt der zug Bratis­lava-Prag ein. Während des kurzen Aufent­halts tref­fen etwa 50 DDR-Deut­sche die Entschei­dung, in unse­ren Zug umzu­stei­gen.

Sonntag, 1. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Etwa 80 Oppo­si­tio­nelle kommen in der Sama­ri­ter­kir­che in Berlin-Fried­richs­hain zusam­men, um den “Demo­kra­ti­schen Aufbruch” zu grün­den. Die Poli­zei riegelt die Kirche ab, darauf­hin beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Sicher­heits­or­ga­nen. Am späten Nach­mit­tag tref­fen sich 17 Perso­nen in einer Wohnung, in der dann die Grün­dungs­do­ku­mente formu­liert werden. Bewaff­nete Sicher­heits­kräfte riegeln die Wohnung bis in die Nacht ab.

Schon einige Stun­den nach der Abreise der DDR-Bürger tref­fen in Prag wieder mehrere hundert, in Warschau etwa 70 Ausrei­se­wil­lige in den Botschaf­ten der Bundes­re­pu­blik ein.

Veröf­fent­li­chun­gen
Noti­zen von Frank Elbe, Leiter des Büros von Genscher
Auf dem tsche­cho­slo­wa­ki­schen Grenz­bahn­hof warten einige DDR-Bürger. Sie müssen irgend­wie von der Prager Ausrei­se­mög­lich­keit erfah­ren haben. Poli­zis­ten bilden eine Absperr­kette. Schließ­lich fasst sich eine Fami­lie ein Herz und geht mit den Koffern auf den Zug zu, andere folgen. Hilfe­be­reite Hände stre­cken sich ihnen entge­gen, die sie in den Zug ziehen. Die tsche­cho­slo­wa­ki­sche Poli­zei greift nicht ein. Der Zug hält schließ­lich in Reichen­bach. Das Bahn­hofs­ge­lände ist herme­tisch von der Bahn­po­li­zei abge­sperrt. Etwa hundert Beamte der Staats­si­cher­heit betre­ten den Zug. Sie gehen jeweils in Drei­er­grup­pen in ein Abteil und nehmen den Menschen nach einem absur­den System die Ausweise ab: Der erste nimmt den Ausweis ab, der zweite guckt hinein und der dritte steckt ihn in einen schwar­zen Koffer. Es entsteht Unruhe. Die Stim­mung gegen die Stasi-Beam­ten schlägt in Aggres­sion um, als sich heraus­stellt, dass keine Ersatz­pa­piere bzw. Ausrei­se­pa­piere ausge­stellt werden.
Ein Beam­ter der Reichs­bahn nimmt seine rote Mütze ab und winkt den Flücht­lin­gen zu. Gleis­ar­bei­ter in ihren schwar­zen Arbeits­an­zü­gen folgen seinem Beispiel, sie winken mit ihren Schutz­hel­men. Diese Geste der Soli­da­ri­tät eines Reichs­bahn-Beam­ten in Gegen­wart der Allmacht des Staa­tes — massiv vertre­ten durch Bahn­po­li­zei und Stasi — symbo­li­siert anschau­lich die Brüchig­keit des Regimes. Der Zug fährt weiter. Bei der Fahrt durch Plauen stehen Hunderte von Menschen an den Fens­tern ihrer Wohn­ka­ser­nen und winken mit weißen Tüchern. Ein Trans­pa­rent ist zu sehen: “Das Vogt­land grüßt den Zug der Frei­heit. Im Zug verbrei­tet sich eine Stim­mung der Ergrif­fen­heit.
Kurz vor der Grenze zur Bundes­re­pu­blik wird es noch einmal still. Der Zug fährt an kilo­me­ter­lan­gen, perfekt instal­lier­ten Sicher­heits­an­la­gen vorbei. Als bei Guten­fürst der Zug den schwarz-rot-gold gestri­che­nen Grenz­pfahl passiert, bricht ein unvor­stell­ba­rer Jubel los.

Montag, 2. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Inner­halb weni­ger Stun­den hat sich die bundes­deut­sche Botschaft in Prag wieder mit mehre­ren tausend DDR-Flücht­lin­gen gefüllt.

In Leip­zig wird versucht, die Frie­dens­ge­bete zu stören, indem soge­nannte “gesell­schaft­li­che Kräfte” die Kirchen füllen, also treue Partei­gän­ger, Funk­tio­näre und Stasi-Leute. Um eine Woche vor dem Repu­bliks­ge­burts­tag eine erneute Montags-Demons­tra­tion zu verhin­dern, versu­chen Sicher­heits­kräfte, die Menschen zu zerstreuen. Trotz­dem gelingt es etwa 5.000 Perso­nen, sich zu einem Demons­tra­ti­ons­zug zu formie­ren und Rich­tung Haupt­bahn­hof zu ziehen. Die Poli­zei stürmt den Zug und versucht, ihn ausein­an­der­zu­prü­geln, was ihr aber nicht gelingt. Die Demons­tran­ten durch­bre­chen die Ketten und ziehen weiter.
Gleich­zei­tig formiert sich eine weitere Demons­tra­tion an der Thomas-Kirche, an der etwa 2.000 Menschen teil­neh­men. Dieser zieht Rich­tung Markt, in dessen Nähe sich auch die Stasi-Zentrale befin­det. Auch dieser Zug wird von Ordnungs­kräf­ten ange­grif­fen, die aber über eine Stunde brau­chen, bis sie die Demons­tra­tion aufge­löst haben.

Veröf­fent­li­chun­gen
Neues Deutsch­land
Zügel­los wird von Poli­ti­kern und Medien der BRD eine stabs­mä­ßig vorbe­rei­tete “Heim-ins-Reich”-Psychose geführt, um Menschen in die Irre zu führen und auf einen Weg in ein unge­wis­ses Schick­sal zu trei­ben. Das vorge­gau­kelte Bild vom Leben im Westen soll verges­sen machen, was diese Menschen von der sozia­lis­ti­schen Gesell­schaft bekom­men haben und was sie nun aufge­ben. Sie scha­den sich selbst und verra­ten ihre Heimat. Bar jeder Verant­wor­tung handeln Eltern auch gegen­über ihren Kindern, die im sozia­lis­ti­schen deut­schen Staat wohl­be­hü­tet aufwuch­sen und denen alle Bildungs- und Entfal­tungs­mög­lich­kei­ten offen stan­den.
Sie haben alle durch ihr Verhal­ten die mora­li­schen Werte mit Füßen getre­ten und sich selbst aus unse­rer Gesell­schaft ausge­grenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nach­wei­nen.

MfS Intern
Infor­ma­tion über beach­tens­werte Reak­tio­nen von Antrag­stel­lern auf die Ableh­nung der Anmel­dung der Verei­ni­gung “Neues Forum“
Nach dem MfS vorlie­gen­den streng inter­nen Hinwei­sen erklär­ten die Erst-Unter­zeich­ner des Grün­dungs­auf­ru­fes mehr­heit­lich, ihre Akti­vi­tä­ten zur Formie­rung des “Neuen Forums” fort­zu­set­zen. Unter Bezug­nahme auf die gegen­wär­tige poli­ti­sche Situa­tion und auf die angeb­li­che Reso­nanz bei unter­schied­lichs­ten Bevöl­ke­rungs­krei­sen in der DDR auf den Grün­dungs­auf­ruf speku­lie­ren sie darauf, dass bei Weiter­füh­rung entspre­chen­der Akti­vi­tä­ten keine straf­recht­li­chen Maßnah­men gegen die Initia­to­ren einge­lei­tet würden, da dies ihrer Meinung nach eine “breite Protest­welle” in der DDR und im Ausland zur Folge hätte.

Dienstag, 3. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Die DDR schließt die Gren­zen zur Tsche­cho­slo­wa­kei, um damit eine weitere Flucht von Bürgern zu verhin­dern. Die Maßnahme wird als “zeit­wei­lig” bezeich­net. Insge­samt werden an diesem Tag mehr als 2.000 DDR-Bürger nicht in die CSSR durch­ge­las­sen. Allein auf dem Haupt­bahn­hof Dres­den werden etwa 800 DDR-Bürger aus mehre­ren Zügen nach Prag heraus­ge­holt. Darauf­hin beset­zen diese die Gleise und Bahn­steige. Die Poli­zei geht gewalt­sam gegen die Beset­zer vor, die ihre Aktio­nen dann auf die Innen­stadt auswei­ten. An mehre­ren Stel­len des Stadt­ge­bie­tes werden die Gleise besetzt, so dass der gesamte Zugver­kehr für mehrere Stun­den unter­bro­chen wird.
In den folgen­den Nacht­stun­den finden eben­sol­che Aktio­nen auch außer­halb Dres­dens statt, unter ande­rem in Frei­berg und Zwickau und an sämt­li­chen nach Süden führen­den Stre­cken. Der Bahn­hof Karl-Marx-Stadt wird von etwa 120 Perso­nen blockiert.

Mittwoch, 4. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Die Grenze von der DDR zur CSSR und nach Polen wird komplett kontrol­liert. Während­des­sen sind in den Sonder­zü­gen zwischen 7.600 und 11.000 DDR-Bürgern in die Bundes­re­pu­blik gekom­men.
Bei der Durch­fahrt eines der Züge durch den Haupt­bahn­hof Dres­den kommt es in der Nacht zu gewalt­tä­ti­gen Ausein­an­der­set­zun­gen. 20.000 Menschen stür­men den Bahn­hof, die Poli­zei geht mit Wasser­wer­fern und Schlag­stö­cken gegen sie vor. Teile der NVA in Dres­den werden in Alarm­be­reit­schaft gesetzt und erhal­ten scharfe Muni­tion ausge­hän­digt.

Veröf­fent­li­chun­gen
Neues Deutsch­land
Erich Honecker: Mit Genug­tu­ung, ohne Selbst­zu­frie­den­heit und Über­heb­lich­keit, können wir am heuti­gen Tage fest­stel­len, dass es gelang, eine Gesell­schaft aufzu­bauen, der trotz stei­gen­der Arbeits­pro­duk­ti­vi­tät Massen­ar­beits­lo­sig­keit fremd ist. Obwohl unser Wohnungs­bau­pro­gramm noch zu voll­enden ist, gibt es bei uns keine Obdach­lo­sen. Es gibt zum Glück keine Drogen­ma­fia, keinen Baby­han­del, wie er in der BRD Usus ist. Soziale Sicher­heit und Gebor­gen­heit gehen bei uns Hand in Hand mit der Mehrung der mate­ri­el­len Werte. Gerade jetzt glaubt die BRD, die DDR aus den Angeln heben zu können. Daraus wird aller­dings nichts.

Donnerstag, 5. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Um die Warten­den an der Route der Botschafts­züge aus Prag zu täuschen, werden einige Flücht­lings­züge umge­lei­tet, andere passie­ren gegen 1.30 Uhr auf einem Außen­g­leis in hoher Geschwin­dig­keit den Haupt­bahn­hof Dres­den.

Bericht eines fest­ge­nom­me­nen Buch­händ­lers
Klar ist, dass die Volks­po­li­zei zuim Schutz der Bürger da ist. Klar ist auch, dass es am Haupt­bahn­hof ernste Ausschrei­tun­gen gege­ben hat, eben auch gegen die Poli­zei. Erns­tes Befrem­den löst jedoch die Behand­lung der Zuge­führ­ten in den Räumen der Kaser­nen der Bereit­schafts­po­li­zei Dres­den aus.
Dort­hin wurden wir zunächst verbracht. Wir wurden ange­brüllt, muss­ten einzeln, mit den Händen im Nacken, den LKW verlas­sen, wurden an die Wand geprü­gelt, dort zunächst, mit dem Kopf an der Wand, die Hände im Nacken, die Beine gespreizt und den Körper in Schräg­lage zur Wand hin, stehen gelas­sen. Auf Einwände, dass man doch nichts getan hatte, folg­ten Beschimp­fun­gen und wieder Prügel. Die herab­wür­di­gende Behand­lung gipfelte in der Bemer­kung eines Poli­zis­ten: “Nanu, Inder haben wir wohl auch schon?”, beim Anblick eines 16-jähri­gen Jungen, der mit einem Kopf­ver­band im kalten Flur sitzen musste.
Alle Fragen nach einem verant­wort­li­chen Offi­zier, dem man das Miss­ver­ständ­nis hätte erklä­ren können, blie­ben unbe­ant­wor­tet. Statt dessen gab es Hinweise wie: “Wären Sie doch zu hause geblie­ben” oder “Was trei­ben Sie sich auch nachts auf der Straße rum?”. Ich selbst z.B. kam mit meiner Freun­din von einer Geburts­tags­feier und war auf dem Heim­weg.

Veröf­fent­li­chun­gen
Neues Deutsch­land
Von DDR-Bürgern wird die Frage gestellt, was mit den frei gewor­de­nen Wohnun­gen geschieht, deren bishe­ri­gen Bewoh­ner ille­gal die DDR verlas­sen haben. Gele­gent­lich wird verbrei­tet, dass derar­tige Wohnun­gen etwa für einen Zeit­raum von einem Jahr frei­ge­hal­ten würden. Wie von zustän­di­ger Stelle verlau­tet, gibt es eine solche Rege­lung nicht. Den örtli­chen Orga­nen wird anheim gestellt, frei gewor­dene Wohnun­gen umge­hend an neue Mieter, die daran Inter­esse haben, zu über­ge­ben.

Leip­zi­ger Volks­zei­tung
Brief einer Kampf­grup­pen-Hundert­schaft:
Die Genos­sen meiner Einheit verur­tei­len die konter­re­vo­lu­tio­nä­ren Machen­schaf­ten jeden Montag in Leip­zig. Wir können nicht taten­los zuse­hen, wie Feinde unse­rer DDR nicht geneh­migte Demons­tra­tio­nen durch­füh­ren und unsere öffent­li­che Ordnung und Sicher­heit gefähr­den. Diese Unru­he­stif­ter versu­chen im 40. Jahr unse­rer Repu­blik, den Aufbau und die Errun­gen­schaf­ten mit orga­ni­sier­tem Krawall zu schmä­lern und die Menschen zu verun­si­chern.

Berli­ner Zeitung
In Über­ein­kunft mit der Regie­rung der CSSR hat die Regie­rung der DDR entschie­den, die Perso­nen, die sich wider­recht­lich in der Botschaft der BRD in Prag aufhal­ten, über das Terri­to­rium der DDR in die BRD auszu­wei­sen. Dabei ließ sie sich vor allem von der Lage der Kinder leiten, die von ihren Eltern in eine Notsi­tua­tion gebracht worden sind und die für deren gewis­sen­lo­ses Handeln nicht verant­wort­lich gemacht werden können.

MfS Intern
Erich Mielke an die Leiter der Dienst­ein­hei­ten
In den Reise­züge nach der CSSR werden verstärkt Ange­hö­rige der Trans­port­po­li­zei sowie ande­rer Kräfte der VP zur Unter­bin­dung der Ausreise von Bürgern der DDR zu den Grenz­über­gangs­stel­len an der Staats­grenze der DDR zur CSSR einge­setzt.
Zur zuver­läs­si­gen Gewähr­leis­tung des Schut­zes der Staats­grenze der DDR zur CSSR und zur VR Polen sind des weite­ren durch die Leiter der zustän­di­gen Dienst­ein­hei­ten folgende Maßnah­men durch­zu­füh­ren:
Gewähr­leistng des durch­ge­hen­den und abge­stimm­ten Einsat­zes der IM/GMS mit dem Ziel, poten­ti­elle Grenz­ver­let­zer, die sich dem Grenz­vor­feld nähern bzw. sich darin bewe­gen oder aufhal­ten, fest­zu­stel­len und deren Zufüh­rung zu veran­las­sen.

Mittwoch, 6. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Michael Gorbat­schow landet, zwei Tage vor dem 40. DDR-Geburts­tag, auf dem Flug­ha­fen Berlin-Schö­ne­feld. Seine Fahrt in die Stadt wird von über 300.000 (!) Sicher­heits­leu­ten oder Partei­mit­glie­dern aus der gesam­ten DDR gesi­chert. Diese sollen verhin­dern, dass sich Oppo­si­tio­nelle und andere Bürger dem sowje­ti­schen Staats­gast nähern, der für viele in der Bevöl­ke­rung eine große Hoff­nung darstellt. Bei einem ersten Gespräch mit Jour­na­lis­ten sagt Gorbat­schow: “Gefah­ren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagie­ren.” Bei einem späte­ren Tref­fen mit der Partei­füh­rung wird er auch den berühmt gewor­de­nen Satz sagen: “Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.”

In Dres­den wird nach der Thea­ter­auf­füh­rung im Klei­nen Haus eine Erklä­rung verle­sen: “Wir treten aus unse­ren Rollen heraus. Die Situa­tion zwingt uns dazu. Ein Land, das seine Jugend nicht halten kann, gefähr­det seine Zukunft. Eine Staats­füh­rung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaub­wür­dig. Ein Volk, das zur Sprach­lo­sig­keit gezwun­gen wurde, fängt an , gewalt­tä­tig zu werden. Die Wahr­heit muss an den Tag.”

In Leip­zig erklärt der Histo­ri­ker Kurt Nowak vor einer Vorle­sung: “Was wird an diesem Wochen­ende gesche­hen? Wie wird der Staat mit seinen Macht­mit­teln — und diese sind groß — auf seine zum Blei­ben und Umge­stal­ten entschlos­se­nen Bürger reagie­ren? Derzeit werden außer­halb Leip­zigs Kampf­grup­pen zu Übun­gen zusam­men­ge­zo­gen. Wird dieses Land auf dem schma­len Grat zwischen Erstar­rung, Verän­de­rung und Chaos zu wande­ren vermö­gen?”

Veröf­fent­li­chun­gen
Leip­zi­ger Volks­zei­tung
Die Ange­hö­ri­gen der Kampf­gruppe “Hans Geif­fert” verur­tei­len, was gewis­sen­lose Elemente seit eini­ger Zeit in der Stadt Leip­zig veran­stal­ten. Wir sind dafür, dass die Bürger christ­li­chen Glau­bens in der Nähe der Niko­lai­kir­che ihre Andacht und ihr Gebet verrich­ten. Wir sind dage­gen, dass diese kirch­li­che Veran­stal­tung miss­braucht wird, um staats­feind­li­che Provo­ka­tio­nen gegen die DDR durch­zu­füh­ren. Wir fühlen uns beläs­tigt, wenn wir nach geta­ner Abreit mit diesen Dingen konfron­tiert werden. Wir sind bereit und willens, das von uns mit unse­rer Hände Arbeit Geschaf­fene wirk­sam zu unter­stüt­zen, um diese konter­re­vo­lu­tio­nä­ren Aktio­nen endgül­tig und wirk­sam zu unter­bin­den. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand.

Samstag, 7. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Während im Berli­ner Palast der Repu­blik der Fest­akt zum 40. DDR-Geburts­tag statt­fin­det, entwi­ckelt sich aus einer Menschen­an­samm­lung auf dem Alex­an­der­platz eine Demons­tra­tion, die zum Repu­blik­pa­last zieht. Unmit­tel­bar an der Spree­brü­cke riegelt die Poli­zei die Straße ab und zwingt die Demons­tran­ten, in Rich­tung Prenz­lauer Berg abzu­zie­hen. Auf dem Weg gibt es immer wieder Über­fälle durch Grup­pen von Stasi-Leuten, die sich einzelne Demons­tran­ten heraus­grei­fen und zusam­men­schla­gen. Auf der Danzi­ger Straße versu­chen FDJ-Ketten, den Zug von mitt­ler­weile mehre­ren tausend Berli­nern zu stop­pen, darauf­hin kommt es zu gewalt­tä­ti­gen Ausein­an­der­set­zun­gen. Poli­zei, FDJ, Betriebs-Kampf­grup­pen und Stasi versu­chen, die Menschen zu zerstreuen, statt­des­sen betei­li­gen sich immer mehr Perso­nen an den Protes­ten, die ihr Zentrum rund um die Geth­se­mane-Kirche finden. Bis in die Nacht hinein gehen die Sicher­heits­kräfte mit Knüp­peln und Wasser­wer­fern gegen die Protes­tie­ren­den vor, die von Bewoh­nern der angren­zen­den Häuser unter­stützt werden. Die Poli­zei stürmt einzelne Wohnun­gen, doch die Rufe wie “Gorbi, Gorbi” und “Frei­heit” verstum­men erst spät in der Nacht, als mehrere hundert Menschen verhaf­tet worden sind.
Diese Fest­ge­nom­me­nen werden teil­weise noch tage­lang in einem Sonder­la­ger am Blan­ken­bur­ger Pflas­ter­weg in Weißen­see fest­ge­hal­ten und dort sowie in Rummels­burg miss­han­delt.
Staats­gäste, wie der rumä­ni­sche Präsi­dent Nico­lae Ceau­sescu müssen kompli­zierte Umwege fahren, da die vorge­se­he­nen Routen durch Demons­tran­ten bela­gert sind.
Das Stadt­ju­gend­pfarr­amt rich­tet noch in der Nacht ein Kontakt­te­le­fon ein, um Meldun­gen über Verhaf­tun­gen und Über­griffe zu sammeln. Die Presse erhält die Order, über die Proteste nicht zu berich­ten. Statt­des­sen dürfen sich die Fern­seh-Zuschauer an einer erneu­ten zwei­stün­di­gen Über­tra­gung des FDJ-Fackel­zu­ges vom Vortag erfreuen, die sofort danach noch­mal wieder­holt wird.

Im bran­den­bur­gi­schen Schwante trifft sich eine geheime Versamm­lung von Menschen, die die Grün­dung einer Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Partei (“SDP”) beschlie­ßen. Teil­neh­mer sind unter ande­rem Markus Meckel und Manfred “Ibra­him” Böhme, der später Vorsit­zen­der der Ost-SPD wird und dann als Stasi-Spit­zel entlarvt wird.

In Dres­den kommt es gegen den Wider­stand der Staats­si­cher­heit zu einem ersten Versuch einer “Sicher­heits-Part­ner­schaft” zwischen der Poli­zei und Demons­tran­ten.

Veröf­fent­li­chun­gen
Der Dich­ter Thomas Rosen­lö­cher im “Dresd­ner Tage­buch“
Einem poli­zis­ten, der allein in die Menge geriet, soll schlimm mitge­spielt worden sein.
An den halb­stün­di­gen Nach­rich­ten hängen wie am Tropf. In die Stadt fahre ich nicht. Heute wird nichts sein, sage ich, hoffe ich, aber in Wirk­lich­keit hat nur die Angst die Ober­hand gewon­nen. Alte Kinder­ängste. Ich erin­nere mich der gedämpf­ten Stim­men der Erwach­se­nen am 17. Juni und dass ich einen Nach­mit­tag bei der Nach­ba­rin blei­ben musste. Schon damals war einer meiner Traum­grund­mo­tive das Bild meines Vaters, der, in irgend­ein Gestell einge­klemmt, sich gequält nach oben krümmte. Dann die unga­ri­sche Stimme im Radio: “Helft uns doch, helft uns doch.” Damals war ich sechs Jahre alt.

Sonntag, 8. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Die Proteste im Berli­ner Stadt­be­zirk Prenz­lauer Berg setzen sich fort. In der Gegend um die Geth­se­ma­n­e­kir­che an der Star­gar­der Straße nehmen Sicher­heits­kräfte über 1.000 Perso­nen fest. An der Zufüh­rungs­or­ten kommen es zu exzes­si­ver Gewalt, die von eini­gen Betrof­fe­nen als Folter bezeich­net wird.

In Dres­den kesseln Sicher­heits­or­gane mehrere tausend Demons­tran­ten ein. Durch das beson­nene Eingrei­fen eini­ger Geist­li­cher entspannt sich die Lage, zwan­zig Demons­tran­ten werden ausge­wählt, die am nächs­ten Tag mit der Partei­füh­rung verhan­deln sollen. Ober­bür­ger­meis­ter Berg­ho­fer stimmt nach einem Gespräch mit Hans Modrow einem Gespräch mit der “Gruppe der Zwan­zig” zu.

In Leip­zig werden die Bürger aufge­for­dert, die Innen­stadt zu meiden. Gerüchte über bereit­ge­stellte Kran­ken­haus­bet­ten und Blut­kon­ser­ven gehen um. Honecker schickt Tele­gramme an alle Bezirks­ver­wal­tun­gen, dass weitere Krawalle von vorn­her­ein zu unter­bin­den seien.

Veröf­fent­li­chun­gen
Bericht von Regis­seur Thomas Heise
Gegen 22.30 Uhr fuhr ich mit dem Zug im Bahn­hof Alex­an­der­platz ein. Durch die Fens­ter sah ich entlang des Bahn­stei­ges Mann an Mann Poli­zei stehen. Ich öffnete die Wagen­tür. Mehrere der den Bahn­steig absper­ren­den Poli­zis­ten riefen: “Drin­blei­ben!“
Ich hielt meinen Ausweis gegen die Glas­scheibe und rief, ich müsse hier ausstei­gen, weil ich hier wohne. Von rechts kam ein Leut­nant und nahm mir meinen Perso­nal­aus­weis aus der Hand, sah kurz hinein und sagte dann: “Stei­gen Sie aus, ich zeige Ihnen, wo es lang geht.” Ich stieg aus. Er zeigte nach rechts. “Gehen Sie, gehen Sie”, sagte der Leut­nant, nahm meinen Perso­nal­aus­weis aus der Hülle und sagte: “Das haben Sie alles vorher gewusst.” Dann gab er mir die leere Ausweis­hülle. Oben an der Treppe zur U‑Bahn stan­den zwei LKWs. Der Leut­nant griff mich am linken Ober­arm, führte mich an die Lade­flä­che und sagte: “Rauf!“
Wir hiel­ten vor dem Poli­zei­re­vier Albert-Norden-Straße in Hellers­dorf. Ich stand von drei­vier­tel eins bis zum Morgen um zehn in dieser Garage. Die gebrüll­ten Sätze: “Wollen Sie eine Sonder­be­hand­lung?”, “Schif­fen Sie sich in die Hose oder schwit­zen Sie es sich aus den Rippen”. “Hier herrscht Ruhe”. “Köpfe zur Wand”. “Verste­hen Sie kein Deutsch?” “Das haben Sie alles vorher gewusst.”

Montag, 9. Oktober 1989

Nach­rich­ten
In Leip­zig herrscht eine ange­spannte Atmo­sphäre, da nun, nach­dem der Repu­blik-Geburts­tag vorüber ist, mit einem härte­ren Durch­grei­fen der Sicher­heits­or­gane gerech­net wird. Tatsäch­lich gibt es einen Einsatz­plan, der ein bewaff­ne­tes Vorge­hen gegen die Demons­tran­ten vorsieht. Allen ist klar, dass es dies­mal eine Entschei­dung geben wird — eine gewalt­same Zerschla­gung der Proteste oder ein endgül­ti­ges Zurück­wei­chen der Staats­macht.
Trotz der Gefahr nehmen dies­mal 70.000 Menschen an der Demons­tra­tion um die Innen­stadt teil. Über Laut­spre­cher wird ein Aufruf verle­sen, der u.a. vom Diri­gen­ten Kurt Masur und dem SED-Sekre­tär unter­zeich­net wurde. Sie rufen darin zur Beson­nen­heit und zum Gewalt­ver­zicht auf. Der Aufruf rich­tet sich sowohl an die Demons­tran­ten, als auch an die Sicher­heits­or­gane. Obwohl es an mehre­ren Orten zu Prüge­leien von Kampf­grup­pen kommt, bleibt die Lage insge­samt ruhig. Damit ist das Eis gebro­chen, dieser Tag hat für die Zukunft eine wich­tige Bedeu­tung.

In Dres­den finden in mehre­ren Kirchen sowie in der Kathe­drale Infor­ma­ti­ons-Veran­stal­tun­gen statt, die wegen des Andrangs jeweils wieder­holt werden müssen und an denen — nach offi­zi­el­len Anga­ben — etwa 22.000 Perso­nen teil­neh­men.

MfS Intern
Infor­ma­tion über die weitere Formie­rung DDR-weiter oppo­si­tio­nel­ler Samm­lungs­be­we­gun­gen
Es ist fest­zu­stel­len, dass bei öffent­li­chen Ankün­di­gun­gen von Veran­stal­tun­gen in kirch­li­chen Räumen zur Thema­tik “Neues Forum” (auch bezo­gen auf andere oppo­si­tio­nelle Samm­lungs­be­we­gun­gen) eine über­durch­schnitt­li­che Besu­cher-Reso­nanz erreicht wird und Teil­neh­mer­zah­len zwischen 1.000 und 2.000 Perso­nen nicht selten sind. So musste z.B. eine am 4. Okto­ber 1989 in einer Kirche in Pots­dam-Babels­berg vorge­se­hene Veran­stal­tung, zu der erfah­rungs­ge­mäß 100 bis 150 Perso­nen erwar­tet wurden, wegen des Erschei­nens von fast 3.000 Inter­es­sen­ten zwei­mal wieder­holt werden. In eini­gen Fällen, so u.a. in Leip­zig und Magde­burg, waren derar­tige themen­be­zo­gene Veran­stal­tun­gen in kirch­li­chen Räumen — unge­ach­tet wieder­hol­ter Erklä­run­gen und Appelle von Inspi­ra­to­ren / Orga­ni­sa­to­ren des “Neuen Forums”, zur Beson­nen­heit und Vermei­dung von Gewalt — Ausgangs­punkte für anschlie­ßende öffent­lich­keits­wirk­same provo­ka­to­risch-demons­tra­tive Akti­vi­tä­ten.

Streng intern vorlie­gen­den Hinwei­sen zufolge bemü­hen sich Kräfte von “Soli­dar­nosc” um Kontakte zum Führungs­kreis des “Neuen Forums”.

Dienstag, 10. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Im der Sitzung des Polit­bü­ros bricht der Macht­kampf auf. Eine Gruppe um Egon Krenz will Honecker stür­zen. Sie geben zu, dass die Ursa­chen der Ausrei­se­welle in der DDR zu suchen sind und dass es Verän­de­run­gen sowie einen Dialog geben müsse. Die Erklä­rung der Gruppe wird nach einer turbu­len­ten Sitzung ange­nom­men. Honecker betrach­tet sie als “Kapi­tu­la­ti­ons-Erklä­rung”. Als Gegen­an­griff kündigt er Maßnah­men gegen die Fälschung der Kommu­nal­wah­len an, was sich gegen Egon Krenz als dama­li­gen Vorsit­zen­den der Wahl­kom­mis­sion rich­tet.

Veröf­fent­li­chun­gen
Polit­büro-Mitglied Gerhard Schü­ler
Erklä­rung zur entstan­de­nen Lage. Auch zu frühe­ren Jahres­ta­gen. Gegner wird trom­meln. Macht er auch heute. Sonst verste­hen uns viele im Volk nicht. Feinde und Mitläu­fer unter­schei­den. 139.726 sind ausge­reist. Verlust an quali­fi­zier­ten Arbeits­kräf­ten. Manchen weinen wir Tränen nach. Es sind nicht nur Gano­ven wegge­gan­gen.

MfS Intern
Auswer­tungs- und Kontroll­gruppe der Haupt­ver­wal­tung I
In den Reak­tio­nen von Solda­ten gibt es erste Anzei­chen für Zwei­fel an der Ange­mes­sen­heit des Einsat­zes von Armee­kräf­ten. Sie empfin­den diesen gegen­über dem “Mob” gerech­fer­tigt, sehen sich nun jedoch zuneh­mend mit “fried­li­chen Demons­tran­ten” konfron­tiert, mit denen man ihrer Meinung nach­re­den sollte.

Mittwoch, 11. Oktober 1989

Nach­rich­ten
In den Medien der DDR beginnt ein vorsich­ti­ger Wandel: Die Zeitun­gen “Junge Welt”, “Neue Zeit” und “Tribüne” drucken kriti­sche Leser­briefe ab. Das “Neue Deutsch­land” bleibt jedoch auf Linie.

Das Polit­büro veröf­fent­licht eine Erklä­rung und bedau­ert erst­mals die Flucht von DDR-Bürgern. Aus dem ADN-Text vom 2. Okto­ber mit dem Honecker-Zusatz “Man sollte ihnen keine Träne nach­wei­nen” wird nun die Formel “Der Sozia­lis­mus braucht Jeden.”

Das “Komi­tee für Unter­hal­tungs­kunst” veröf­fent­licht eine Erklä­rung:
“Unter­hal­tungs­künst­ler sind schon von Berufs wegen mehr mit der Lage im Lande, der Stim­mung der Bevöl­ke­rung vertraut, als Andere. Wir bemer­ken, dass der Wider­spruch zwischen dem Bild der DDR in den natio­na­len Medien und den sozia­len und indi­vi­du­el­len Erfah­run­gen des Publi­kums immer ekla­tan­ter wird.”

Erklä­rung eines Hallen­ser Bürgers: Gegen 19 Uhr [am 9.10.89] waren von mehre­ren Seiten des Markt­plat­zes Stim­men über Mega­phon zu hören, die vermut­lich zum Verlas­sen des Plat­zes auffor­der­ten. Plötz­lich began­nen sich Grup­pen von Schutz­po­li­zis­ten im Lauf­schritt auf Grup­pen von Bürgern oder auf Einzelne zuzu­be­we­gen. Von Seiten der Poli­zei kam es nun in weni­gen Minu­ten zu einer schreck­li­chen Eska­la­tion. Bürger, die laut riefen “Hört auf!” wurden im Würge­griff zu einer Robur-Einsatz­wa­gen gebracht und verla­den. Circa 200 Menschen, die nun in Ricn­tung Gott­wald­straße liefen, wurden von Poli­zis­ten weiter­ge­trie­ben, zum Teil einge­holt und mit Schlag­stö­cken ange­grif­fen. Dies geschah völlig wahl­los und mit äußers­ter Härte.

Aus einer SED-Infor­ma­tion für die Bezirks­lei­tun­gen: Auch haupt­amt­li­che Partei­funk­tio­näre sind äußerst befrem­det darüber, dass in den West­me­dien und in der Presse von Block­par­teien über Maßnah­men des Dres­de­ner Ober­bür­ger­meis­ters und Leiup­zi­ger Partei­funk­tio­näre berich­tet wird, während unsere Medien darüber schwei­gen und die Partei dazu keine Orien­tie­rung gibt, was Verwir­rung und Unsi­cher­heit auslöst.

Donnerstag, 12. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Egon Krenz verstän­digt sich mit den Mitglie­dern des Polit­bü­ros Lorenz und Schab­ow­ski, den Sturz Honeckers vorzu­be­rei­ten.

Mitar­bei­ter der DDR-Nach­rich­ten­agen­tur ADN weigern sich, ange­ord­nete Meldun­gen zu verfas­sen, in denen die Demons­tran­ten “Randa­lie­rer” genannt werden.

Die Akade­mie der Künste und der Kultur­bund fordern eine offene Medi­en­po­li­tik, tole­rante Behör­den und Unter­su­chung der Massen­flucht.

Veröf­fent­li­chun­gen
Berli­ner Zeitung
[Aus einer Erklä­rung des Polit­bü­ros] Der Sozia­lis­mus braucht Jeden. Er hat Platz und Perspek­tive für Alle. Er ist die Zukunft der heran­wach­se­nen Gene­ra­tio­nen. Gerade deshalb lässt es uns nicht gleich­gül­tig, wenn sich Menschen, die hier arbei­te­ten und lebten, von unse­rer Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik losge­löst haben. Viele von ihnen haben die Gebor­gen­heit der sozia­lis­ti­schen Heimat und eine sichere Zukunft für sich und ihre Kinder preis­ge­ge­ben. Die Ursa­chen für ihren Schritt mögen viel­fäl­tig sein. Wir müssen und werden sie auch bei uns suchen, Jeder an seinem Platz, wir alle gemein­sam.

Neues Forum [Flug­blatt]:
Das Neue Forum begrüßt die Verlaut­ba­run­gen des Polit­bü­ros des ZK der SED als erstes Zeichen, sich mit den ange­stau­ten und teif­grei­fen­den Proble­men der Gesell­schaft ausein­an­der­zu­set­zen. Der echte gesell­schaft­li­che Dialog hat auf allen Ebenen gewalt­frei zu erfol­gen, bei Aner­ken­nung der Eigen­staat­lich­keit der DDR, bei strik­ter Abwei­sung aller rechts­ra­di­ka­ler und faschis­ti­scher Haltun­gen, auf dem Boden der Verfas­sung.

Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung
In der Ost-Berli­ner Volks­bühne gab es einen Tag nach der oppo­si­tio­nel­len Massen-Demons­tra­tion in Leip­zig Geläch­ter und Beifall im Zuschau­er­raum, als der Land­vogt Geßler in Schil­lers “Wilhelm Tell” rief: “Was läuft das Volk zusam­men, treibt sie ausein­an­der! Schafft das freche Volk mir aus den Augen.
Tell kecken Geist der Frei­heit will ich beugen.” Tell wird von einer Solda­teska mit Gummi­knüp­peln nieder­ge­schla­gen. Er rächt sich und schießt von der Balus­trade eines Schloss­por­tals, das dem am Staats­rats­ge­bäude täuschend ähnlich sieht, auf den im dunk­len Anzug mit Schlips und Kragen schwa­dro­nie­ren­den Geßler und ruft: “Fort muss er, seine Uhr ist abge­lau­fen!“
Wieder großer Szenen­bei­fall.

Mittwoch, 13. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Bis jetzt sind 45.000 DDR-Bürger über Ungarn, Prag und Warschau geflo­hen. Nach west­li­chen Infor­ma­tio­nen sollen etwa einein­halb Millio­nen Ausrei­se­an­träge vorlie­gen.

Honecker trifft sich mit den Vorsit­zen­den der Block-Parteien. Er will am Führungs­an­spruch der SED fest­hal­ten.

Samstag, 14. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Nach dem großer Erfolg der Montags-Demons­tra­tion in Leip­zig plant das Neue Forum nun eine größere Kund­ge­bung in Berlin. Für die zum 4. Novem­ber geplante Demons­tra­tion sollen vor allem Künst­ler gewon­nen werden.

Veröf­fent­li­chun­gen
Demo­kra­tie Jetzt [Erste Ausgabe der Zeitung der gleich­na­mi­gen Oppo­si­ti­ons-Gruppe]
Wir schla­gen Ihnen vor, Verbin­dung zu gleich­ge­sinn­ten Grup­pen in Ihrer Nach­bar­schaft zu suchen. Orga­ni­sie­ren Sie Tref­fen in den Stadt­be­zir­ken und Krei­sen. Wählen Sie Spre­che­rin­nen und Spre­cher. Entsen­den Sie Vertre­ter zu über­re­gio­na­len Veran­stal­tun­gen. Wir verste­hen uns als Bewe­gung, an der sich jeder durch Mitar­beit ohne formelle Mitglied­schaft betei­li­gen kann. Zusam­men mit ande­ren demo­kra­ti­schen Initia­ti­ven machen wir uns Gedan­ken um ein gemein­sa­mes Wahl­pro­gramm. Ein solches Programm soll von einer reprä­sen­ta­ti­ven Versamm­lung beschlos­sen werden. Sie wird Kandi­da­ten nomi­nie­ren und den Anspruch auf Betei­li­gung an den bevor­ste­hen­den Volks­kam­mer­wah­len erhe­ben.

Erklä­rung der Gewerk­schafts­gruppe Fern­seh­dra­ma­tik:
Als die Flucht­welle begann und über unser Medium von Verrä­tern, denen wir “keine Träne nach­wei­nen”, gespro­chen wurde, haben wir geschwie­gen. Als sich in unzäh­li­gen Reso­lu­tio­nen und Willens­er­klä­run­gen verant­wor­tungs­be­wusste Bürger zu Wort melde­ten, haben wir geschwie­gen. Als Gewalt gegen Gewalt lief, schwie­gen wir, und als an dem Abend, als sich 70.000 Bürger in Leip­zig Zehn­tau­sende anderswo versam­mel­ten und in der AKtu­el­len Kamera die Demons­tran­ten als “fern­ge­steu­erte Krawall­ma­cher”, die den Sozia­lis­mus abschaf­fen wollen, verlo­gen redu­ziert wurden, schwie­gen wir.
Jetzt ist es höchste Zeit, dass wir unsere Stimme erhe­ben. Es darf nicht so sein, dass wir in abseh­ba­rer Zeit Nutz­nie­ßer von Refor­men sind, die andere für uns miter­kämpft haben.

Sonntag, 15. Oktober 1989

Nach­rich­ten
In Halle und Plauen finden größere Demons­tra­tio­nen des Neuen Forums statt.

Die Teil­neh­mer des Tref­fens der Berli­ner Thea­ter­schaf­fen­den protes­tie­ren gegen die gesetz­wid­rige Behand­lung der Fest­ge­nom­me­nen von 7. und 8. Okto­ber. Sie fordern eine öffent­li­che Unter­su­chung und schi­cken diese Forde­rung u.a. auch an den Minis­ter­rat und den Gene­ral­staats­an­walt. Es wird bekannt, dass an diesem Tag die letz­ten Inhaf­tier­ten des 7./8. Okto­ber frei­ge­las­sen wurden.

Am Abend geben Rock­grup­pen und andere Musi­ker in der völlig über­füll­ten Erlö­ser­kir­che in Berlin ein Bene­fiz­kon­zert für die Opfer der Über­griffe. Auf der Veran­stal­tung wird auch aus Gedächt­nis-Proto­kol­len der Opfer zitiert, wobei zum ersten Mal bekannt wird, dass die Stasi auch Geruchs­pro­ben der Inhaf­tier­ten genom­men hat. Bei der Veran­stal­tung wird zur Teil­nahme an der Demons­tra­tion am 4. Novem­ber aufge­ru­fen.
Der Schrift­stel­ler Chris­toph Hein fordert den Einsatz eines Unter­su­chungs-Ausschus­ses für den “offen­bar gelenk­ten Exzess der Sicher­heits­kräfte.“
Ein SED-Abge­ord­ne­ter meldet sich zu Wort: “Beru­higt Euch nicht. Wir haben wahr­schein­lich nur diesen einen Versuch. Wenn wir schei­tern, verlie­ren wir Hundert­tau­sende, durch Ausreise oder durch innere Emigra­tion. Handelt gewalt­frei! Redet mit Allen. Auch mit den 2,3 Millio­nen SED-Mitglie­dern. Grenzt sie nicht von vorn­her­ein aus, viele von ihnen haben mit dazu beigetra­gen, dass jetzt Hoff­nung ist.“
Der Lieder­ma­cher Kurt Demm­ler über das Dialog­ver­ständ­nis von ZK-Sekre­tär Kurt Hager: “Ein biss­chen refor­meln und dialog­eln, da hat man gut normeln, da hat man gut mogeln.”

MfS Intern
Infor­ma­tion über einige beach­tens­werte Erschei­nun­gen in den Kampf­grup­pen der Arbei­ter­klasse im Zusam­men­hang mit der gegen­wär­ti­gen Lage­ent­wick­lung
Zur Gewähr­leis­tung der öffent­li­chen Ordnung und Sicher­heit wurden im Zeit­raum des 40. Jahres­ta­ges der Grün­dung der DDR und im Zusam­men­hang mit der Abschie­bung von ehema­li­gen DDR-Bürgern ca. 3.500 Ange­hö­rige der Kampf­grup­pen der Arbei­ter­klasse im Rahmen von Siche­rungs-Einsät­zen direkt zum Einsatz gebracht und weitere 7.100 in Bereit­schaft versetzt.
In verschie­de­nen Einhei­ten kam es im Verlaufe der Einsätze zu die Kampf- und Einsatz­be­reit­schaft sowie den poli­tisch-mora­li­schen Zustand beein­träch­ti­gen­den Vorkomm­nis­sen, Hand­lun­gen und Erschei­nun­gen.
Das findet seinen Ausdruck vor allem in
• der Ableh­nung des vorge­se­he­nen Einsat­zes durch einzelne Kollek­tive und Kämp­fer,
• Austritts­er­klä­run­gen aus der SED und den Kampf­grup­pen sowie
• der Verwei­ge­rung von Befeh­len.
Nach bisher vorlie­gen­den Hinwei­sen erklär­ten z.B. 188 Kämp­fer ihren Austritt aus den Kampf­grup­pen der Arbei­ter­klasse und 146 Kämp­fer lehn­ten nach Ertei­lung des Einsatz­be­fehls dessen Durch­füh­rung ab. Im Kreis Plauen haben 115 Kampf­grup­pen-Ange­hö­rige ihren Austritt aus der Kampf­gruppe münd­lich und zum Teil schrift­lich erklärt.
Nach bisher vorlie­gen­den ersten Erkennt­nis­sen liegen derar­tige Erschei­nun­gen vor allem folgende Ursa­chen, Motive und begüns­ti­gende Bedin­gun­gen zugrunde:
• Unzu­rei­chende Vorbe­rei­tung der Kämp­fer auf eine mögli­che Konfron­ta­tion mit feind­li­chen, oppo­si­tio­nel­len Kräf­ten im Innern der DDR
• unge­nü­gende Einwei­sung der Kämp­fer in die im Terri­to­rium entstan­dene Lage
• Angst, gegen die Bevöl­ke­rung “Zwangs­maß­nah­men” durch­füh­ren zu müssen, die zu Repres­sa­lien gegen sie oder ihre Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen führen könn­ten
• Ableh­nung des Einsat­zes in Zivil, mit Schlag­stock und Bauar­bei­ter­helm
• Auswir­kun­gen feind­lich-nega­ti­ver Einflüsse, u.a. die Soli­da­ri­sie­rung mit Forde­run­gen der oppo­si­tio­nel­len Bewe­gung “Neues Forum” in einzel­nen Fällen.

Montag, 16. Oktober 1989

Nach­rich­ten
An der Montags-Demons­tra­tion in Leip­zig nehmen dies­mal 150.000 Menschen teil. Das DDR-Fern­se­hen und die staat­li­che Nach­rich­ten-Agen­tur ADN berich­ten.

Egon Krenz infor­miert Gene­ral­oberst Stre­letz, der den verreis­ten Vertei­di­gungs-Minis­ter Keßler vertritt, über die bevor­ste­hende Entmach­tung Honeckers. Der Gewerk­schafts-Vorsit­zende Harry Tisch infor­miert Gorbat­schow in Moskau über den bevor­ste­hen­den Macht­wech­sel. Gorbat­schow wünscht ihm angeb­lich “viel Glück”.

MfS Intern
Infor­ma­tion des Leiters der MfS-Bezirks­ver­wal­tun­gen über Probleme beim Einsatz:
Bei der konkre­ten Einwei­sung der Kampf­grup­pen-Ange­hö­ri­gen des VEB Nach­rich­ten-Elek­tro­nik Arnstadt waren von 120 Kämp­fern 30 für den Einsatz bereit, 5 Kämp­fer lehn­ten den Einsatz ab, die übri­gen gaben Entschul­di­gun­gen an, wie verreist, Geburts­tag, Hand­wer­ker im Haus.

Dienstag, 17. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Tagung des Polit­bü­ros. Stasi­mi­nis­ter Mielke verhin­dert, dass Erich Honecker seinen Perso­nen­schutz zu Hilfe holen kann, um seine Wider­sa­cher fest­zu­neh­men. Willi Stoph stellt den Antrag, Honecker von seinen Funk­tio­nen abzu­lö­sen. Keiner der Anwe­sen­den stellt sich hinter Honecker. Egon Krenz erklärt seine Bereit­schaft, die Verant­wor­tung zu über­neh­men. Bei der Abstim­mung stimmt Honecker seinem eige­nen Sturz zu. Bei der Abstim­mung über die Ablö­sung von Mittag und Herr­mann stim­men auch diese dem Antrag zu.
Erich Honecker ist “tief getrof­fen, dass der Vorschlag von Stoph kam”. Er warnte davor zu glau­ben, dass mit sener Ablö­sung die inne­ren Probleme gelöst würden: “Der Feind wird weiter heftig arbei­ten. Nichts wird beru­higt werden. Das Auswech­seln von Perso­nen zeigt, dass wir erpress­bar sind. Der Gegner wird das ausnut­zen. Hier haben Genos­sen gespro­chen, von denen ich das nie erwar­tet habe. Ich sage das nicht als geschla­ge­ner Mann, sondern als Genosse, der bei bester Gesund­heit ist.“
Das Polit­büro beschließt, Krenz als neuen Gene­ral­se­kre­tär vorzu­schla­gen. Die 9. Tagung des ZK wird vom Novem­ber auf den folgen­den Tag vorge­zo­gen.

Der Gewerk­schafts-Vertrau­ens­mann des Deut­schen Thea­ters in Berlin, Wolf­gang Holz, stellt den Antrag, die Demons­tra­tion am 4. Novem­ber zu geneh­mi­gen.

Mittwoch, 18. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Auf der vorge­zo­ge­nen Tagung des Zentral­ko­mi­tees der SED tritt Erich Honecker von allen Funk­tio­nen zurück. Er schägt Egon Krenz als Nach­fol­ger vor. Am Abend tritt Krenz im DDR-Fern­se­hen auf und vergeigt seine Anspra­che schon mit dem ersten Satz: “Liebe Genos­sin­nen und Genos­sen.” In diesem Stil geht die gesamte Rede weiter, die ihre beab­sich­tigte Wirkung meilen­weit verfehlt.
In dieser Rede an die Bevöl­ke­rung gebraucht Krenz erst­mals öffent­lich den Begriff “Wende” und bedau­ert die Ausrei­se­welle als “Wunde, die noch lange schmer­zen wird”.

Veröf­fent­li­chun­gen
Aus dem später veröf­fent­lich­ten Proto­koll der ZK-Sitzung
Erich Honecker: “Infolge meiner Erkran­kung und nach über­stan­de­ner Opera­tion erlaubt mir mein Gesund­heits­zu­stand nicht mehr den Einsatz an Kraft und Ener­gie, den die Geschi­cke der Partei und des Volkes heute und künf­tig verlan­gen. Deshalb bitte ich das Zentral­ko­mi­tee, mich von der Funk­tion des Gene­ral­se­kre­tärs des ZK, vom Amt des Vorsit­zen­den des Staats­ra­tes der DDR und von der Funk­tion des Vorsit­zen­den des Natio­na­len Vertei­di­gungs­ra­tes zu entbin­den. Die Grün­dung und erfolg­rei­che Entwick­lung der sozia­lis­ti­schen Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik, deren Bilanz wir am 40. Jahres­tag gemein­sam gezo­gen haben, betrachte ich als die Krönung des Kamp­fes unse­rer Partei und meines Wirkens als Kommu­nist.“
Willi Stoph: “Der Genosse Erich Honecker bittet um Verständ­nis, dass er aufgrund seines ange­grif­fe­nen Gesund­heits­zu­stands nicht weiter an der Tagung des Zentral­ko­mi­tees teil­neh­men kann. Dem Zentral­ko­mi­tee wird vorge­schla­gen, dem Genos­sen Erich Honecker für sein poli­ti­sches Lebens­werk, das dem Kampf für Frie­den und Sozia­lis­mus gewid­met ist, den herz­li­chen Dank, verbun­den mit den aller­bes­ten Wünschen, auszu­spre­chen.“
Es folgt ein stür­mi­scher Beifall. Honecker geht durch den Saal zum Ausgang. Die Mitglie­der und Kandi­da­ten des ZK erhe­ben sich von den Plät­zen. Anhal­ten­der, stür­mi­scher Beifall, bis Honecker den Saal verlas­sen hat.
Willi Stoph: “Es gibt den einstim­mi­gen Vorschlag des Polit­bü­ros, den Genos­sen Egon Krenz zum Gene­ral­se­kre­tär des Zentral­ko­mi­tees zu wählen. Wer dafür ist, bitte ich um das Hand­zei­chen. — Danke schön. Gegen­stim­men? — Keine. Stimm­ent­hal­tun­gen? — Auch keine.“
Moritz Mebel: “Ich möchte eine Erklä­rung des Poli­bü­ros haben, warum die beiden Genos­sen aus dem Poli­büro abbe­ru­fen werden. Was sind die Ursa­chen?“
Willi Stoph: “Weil sie ihren Anfor­de­run­gen nicht gerecht wurden, wie im Polit­büro fest­ge­stellt wurde. Genügt das?“
Moritz Mebel: “Das genügt mir.”

Donnerstag, 19. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Nach dem Sturz Honeckers und der “offi­zi­el­len Einlei­tung” der “Wende” werden einige Maßnah­men getrof­fen, die der Bevöl­ke­rung Verän­de­run­gen signa­li­sie­ren sollen. So wird die “zentrale Anlei­tung” der Medien, also die Zensur­be­hörde des Sekre­tärs für Agita­tion in der SED-Führung, abge­schafft. Im Radio und Fern­se­hen finden erst­mals Live-Diskus­sio­nen statt.

In Zittau nehmen etwa 20.000 Menschen an einer Kund­ge­bung des Neuen Forums teil. Der Rat der Stadt geneh­migt Laut­spre­cher-Über­tra­gun­gen.

In Berlin versu­chen SED-Funk­tio­näre, die für den 4. Novem­ber geplante Demons­tra­tion zu verhin­dern, indem sie einzelne Orga­ni­sa­to­ren unter Druck setzen.

Veröf­fent­li­chun­gen
Leip­zi­ger Volks­zei­tung
Diskus­sion mit 18-Jähri­gen Ober­schü­lern in Leip­zig
Was bewegt Euch in diesen Tagen am meis­ten?
Ulrike: Die Montags­de­mos in Leip­zig, die vielen Ausrei­sen. Mein Bruder ist zu Jahres­be­ginn gegan­gen. mit Antrag. Der ist 27. Er sagt, er hat’s hier lange genug versucht. In seinem Betrieb gab’s oft kein Mate­rial. Da konnte eben keiner arbei­ten. Jetzt ist er drüben, hat Arbeit.
Anja: Ich hab mal nen alten Kumpel getrof­fen und mich irre gefreut. Und dann sagt der, er hat nen Ausrei­se­an­trag gestellt. Ich war wie geschockt. Man kann doch nicht alles hier aufge­ben. Aber der hat erzählt, er kommt nicht auf sein Geld, weil sie nach Leis­tung bezahlt werden, aber oft kein Mate­rial zum Arbei­ten da ist. Im Westen wäre das anders.
Und was ist mit den Demons­tra­tio­nen?
Ulrike: Ich kenn’s nur aus den Medien. Hinzu­ge­hen wurde uns verbo­ten.
Dirk: Am vorletz­ten Montag wurden wir extra belehrt, nicht hinzu­ge­hen.
Anja: Aber verbo­ten war es nicht. Vorletz­ten Montag war das beson­ders schlimm. Mutter kam erst spät heim. Wie zum 1. Mai wäre es gewe­sen, wie eine Völker­wan­de­rung.
Ulrike: Eigent­lich finde ich ein offe­nes Beken­nen gut. Aber man hat doch Angst, dass man Nach­teile bekommt.
Wie würdet Ihr euch euer Leben in ein paar Jahren wünschen?
Chris­tian: Dann müss­ten die Wünsche der Menschen mehr beach­tet werden. Woher soll die Regie­rung die denn kennen? Die wird doch über­all von bestell­ten Jublern empfan­gen.

Die Tages­zei­tung
Wolf Bier­mann über den Führungs­wech­sel in der SED:
Nicht “Michael” Modrow aus Dres­den, sondern der blöde Krenz, der versof­fene FDJ-Vete­ran, der Jubel­per­ser des Polit­bü­ros, der opti­mis­ti­sche Idiot, Egon Krenz, das ewig lachende Gebiss. Gut, das ist mein Gift. Aber wer ist Krenz wirk­lich? Wir wissen es nicht, wir können es nicht wissen. Das ist ja gerade die Syphi­lis dieses Systems: Öffent­li­che Ange­le­gen­hei­ten sind nicht öffent­lich. Wie soll man da Nuan­cen erken­nen und dem Einzel­nen gerecht werden? Man wird zum Kreml-Astro­lo­gen, weil die Herr­schen­den sind wie die Gestirne.

Mittwoch, 20. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Egon Krenz geht in die Offen­sive: Ab sofort tref­fen er und andere Partei­funk­tio­näre jeden Tag verschie­dene Grup­pen der Bevöl­ke­rung zum “Dialog”. Die Zeitun­gen berich­ten auf den Titel­sei­ten.
Gleich­zei­tig über­legt man aber in der Partei, wie man den Protest der Bevöl­ke­rung eindäm­men kann. zur geplan­ten Demons­tra­tion am 4. Novem­ber in Berlin schreibt Kurt Hager an Egon Krenz: Nach Verstän­di­gung mit den Genos­sen des Minis­te­ri­ums für Kultur und der Abtei­lung Kultur im ZK der SED sei man einhel­lig der Meinung, “dass eine solche Demons­tra­tion ein gefähr­li­ches Ereig­nis wäre und ein Anlass dafür nicht gege­ben ist.” Aller­dings seien die Genos­sen der Meinung, “dass eine Nicht­ge­neh­mi­gung die Emotio­nen erneut anspre­chen würede.”

Margot Honecker reicht ihren Rück­tritt ein.

Veröf­fent­li­chun­gen
Markus Wolf in seinem “Tage­buch“
Eine Kamera unse­res Fern­se­hens rückte mir auf den Leib und ein junger Repor­ter stellte in für unsere Verhält­nisse völlig unkon­ven­tio­nel­ler Weise und ohne Vorwar­nung Fragen zu den Ereig­nis­sen der letz­ten Tage. Da hatte ich plötz­lich das Gefühl, über Nacht habe sich im Land etwas Wesent­li­ches geän­dert.

Samstag, 21. Oktober 1989

Nach­rich­ten
In Berlin wird eine Menschen­kette vom Palast der Repu­blik zum Poli­zei­prä­si­dium in der Keibel­straße gebil­det. Die Teil­neh­mer fordern die Frei­las­sung der Zuge­führ­ten vom 7. und 8. Okto­ber. Polit­büro-Mitglied Schab­ow­ski und Ober­bür­ger­meis­ter Krack stel­len sich der Diskus­sion mit den Demons­tran­ten.

35.000 Menschen — fast die Hälfte der gesam­ten Einwoh­ner — nehmen im säch­si­schen Plauen an einer Demons­tra­tion teil.

Innen­mi­nis­ter Fried­rich Dickel bei einer Dienst­be­spre­chung:
Ich kann jetzt nicht nach persön­li­cher Meinung gehen. Ich würde am Liebs­ten hinge­hen und diese Halun­ken zusam­men­schla­gen, dass ihnen keine Jacke mehr passt. Ich war 1953 verant­wort­lich hier in Berlin. Mir braucht keiner zu sagen, was die weiße Brut veran­lasst. Ich bin als Jung-Kommu­nist nach Spanien und habe gegen die Halun­ken, gegen dieses faschis­ti­sche Kropp­zeug gekämpft. Mir braucht keiner zu sagen, wie man mit dem Klas­sen­feind umgeht. Und dass die Panzer dann vor der Bezirks­lei­tung und vor dem ZK stehen, das wäre noch die einfachste Sache.

Veröf­fent­li­chun­gen
Berli­ner Zeitung
Der Spre­cher des Außen­mi­nis­te­ri­ums teilt mit: Wir werden allen, die zurück­keh­ren wollen, soweit nicht trif­tige Gründe entge­gen stehen, im Rahmen des Mögli­chen dabei behilf­lich sein, in ihrer ange­stamm­ten Heimat wieder Fuß zu fassen.

Sonntag, 22. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Die “Sechs von Leip­zig”, die mit ihrem Aufruf am 9. Okto­ber zur Gewalt­lo­sig­keit bei der Montags-Demons­tra­tion aufge­ru­fen haben, tref­fen sich mit 500 Leip­zi­gern im dorti­gen Gewand­haus. In der mehr­stün­di­gen Debatte geht es vor Allem um die Verän­de­rung der poli­ti­schen Verhält­nisse und die Reform des Bildungs­we­sens.

Erst­mals wird in der sowje­ti­schen Presse der frühere Staats- und Partei­chef Honecker scharf kriti­siert. Die Gewerk­schafts-Zeitung “Trud” spricht von Perso­nen­kult. Die Führung habe “eine Mauer ohne Türen und Fens­ter” zur Reali­tät der DDR errich­tet.

Montag, 23. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Leip­zig: 300.000 Menschen bei der Montags­de­mons­tra­tion.
Dres­den: Bischof Hempel verlangt eine öffent­li­che Entschul­di­gung für die Bruta­li­tät der Sicher­heits­kräfte.
Berlin: Vertre­ter von Bürger­initia­ti­ven über­ge­ben bei einer Pres­se­kon­fe­renz eine Doku­men­ta­tion über die Poli­zei­ein­sätze von 7. und 8. Okto­ber.
Schwe­rin: Der Versuch der SED, eine Gegen­de­mons­tra­tion am selben Ort und zur selben Zeit wie das Neue Forum abzu­hal­ten, schei­tert.

Dienstag, 24. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Die Volks­kam­mer wählt Egon Krenz zum Staats­rats­vor­sit­zen­den und zum Vorsit­zen­den des Natio­na­len Vertei­di­gungs­ra­tes. Erst­mals gibt es auch Gegen­stim­men. Auf der Straße formiert sich eine Demons­tra­tion gegen die neue Allein­herr­schaft.

Im Berli­ner Haus der Jungen Talente disku­tie­ren Künst­ler, Autoren, Philo­so­phen und der stell­ver­tre­tende Kultur­mi­nis­ter über das Thema “Die DDR wie ich sie mir erträume”. Das Jugend­fern­se­hen “Elf 99” über­trägt die Veran­stal­tung live.

Veröf­fent­li­chun­gen
Süddeut­scher Rund­funk
Nun hat Egon Krenz alle Macht in seinen Händen. Wie Erich Honecker, sein Zieh­va­ter, bestimmt ein Mann allein das Gesicht des Partei- und Staats­ap­pa­ra­tes. Kein neues Gesicht, mit 52 Jahren fast schon ein verbrauch­tes Gesicht, wenn man sich in der DDR umhört.

Gerhard Rein: Die protes­tan­ti­sche Revo­lu­tion
Egon Krenz hat alle Macht in seinen Händen, nur nicht das Volk. Das geht weiter auf die Stra­ßen, und immer mehr trauen sich. Die Demons­tra­tio­nen haben keine Anfüh­rer, keine Struk­tur, da sind nicht Volks­tri­bune am Werk oder dunkle Hinter­män­ner. Sie ereig­nen sich. Krenz hat, erstaun­lich genug, einige der sensi­blen Themen in seiner Rede heute ange­spro­chen. Die Über­griffe der Poli­zei, die letz­ten Wahlen, die Rechts­si­cher­heit im Lande. Damit sind frei­lich die Haupt­fra­gen noch nicht berührt. Gibt es Macht neben der SED, Partei­en­viel­falt, demo­kra­ti­sche Regeln in der Kultur, der Wirt­schaft, der Verwal­tung des Landes? Die DDR hat einen unge­heu­ren Nach­hol­be­darf an spon­ta­nen poli­ti­schen Äuße­run­gen. Der wird sich so leicht nicht kana­li­sie­ren lassen.

Mittwoch, 25. Oktober 1989

Nach­rich­ten
In Neubran­den­burg versam­meln sich 20.000 Menschen zum “Marsch der Hoff­nung”. Der Kund­ge­bungs­platz ist zu Beginn bereits mit Gegen­de­mons­tran­ten unter der Führung des SED-Bezirks­se­kre­tärs Chem­nit­zer besetzt. Er erklärt unter Pfif­fen, Lösun­gen soll­ten nicht länger in Demons­tra­tio­nen gesucht werden. Schließ­lich ruft er, durch die laut­star­ken Proteste entnervt: “Wenn ihr nicht still seid, können wir auch anders!“
Auch in Halber­stadt, Jena und Greifs­wald finden Demons­tra­tio­nen statt.

Die Grünen-Poli­ti­ke­rin Petra Kelly sagt bei einer Veran­stal­tung in der Ostber­li­ner Mari­en­kir­che zu Oppo­si­tio­nel­len: “Diese Gewalt­frei­heit wird in die Geschichte einge­hen! Ich verbeuge mich vor euch. Ihr habt uns viel Kraft gege­ben!”

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Die Tages­zei­tung
Die SED lernt — zu lang­sam. Für eine Partei, die qua Einsicht in die Gesetz­mä­ßig­keit der Geschichte das Erken­nungs­mo­no­pol über die gesell­schaft­li­che Entwick­lung bean­sprucht, liefert sie in den letz­ten Wochen eine blama­ble Vorstel­lung. Zu offen­kun­dig ist die Stra­te­gie der SED, die gesell­schaft­li­che Diskus­sion von der Straße in die Säle und von den Sälen in die vorhan­de­nen Gremien und Insti­tu­tio­nen zu kana­li­sie­ren.
Die SED ist weiter­hin dabei, Dyna­mik und Rich­tung der jüngs­ten Entwick­lung zu verken­nen, eine Fehl­leis­tung, die einzig mit dem Erkennt­nis­in­ter­esse, die führende Rolle am Ende doch noch zu behaup­ten, erklär­lich ist.

Donnerstag, 26. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Mit dem Verweis auf angeb­li­che Gewalt­tä­tig­kei­ten warnt der Berli­ner Poli­zei­prä­si­dent Fried­helm Rausch vor weite­ren Demons­tra­tio­nen.
In Dres­den, Rostock, Frank­furt, Gera und Erfurt finden Demons­tra­tio­nen der Oppo­si­tion statt. In Dres­den nehmen etwa 100.000 Menschen in mehre­ren hundert Foren an Diskus­sio­nen mit Funk­tio­näre teil.

In Berlin findet die erste offi­zi­elle Begeg­nung eines SED-Funk­tio­närs der oberen Führungs­ebene mit Vertre­tern des Neuen Forums statt: Günter Schab­ow­ski trifft mit Bärbel Bohley, Sebas­tian Pflug­beil und Jens Reich zusam­men.

Veröf­fent­li­chun­gen
Neues Deutsch­land
Gestern klin­gel­ten sich beim Neuen Deutsch­land, beim Magis­trat, bei Verkehrs­be­trie­ben usw. die Tele­fone heiß: Berli­ner Bürger frag­ten, wann endich Schluss sein würde mit diesen schwe­ren Störun­gen von Ruhe und Ordnung. Mütter beklag­ten, dass ihre Kinder keinen Schlaf finden, Bus- und Stra­ßen­bahn-Fahrer woll­ten wissen, wie sie unter den geschil­der­ten Umstän­den den Verkehr aufrecht erhal­ten soll­ten. Leute, die zu Fuß oder per Auto nach Hause woll­ten, beschwer­ten sich über die Blockade der Straße. Viele Anwoh­ner forder­ten, direkt mit diesen Worten, dass sie sich von unse­rer Volks­po­li­zei und den ande­ren Sicher­heits­kräf­ten vor Unru­he­stif­tern geschützt sehen wollen.
Und wir fragen: Sind die stun­den­lan­gen Demons­tra­tio­nen und das Gebrüll die Umstände, unter denen man den Dialog führen kann? Soll das die Kultur des poli­ti­schen Streits sein, die so oft beschwo­ren wird? Ist es nicht so, dass Demons­tra­tio­nen, so fried­lich sie von vielen, viel­leicht von der Mehr­heit der Teil­neh­mer, gedacht werden, immer die Gefahr in sich bergen, anders zu enden, als sie begon­nen haben?

Die Tages­zei­tung
Über eine Vorfüh­rung von Chris­toph Heins “Ritter der Tafel­runde” im Klei­nen Haus Dres­den und eine Diskus­sion im Thea­ter
Artus läutet das Ende der Tafel­runde ein, sieht sich geschei­tert, auch wenn für ihn die Aufgabe der Gral­su­che einer Selbst­auf­gabe gleich­kommt, akzep­tiert er, dass sein Sohn ihr Lebens­werk, die gesamte Runde, samt Tisch ins Museum schaf­fen will. “Es schafft Platz, Luft zum Atmen, Vater”, sagt er. Artus darauf: “Ich habe Angst, Mord­ret. Du wirst viel zerstö­ren”. Der junge Thron­fol­ger: “Ja, Vater.“
Der Vorhang fällt, das Licht geht an, stehende Ovatio­nen für ein Thea­ter­stück, das immer wieder durch Applaus nach einzel­nen Dialo­gen unter­bro­chen worden war und das von nichts ande­rem handelt, als der real exis­tie­ren­den Polit­bü­ro­kra­tie.
Am Ende, nach den letz­ten Sätzen der “Komö­die” Heins, beginnt ein Stück von der Wirk­lich­keit des poli­ti­schen Früh­lings ind der DDR. Die Schau­spie­ler treten aus ihren Rollen heraus, das Publi­kum bleibt nicht mehr stum­mer Zuschauer: Das Thea­ter verwan­delt sich in ein Diskus­si­ons­fo­rum, nicht über das Stück, sondern über die DDR. Zaghaft beginnt das neue Spre­chen.
Die Angst vor Spit­zeln und gehei­men Mikro­pho­nen beherrscht den Anfang der Diskus­sion genauso wie noch ungläu­bi­ges Stau­nen über die neue Zeit und berech­tig­tes Miss­trauen: “Was, wenn morgen alles vorbei ist?”

Mittwoch, 27. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Der Staats­rat beschließt eine Amnes­tie für alle ille­gal ausge­reis­ten DDR-Bürger. Diese gilt außer­dem auch für die bei Demons­tra­tio­nen zuge­führ­ten Perso­nen.
Das Polit­büro beschließt, die “Ausset­zung des pass- und visa­freien Reise­ver­kehrs” mit der CSSR ab 1. Novem­ber wieder aufzu­he­ben und kündigt an, Ausrei­se­an­träge künf­tig “groß­zü­gig und kurz­fris­tig” zu entschei­den, womit der Weg über die BRD-Botschaf­ten “nicht notwen­dig” sei. Trotz dieser Verspre­chen machen sich wieder Tausende auf den Weg nach Prag.
Der Vorsit­zende der DDR-Gewer­schaft, Harry Tisch, kündigt seinen Rück­tritt an.

Nach­dem bekannt gewor­den ist, dass Bärbel Bohley den ausge­bür­ger­ten Sänger Wolf Bier­mann zum Besuch der DDR einge­la­den hat, veröf­fent­licht das “Neue Deutsch­land” empörte Leser­briefe: “Welches Recht hat Frau Bohley, so etwas in die DDR einzu­la­den?”

Wolf Bier­mann schreibt ein neues Lied:
“Ihr müsst euch nicht, ihr verdor­be­nen Greise
nun plötz­lich Asche streuen aufs Haupt
Bloß lernt es ertra­gen, wenn wir noch leise
an eurer Wende zwei­feln. Es glaubt
kein Aas, wenn ihr schöne Worte drech­selt
Wir geben euch eine Rat
Was zählt ist nur eure gute Tat.”

Veröf­fent­li­chun­gen
Der Tages­spie­gel
Die Besuchs­be­auf­trag­ten des Berli­ner Senats und der DDR-Regie­rung, Kunze und Müller, werden in der nächs­ten Woche Gesprä­che über die Eröff­nung neuer Berli­ner Grenz­über­gänge aufneh­men. Ange­sichts der zu erwar­ten­den West-Besu­che von Bürgern aus der DDR und aus Ost-Berlin im Rahmen der von der neuen DDR-Führung in Aussicht gestell­ten Reise­frei­heit reichen die bishe­ri­gen Über­gänge nicht aus.

Samstag, 28. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Bei einer völlig über­füll­ten Veran­stal­tung in der Berli­ner Erlö­ser­kir­che wird über die entwür­di­gende Behand­lung der Zuge­führ­ten vom 7. und 8. Okto­ber gespro­chen. Erst­mals wird der Begriff “Geruchs­kon­serve” öffent­lich bekannt: Von den Verhaf­te­ten wurden mit Tüchern an inti­mer Stelle Geruchs­pro­ben genom­men und diese in Einweck­glä­sern aufbe­wahrt. Diese Tücher soll­ten als Such­hilfe für Spür­hunde dienen. Christa Wolf fordert auf der Veran­stal­tung eine unab­hän­gige Unter­su­chungs-Kommis­sion.

In fast allen Bezirks­städ­ten finden Demons­tra­tio­nen statt unter dem Motto: “Keine Reden mehr, wir wollen Taten sehen.” In Plauen verlan­gen 30.000 Menschen vor dem Rathaus die Zulas­sung des Neuen Forums.

Die CDU veröf­fent­licht in ihrem Zentral­or­gan “Neue Zeit” ein Grund­satz-Doku­ment, in dem sie sich als unab­hän­gige Partei defi­niert.

Im Deut­schen Thea­ter in Berlin liest der Schau­spie­ler Ulrich Mühe aus den Erin­ne­run­gen Walter Jankas “Schwie­rig­kei­ten mit der Wahr­heit”. Das Buch durfte in der DDR nicht verlegt werden und erschien deshalb nur in der Bundes­re­pu­blik. Walter Janka, einst Leiter des Aufbau-Verlags, war 1956 unter falschen Anschul­di­gun­gen verhaf­tet und später zu fünf Jahren Zucht­haus verur­teilt worden.
Die ersten Besu­cher stan­den bereits morgens um sieben Uhr am Thea­ter, um einen Platz zu bekom­men. Nach der Lesung trat Janka selbst auf. Er hielt dort seine erste öffent­li­che Rede seit 33 Jahren:
“Was immer zustän­dige Organe tun oder unter­las­sen oder verdor­ben haben, ich betrachte die in dieser Lesung in diesem Haus und die im Kommu­ni­que des Films­ver­bands zum Ausdruck gebrachte Soli­da­ri­tät als mora­li­sche Reha­bi­li­tie­rung, die mir hundert mal mehr wert ist als alles, was noch zustän­dige Organe veran­las­sen könn­ten.
Und jetzt muss ich noch an Karl Marx erin­nern: Kämpft für eine “Asso­zia­tion, in der die Frei­heit eines Jeden die Bedin­gung für die Frei­heit ist”. Kämpft um bessere Lebens­qua­li­tät. Kämpft, damit die Ästhe­tik unse­rer Gesell­schaft wieder allen bewusst wird, Voraus­set­zun­gen schafft, um jene in den Ruhe­stand zu verset­zen, die uns einen ideo­lo­gi­schen Scher­ben­hau­fen hinter­las­sen haben. Wenigs­tens Eini­gen muss ohne Wenn und Aber das Wort sofort und endgül­tig entzo­gen werden. Dann wird es auch in naher Zukunft möglich sein, Beton­mau­ern und Stachel­draht — hinter denen sich doch kein sozia­lis­ti­scher Para­dies­gar­ten kulti­vie­ren lässt — beden­ken­los nieder­zu­rei­ßen, ohne dass uns die Jugend und die Zukunft davon läuft.

Sonntag, 29. Oktober 1989

Nach­rich­ten
In Berlin und ande­ren Städ­ten begin­nen soge­nannte Sonn­tags­ge­sprä­che.

Der Regie­rende Bürger­meis­ter in West­ber­lin, Momper, wird durch Schab­ow­ski über das geplante Reise­ge­setz infor­miert. Der Senat rich­tet sofort eine Projekt­gruppe ein. Wegen der “zu erwar­ten­den 300.000 Besu­cher aus der DDR” wird eine Sper­rung des Kudamms erwo­gen.

Montag, 30. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Die Demons­tra­tion der Thea­ter­leute, die für den 4. Novem­ber ange­mel­det worden war, wird geneh­migt.

Nach Protes­ten der Zuschauer wird die Propa­gan­da­sen­dung “Der Schwarze Kanal” mit Karl Eduard von Schnitz­ler nach 1.518 Sendun­gen abge­setzt. Schnitz­ler darin: “Diese Sendung heute wird nach fast drei­ßig Jahren die kürzeste sein, nämlich die letzte. Der Klas­sen­kampf geht weiter, also auch die aktu­elle, streit­bare Poli­tik. Einige mögen jubeln, wenn ich diese Fern­seh­ar­beit nun auf andere Weise fort­setze. Nicht, dass ich etwas zu bereuen hätte; der Umgang mit der oft unbe­que­men Wahr­heit ist schwer, aber er befrie­digt.”

Dienstag, 31. Oktober 1989

Nach­rich­ten
Das Innen­mi­nis­te­rium gibt bekannt, die Zulas­sung des Neuen Forums ernst­lich zu prüfen. Inzwi­schen liegen mehr als 100.000 Unter­schrif­ten für die Bürger­be­we­gung vor. Rechts­an­walt Gregor Gysi lässt konse­quente recht­li­che Schritte für die Zulas­sung einlei­ten.

Das SED-Polit­büro beschließt, die scho­ckie­rende Wirt­schafts­ana­lyse, die der Leiter der Staat­li­chen Planungs-Kommis­sion Schü­rer am 27. Okto­ber vorge­legt hatte, den Mitglie­dern des ZK auf der 10. Tagung “in ausge­wo­ge­ner Form” in der Rede von Krenz zukom­men zu lassen. Der am weites­ten gehende Vorschlag der Analyse — die Mauer gegen Devi­sen zu tauschen — soll nicht erwähnt werden.

Jour­na­lis­ten sowie der Film- und Fern­seh­ver­band arbei­ten an einem Medi­en­ge­setz.

Egon Krenz reist zu seinem ersten Auslands­be­such als Staats- und Partei­chef nach Moskau.

Erst­mals werden Daten zur Schad­stoff­be­las­tung von Luft und Wasser veröf­fent­licht.

MfS Intern
Erich Mielke an die Leiter der Dienst­ein­hei­ten
Durch Dialog­an­ge­bote und andere gesell­schaft­li­che Möglich­kei­ten in den Wohn­or­ten, Arbeits- und Unter­richt-Stät­ten soll gezielt eine Teil­nahme von Perso­nen, Arbeits- und Schul­kol­lek­ti­ven an dieser Demons­tra­tion bzw. am Meeting in der Haupt­stadt entge­gen­ge­wirkt werden.

Mittwoch, 1. November 1989

Nach­rich­ten
Der seit dem 3. Okto­ber unter­bro­chene Reise­ver­kehr mit der CSSR wird wieder zuge­las­sen. Die BRD-Botschaft in Prag füllt sich darauf hin sofort erneut.

Egon Krenz trifft in Moskau mit dem sowje­ti­schen Staats­chef Michael Gorbat­schow zusam­men. Zitat aus dem Proto­koll:
Genosse Gorbat­schow empfahl, sich von den kompli­zier­ten Proble­men keinen Schre­cken einja­gen zu lassen. Er wolle damit nicht sagen, in der Sowjet­union habe man die Pere­stroika schon voll gepackt. Das Pferd sei gesat­telt, aber der Ritt noch nicht voll­endet. Man könne immer noch abge­wor­fen werden. Genosse Krenz betonte, bei allen Unvoll­kom­men­hei­ten und Proble­men in der DDR sei doch eines erreicht worden: Die Probleme in der DDR werden jetzt nicht mehr über den Westen in die DDR hinein­ge­tra­gen, sondern in unse­rem Lande erör­tert.
Genosse Gorbat­schow bemerkte, er sei beson­ders nega­tiv davon berührt gewe­sen, wie man mit dem Genos­sen Modrow umge­sprun­gen sei.
Genosse Krenz infor­mierte dazu, er habe vor zwei Jahren bereits einmal faktisch den Auftrag erhal­ten, Genos­sen Modrow abzu­set­zen. Man fand eine takti­sche Lösung, die darauf hinaus lief, Genos­sen Modrow zu kriti­sie­ren, ihn aber nicht von seiner Funk­tion abzu­lö­sen. Egon Krenz infor­mierte über die Zahlungs­bi­lanz der DDR. Man müsse neue Kredite aufneh­men. Genosse Gorbat­schow bemerkte, so prekär habe er sich die Lage nicht vorge­stellt.

MfS Intern
Einsatz­kon­zep­tion zur Sicher­heit einer Demons­tra­tion im Stadt­zen­trum Berlin
Alle Siche­rungs­maß­nah­men durch Kräfte des MfS sind streng konspi­ra­tiv und gedeckt durch­zu­füh­ren. Das gewalt­same Vorge­hen gegen Demons­tran­ten (auch bei Verlet­zung fest­ge­leg­ter Norma­tive) sowie die Wegnahme von Plaka­ten und Trans­pa­ren­ten u.ä. sind nicht gestat­tet. Alle einge­setz­ten Kräfte sind zu beson­ne­nem Handeln und zur äußers­ten Zurück­hal­tung zu ermah­nen.

Donnerstag, 2. November 1989

Nach­rich­ten
Die DDR-Regie­rung behan­delt auf ihrer wöchent­li­chen Sitzung die “kriti­sche Lage im Lande” und kündigt ein Reise- und Medi­en­ge­setz an. Es folgt eine Reihe von Rück­trit­ten: Margot Honecker (Minis­ter für Volks­bil­dung), Harry Tisch (FDGB-Vorsit­zen­der), Hein­rich Homann (Vorsit­zen­der der NDPD), Gerald Götting (Vorsit­zen­der der CDU) sowie die SED-Bezirks­se­kre­täre von Suhl und Gera.

Es gibt wieder Demons­tra­tio­nen in mehre­ren Städ­ten.

Veröf­fent­li­chun­gen
Die Tages­zei­tung
In West-Berlin rech­net man noch in diesem Jahr mit 100.000 Touris­ten aus der DDR. Seit Berlins Regie­ren­der Bürger­meis­ter Momper mit der Über­zeu­gung, die DDR werde bis Weih­nach­ten die neuen Reise­ge­setze verab­schie­den, von seinem Blitz-Besuch aus Ost-Berlin zurück­ge­kehrt ist, betrach­tet man die Mauer als symbo­li­sches Relikt.

Die Tages­zei­tung
Inter­view mit Manfred “Ibra­him” Böhme, Chef der neu gegrün­de­ten SDP:
Krenz wird versu­chen, mit Reform­be­stre­bun­gen so weit zu gehen, dass er der Oppo­si­tion Gefolg­schaft abzie­hen, zumin­dest aber Menschen verun­si­chern kann, um dann unter Umstän­den die Oppo­si­ti­ons-Bewe­gung zum Erlie­gen zu brin­gen. Ich glaube, dass die Führung momen­tan nicht in der Lage ist, repres­siv mit der Oppo­si­tion umzu­ge­hen. Denn die SED befin­det sich derzeit in einem Auflö­sungs­pro­zess. Wäre die Rede von Egon Krenz vor drei Mona­ten gekom­men, hätte er mögli­cher­weise die Partei­ba­sis für die SED retten können. Drei Monate hat man geschwie­gen, um den Vete­ra­nen einen möglichst unbe­schä­dig­ten Geburts­tag über­rei­chen zu können. Diese drei Monate sind der histo­ri­sche Zeit­raum, in dem sich die Oppo­si­tion erst­mals deut­lich der Bevöl­ke­rung vermit­teln konnte.
Sehen Sie für die SED über­haupt noch die Chance, Verhand­lun­gen über die weitere Entwick­lung zu umge­hen?
Wenn sich die Macht­ha­ber in der nächs­ten Zeit nicht auf konkrete Schritte fest­le­gen lassen, müssen sie schon bald abtre­ten.
Abtre­ten auf Druck von unten?
Ja.
Den Sie orga­ni­sie­ren werden?
Den brau­chen wir gar nicht zu orga­ni­sie­ren. Ich glaube, wenn nicht bald konkrete Schritte kommen, müssen wir den Druck von unten eher brem­sen.

Mittwoch, 3. November 1989

Nach­rich­ten
Am Vorabend der großen Demons­tra­tion in Berlin wendet sich Egon Krenz mit einer Erklä­rung an die Bürger der DDR. Er erklärt, dass es Refor­men geben wird sowohl im poli­ti­schen wie auch im Wirt­schafts- und Bildungs­be­reich. Auch soll ein Verfas­sungs­ge­richt einge­setzt sowie ein Wehr­ersatz­dienst einge­führt werden. Gleich­zei­tig kündigt er den Rück­tritt der Polit­büro-Mitglie­der Erich Mielke, Hermann Axen, Erich Mücken­ber­ger und Alfred Neumann an.

Das “Neue Deutsch­land” entschul­digt sich für die Story vom 21. Septem­ber, von dem mit einer Ment­hol­zi­ga­rette betäub­ten und in den Westen verschlepp­ten Mitropa-Koch. Recher­chen hätten erge­ben, dass die Geschichte so nicht statt­ge­fun­den habe. Auch die “Aktu­elle Kamera” (AK Zwo) des DDR-Fern­se­hens entschul­digt sich bei den Zuschau­ern, poli­ti­sche Eingriffe der Zensur zuge­las­sen zu haben.

Veröf­fent­li­chun­gen
Berli­ner Zeitung
Mit Beginn des Monats sind alle fünf im vergan­ge­nen Herbst aus den Kinos genom­me­nen sowje­ti­schen Spiel­filme wieder dem Publi­kum zugäng­lich: “Die Kommis­sa­rin”, “Thema”, “Der kalte Sommer des Jahres 53”, “Spiele für Schul­kin­der” sowie “Und morgen war Krieg”. “Damit ist eine Entschei­dung rück­gän­gig gemacht worden, die seiner­zeit will­kür­lich und ohne Abstim­mung mit denen getrof­fen wurde, die für den Ankauf dieser Filme, ihre Synchro­ni­sa­tion und Auffüh­rung im Rahmen des Festi­vals des Sowje­ti­schen Films verant­wort­lich waren”, sagte der stell­ver­tre­tende Kultur­mi­nis­ter Horst Pehnert, Leiter der Haupt­ver­wal­tung Film. Neu geprüft werde, den Film “Die Reue” von Tengis Abuladse in der DDR zu zeigen. “Die Anwei­sung zum Kauf des Film wurde bereits erteilt”, sagte der Minis­ter.

Samstag, 4. November 1989

Nach­rich­ten
Am frühen Morgen star­tete die Staats­si­cher­heit einen letz­ten Versuch, Einfluss auf die geplante Demons­tra­tion zu nehmen. Sie verteilte sich auf dem Alex­an­der­platz und begann die ersten Demons­tran­ten anzu­spre­chen, um sie zu über­zeu­gen, wieder nach Hause zu gehen. Natür­lich klappte das nicht und so sammel­ten sich den ganzen Vormit­tag über erst Zehn‑, dann Hundert­tau­sende auf dem Alex. Bereits um zehn Uhr gab es eine Kund­ge­bung in der Moll­straße, vor dem Gebäude der Nach­rich­ten­agen­tur ADN. Daran nahmen vor allem Kunst- und Kultur­schaf­fende teil, sowie viele Jour­na­lis­ten. Als die Demons­tra­tion vom ADN-Haus am Alex­an­der­platz ankam, war dieser bereits mit etwa einer Million Menschen gefüllt.
Auf der Lade­fä­che eines LKW vor dem Haus des Reisens war ein klei­nes provi­so­ri­sches Holz­po­dest aufge­baut, eine Laut­spre­cher­an­lage über­trug die Anspra­chen auf den ganzen Platz. Die Orga­ni­sa­to­ren waren von der Masse der Menschen über­rascht und über­wäl­tigt. Niemand hatte mit so vielen Teil­neh­mern gerech­net.
Dann began­nen die Anspra­chen, die von der Menschen­menge aufmerk­sam verfolgt wurden. Neben eini­gen Promi­nen­ten, z.B. Schrift­stel­lern wie Heym (der viel Applaus bekam), Künst­lern aus dem Thea­ter (z.B. Heiner Müller) und SED-Funk­tio­nä­ren wie Schab­ow­ski (der ausge­pfif­fen wurde) kamen auch einige Unbe­kannte aus der Bevöl­ke­rung zu Wort. Zum Beispiel ein Student der Humboldt-Uni oder ein junger Mann aus Ungarn. Doch in erster Linie waren es die bekann­ten Gesich­ter, die hier dem Volk seine Stimme wieder­ga­ben, die Refor­men verlang­ten, die sich gar für den Einmarsch — auch der NVA — 1968 in die CSSR entschul­dig­ten. Die Demons­tra­tion, die offi­zi­ell zur Unter­stüt­zung des DDR-Arti­kel 27 und 28 orga­ni­siert war (freie Meinungs­äu­ße­rung, Versamm­lungs­recht) wurde zum Rund­um­schlag, wie auch nicht anders zu erwar­ten. Jour­na­lis­ten des DDR-Fern­se­hens entschul­dig­ten sich bei der Bevöl­ke­rung für ihre bishe­rige Hof-Bericht­erstat­tung, der Rektor der Film­hoch­schule verlangte, dass kein Wort und kein Bild aus den Filmen mehr zensiert werden dürfe.
Der Versuch den Ex-Stasi-Führers Markus Wolf, sich selbst als Oppo­si­tio­nel­len hinzu­stel­len, ging im Pfeif­kon­zert unter. Unmit­tel­bar vor ihm hatten die Orga­ni­sa­to­ren Kurt Demm­ler singen lassen: “Irgend­ei­ner ist immer dabei, von der ganz leisen Poli­zei…“
Als letzte Redne­rin betrat die Schau­spie­le­rin Steffi Spira das Podest. Sie sprach sicher noch­mal allen aus dem Herzen, als sie sagte, sie möchte, dass ihre Enkel ohne Fahnen­ap­pell und ohne Staats­bür­ger­kunde aufwach­sen.
Die gesamte Kund­ge­bung, die mehr als drei Stun­den dauerte, wurde live im DDR-Fern­se­hen über­tra­gen. Die Menschen auf dem Platz und sicher auch dieje­ni­gen, die sie nur im Fern­se­hen mitver­fol­gen konn­ten, haben gespürt, dass die Worte wahr waren, die Stefan Heym dort sprach: “Es ist, als habe einer ein Fens­ter aufge­sto­ßen nach all den Jahren der Stagna­tion, nach all den Jahren der Dumpf­heit und des Miefs.”

Das Fern­se­hen der DDR brachte am Abend, im Rahmen der “Aktu­el­len Kamera” mehrere Beiträge in eige­ner Sache. Auch hier gab es eine Entschul­di­gung, dass sich die Jour­na­lis­ten dazu her gaben, nur die Bericht­erstat­tung der Herr­schen­den zu über­neh­men und sich der Zensur nicht zu wider­set­zen. Man gelobte Besse­rung und kündigte an, sich nun unab­hän­gig zu orga­ni­sie­ren.

Sonntag, 5. November 1989

Nach­rich­ten
In der Bekennt­nis­kir­che in Berlin grün­det sich eine Initia­tiv­gruppe, die die Schaf­fung einer Grünen Partei in der DDR vorbe­rei­ten soll.

In Leip­zig wird Roland Wötzel, einer der “Sechs von Leip­zig”, Erster Sekre­tär der SED-Bezirks­lei­tung, nach­dem Horst Schu­mann aus “gesund­heit­li­chen Grün­den” zurück­ge­tre­ten ist.

Montag, 6. November 1989

Nach­rich­ten
Im DDR-Fern­se­hen star­tet das Nach­rich­ten-Maga­zin “Klar­text”. Thema der ersten Sendung: Die Bausub­stanz von Leip­zig. Danach sind die Tele­fone bis nachts besetzt, die Zuschauer gratu­lie­ren zur neuen Offen­heit.

In Leip­zig versu­chen der Bürger­meis­ter und der SED-Bezirks­se­kre­tär zu spre­chen, werden aber mit Rufen wie “Zu spät, zu spät!” ausge­buht.

Der Entwurf für ein neues Ausrei­se­ge­setz stößt auf Ableh­nung, die Bevöl­ke­rung verlangt eine unkom­pli­zierte Lösung. Über das Wochen­ende haben wieder über 30.000 Bürger das Land Rich­tung CSSR verlas­sen, um in die Bundes­re­pu­blik auszu­rei­sen.

Dienstag, 7. November 1989

Nach­rich­ten
Der Rechts­aus­schuss der Volks­kam­mer lehnt den Entwurf des Reise­ge­set­zes als unzu­rei­chend ab.
Danach tritt der Minis­ter­rat unter Willi Stoph geschlos­sen zurück. Bis zur Bildung eines neuen Kabi­netts blei­ben die Minis­ter kommis­sa­risch im Amt. Als letzte Entschei­dung schaf­fen sie den Wehr­kunde-Unter­richt in der Schule ab. Das Polit­büro nimmt den Rück­tritt an und berei­tet das am folgen­den Tag statt­fin­dende ZK-Plenum vor, das den Rück­tritt des Polit­bü­ros vorsieht. Dem Mate­rial können die ZK-Mitglie­der erst­mals Details über die Kämpfe im Polit­büro und auch über die kata­sto­phale wirt­schaft­li­che Lage entneh­men.

In Berlin demons­trie­ren wieder tausende Menschen und fordern freie Wahlen. Hier bildet sich auch eine unab­hän­gige Unter­su­chungs-Kommis­sion zu den staat­li­chen Über­grif­fen am 7. und 8. Okto­ber.

Mittwoch, 8. November 1989

Nach­rich­ten
Das Polit­büro tritt zurück, das neue wird von der 10. ZK-Tagung gewählt, das dies­mal nur aus elf statt wieder aus 21 Mitglie­dern besteht. Hans Modrow wird ins Polit­büro gewählt und auch dessen Kandi­dat für das Amt des Minis­ter­prä­si­den­ten.

Das Innen­mi­nis­te­rium gibt die Anmel­dung des Neuen Forums bekannt.

Bundes­kanz­ler Kohl erklärt vor dem Bundes­tag, dass wirt­schaft­li­che Hilfe für die DDR erst nach Zulas­sung der Oppo­si­tion, nach freien Wahlen und Verzicht der SED auf den Führungs­an­spruch möglich sei.

Veröf­fent­li­chun­gen
Fern­se­hen der DDR
Christa Wolf:
Was können wir Ihnen verspre­chen? Kein leich­tes, aber ein nütz­li­ches Leben. Keinen schnel­len Wohl­stand, aber Mitwir­kung an großen Verän­de­run­gen. Wir wollen einste­hen für Demo­kra­ti­sie­rung, freie Wahlen, Rechts­si­cher­heit und Frei­zü­gig­keit. Unüber­seh­bar ist: Jahr­zehnte alte Verkrus­tun­gen sind in Wochen aufge­bro­chen. Wir stehen erst am Anfang des grund­le­gen­den Wandels in unse­rem Land. Helfen Sie uns, eine wahr­haft demo­kra­ti­sche Gesell­schaft zu gestal­ten, die die Vision eines demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhin­dern, dass er wieder im Keim erstickt wird. Wir brau­chen Sie. Fassen Sie zu sich und zu uns, die wir hier blei­ben wollen, Vertrauen.

Donnerstag, 9. November 1989

Nach­rich­ten
Das Zentral­ko­mi­tee setzt seine Plenar­ta­gung fort. Doch von den neuen Führungs­ka­dern werden schon wieder vier abge­wählt oder treten zurück.

Die Bürger­recht­le­rin Vera Wollen­ber­ger verlangt am Vormit­tag an einem Berli­ner Grenz­über­gang ihre Einreise aus dem Exil. Sie wird abge­wie­sen, weigert sich aber zurück zu gehen. West­deut­sche Besu­cher unter­stüt­zen sie, bis die Grenz­po­li­zis­ten nach­ge­ben.

Zum ersten Mal führen DDR-Medien Inter­views mit der Bürger­recht­le­rin Bärbel Bohley (siehe unten).

Auf der abend­lich statt­fin­den­den und live im Fern­se­hen über­tra­ge­nen Pres­se­kon­fe­renz nach dem ZK-Plenum teilt der für Infor­ma­tion zustän­dige Günter Schab­ow­ski eher beiläu­fig mit, dass der Minis­ter­rat der DDR eine neue Reise­re­ge­lung beschlos­sen hat: Kurz­fris­tige Visa-Ertei­lung ohne Voraus­set­zun­gen. Die ARD-Tages­schau plat­ziert die Meldung an erster Stelle mit der Schlag­zeile: “DDR öffnet Grenze”.
Massen von Menschen strö­men sofort zu den Über­gän­gen, um zu sehen, ob es die verspro­chene Reise­frei­heit tatsäch­lich gibt. Niemand weiß, ob es sich um ein Gerücht, einen Verspre­cher oder um eine gültige Entschei­dung handelt. Ange­sichts des Andrangs verlie­ren die völlig über­rasch­ten Grenz­ler am Über­gang Born­hol­mer Straße im Berli­ner Stadt­be­zirk Prenz­lauer Berg die Kontrolle und die Über­sicht. Um 22.30 Uhr öffnen Obers­leut­nant Harald Jäger und Major Manfred Sens als erste das Tor. Die ande­ren Grenz­über­gänge folgen bald danach. Damit ist die Mauer gefal­len, das letzte Boll­werk der SED-Dikta­tur zerstört.

Veröf­fent­li­chun­gen
Der Morgen (Zeitung der LDPD)
Inter­view mit Bärbel Bohley:
Viele haben unser Land verlas­sen, Sie sind hier geblie­ben…
Bei mir ist da eine Portion Trotz dabei. Eigent­lich gehört das Land uns und nicht denen, die es regie­ren. Ich habe niemals einse­hen können, weshalb ich gehen soll. Viel­leicht müss­ten erst einmal andere gehen? Man kann ein Land nicht aufge­ben, nur weil einem die Regie­rung nicht gefällt. Mir ist die Heimat hier sehr wich­tig. Leute, die diese Schnitte mit sich machen, erken­nen im Grunde genom­men oft nicht, was das für Schnitte sind. Denn die wenigs­ten sind zu Vaga­bun­den gebo­ren.
Wie gefähr­lich war im Nach­hin­ein betrach­tet öffent­li­ches Anders­den­ken?
Es gab in diesem Land nichts Gefähr­li­che­res, als anders zu denken. Und das war schon vor mir so. Leute wurden dafür bestraft, weil sie selbst­stän­dig dach­ten. Seit vier­zig Jahren vertrieb man damit Menschen. Das hat mit Arro­ganz der Macht zu tun, denn es wurde nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg bestimmt. Wer den Weg, selbst wenn er zum glei­chen Ziel führen sollte, anders gedacht hatte, wurde er schon krimi­na­li­siert.