Während sich die Spree fünf oder sechs mal von Norden nach Süden und von Süd nach Nord hebt, zackt der Straßenzug Alt-Moabit / Invalidenstraße nördlich über den Fluss, als hätten sich die Stadtplaner vorgenommen, das fließende Rund des Naturwerkes menschenwerklich durch ein eckiges Auf-und-Ab zu kommentieren.
Die Straße Alt-Moabit, wenn man dort, wo sie sich treffen, nicht in die Invalidenstraße einböge, würde in einem fast rechtwinkligen Bogen direkt ins Regierungszentrum führen und über die beziehungsvolle Entlastungsstraße auch gleich wieder hinaus. Der Weg über die Invalidenstraße führt dagegen nach Mitte hinein und ist also der städtischere Weg; er macht dem Spaziergänger deutlich, dass Bundesparlament und Bundesregierung im großen Berlin keineswegs das Hauptsächliche, sondern etwas sind, was man ganz leicht auch rechts liegen lassen kann. Es wird nicht die Hauptstadt sein, die die Stadt, sondern umgekehrt die Stadt, die die Hauptstadt definiert. Wo Parlament und Regierung sind, wird hier immer auch etwas anderes sein. Auch hier in der Turmstraße, von der nur noch wenige wissen, dass sie ein paar Monate auch Ernst-Thälmann-Straße hieß, und in Alt-Moabit, das nach einer biblischen Heimat Vertriebener benannt ist, auch hier ist der Spaziergänger freilich an einem Ort, an dem bald Regierung stattfinden soll.
In den Neubauten am Spreebogen, zwischen Alt-Moabit und Spree, einer Art Gründercity, soll — freilich wenig passend zur Planungsidee — ein Bundesministerium untergebracht werden. Vielleicht stimmt es nicht.
Der Bürgerpark “Kleiner Tiergarten”, zwischen den Straßen, endet an der Johanniskirche. Die Kirche ist ein Beispiel, sie gehört in die Bau- wie in die Sozialgeschichte; vom großen Schinkel entworfen, vom bedeutenden Stüler vervollständigt; ein Feldzeichen jenes preußischen Staatskirchentums, das politische Rolle zu spielen hatte: “Beruhigungskirchen” habe ich geschrieben, ein Pfarrer hat mir das übelgenommen, entschuldigend hat er auf Johann Hinrich Wichern verwiesen, den christlichen Reformer, aber gerade hier, wo wir jetzt sind, entschuldigt der Wichern gat nichts, im Gegenteil.
Hinter der Kirche kommt ein Kirchhof, dann beginnt die Justiz. Folgt die JVA, Justizvollzugsanstalt, Gefängnis. Auch da hat Schinkel mitgemischt, der überhaupt ein großer Freund von Anstalten war. Einer der frühen Bebauungspläne für das Gefängnisareal ist von ihm, sein letztes städtebauliches Werk, darauf ist er in Geisteskrankheit verfallen. Und: Proletariererziehung durch Einzelhaft — das erhob jener Wichern zum Programm.
Vor 30 Jahren war ich hier auch Richter, die Zeit könnte ich in meiner Biografie vermissen. Ich sitze ein Weilchen auch dem Kirchhof in der Wilsnacker Straße, wo letzte Opfer von Krieg und SS eingegraben sind, über 500. Der Anblick der dicht gegenüber liegenden Gerichtsfassade ist bedrückend. Die silbrigen Rollläden sind gegen 15 Uhr schon unten, hier kein Eingang, vor allem — denkt man — kein Ausgang.
Ich beeile mich wegzukommen, ich habe meine Gedanken nicht in der Zucht der ruhigen Vernunft, ich werde mich noch unbeliebt machen.
Als ich in die verkehrsberuhigte Otto-Dix-Straße einbiege, habe ich das Gefühl, etwas Schweres und Beschwerendes hinter mir zu lassen. Ich muss freundlichere Seiten der Stadt aufziehen. Zwei Straßen gibt es in Berlin, die nach der Berlin-Chansonette Claire Waldoff aus Gelsenkirchen benannt sind.
Von der Claire-Waldoff-Promenade hier in Tiergarten zur Claire-Waldoff-Straße, die von der Friedrichstraße einen nördlichen Bogen ins Halbprivate zieht, gehe ich jetzt.
Es gibt Kiezähnlichkeiten zwischen hier und da. Aber die sind natürlich zufällig, auf die Gastwirtstochter aus dem Ruhrpott, die dann berlinischer war als Berlin, können sie nicht zurückgeführt werden.
Wo die Invalidenstraße von Tiergarten nach Mitte wechselt, ist sie eine aufregende Baustelle. Eine Stätte heftiger Veränderungen. Die aktuelle Vorläufigkeit bereitet lautstark eine Regierungsendgültigkeit vor, um die aber Berlin trotzdem nicht anfängt, eine ganz andere Stadt zu sein.
Während ich nun auf der im heftigen Lkw-Verkehr zitternden Sandkrugbrücke stehe und aufs werdende Wirtschaftsministerium blicke, bin ich freilich nicht sicher, ob mich die bevorstehende Änderung von Parlamentarismus und Gouvernementalismus nicht doch ein bisschen beunruhigen. Manchmal denke ich, Bonn ist vielleicht solider als Berlin, Berlin ist extrem, himmelhoch oder grubentief, von schwankender Mentalität, zitternd wie die Brücke, über einem anarchistischen Untergrund, dem die schwärzliche Fahne steht, die auf dem Hamburger Bahnhof über einer Kunst flattert, die vielleicht gar keine Kunst sein will.
Mit solchen Gedanken gehe ich an dem in glatten Marmor gekleideten Robert Koch vorüber, der sich an der Luisenstraße nur mühsam gegen die Baucontainer behauptet.
An das Archiv der Akademie der Künste schließt sich jetzt das Louisen Carree an. Vorn steht noch in sich selbst ironisierenden Containern die “Welt der Erotik” von der bis in die Geschlechtsteile desinfizierten Beate Uhse, über die Straße ragen die gelben Kräne, rechts liegt die Charité, so sehr Stadt in der Stadt, dass der Unterschied von Gesundheit und Krankheit sich vor der Stadt nahezu aufhebt.
Domizil der kurzen Wege — ist der Werbeslogan jenes Louisen Carree. Auf seinem Werbeplakat wird die Kolonne:
- Verkehrsminister 200 m
- Wirtschaftsminister 400 m
- Reichstag 800 m
- Kanzler 900 m
fast ironisch zusammengefasst zu: Komische Oper 5 Minuten.
Die Erweiterung der Katholischen Akademie wird ein Stück weiter so angezeigt, dass der Unkundige denken könnte, die Erweiterung solle in den Dorotheenstädtischen Friedhof hinein erfolgen, dessen berühmteste Gäste jedenfalls nicht katholisch waren.
Vor kurzem ist Jürgen Kuczynski dort eingegraben worden, ohne jede Beteiligung des Stadtregiments. Mancher sagte: Das war das Jahrhundert, weil er fast so alt war wie dieses. Auch Hegel war nicht das Jahrhundert. Borsig schon eher. Das Jahrhundert ruht in unbekannten Gräbern. Klag- und klanglos geht es zum Orkus hinab.
In beende meinen heutigen Spaziergang im “Malete”. Zur Straße der Claire Waldoff gehe ich jetzt doch nicht mehr.
Die U‑Bahnstation Oranienburger Tor ist richtig hübsch geworden, die Bahn hat sich gewaschen. Obwohl es einem an manchen Stellen, auch hier, heftig Sand entgegenbläst. Das ist der Sand der Veränderung, der Streusand der Zukunft; indem ich ihn mir von der Brille wische, freue ich mich zu leben. Hier, in Berlin. Es wird jeden Tag schöner.
Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)
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