Das Sozialistische Zentrum in Moabit

Vor rund 50 Jahren war der Stadt­teil Moabit ein Zentrum der linken und links­ra­di­ka­len Szene West-Berlins. Die Indus­trie­kom­plexe im Westen wurden durch maois­ti­sche Gewerk­schaf­ter poli­tisch bear­bei­tet (bis heute!), am Otto­platz began­nen am 1. Mai kommu­nis­ti­sche Demons­tra­tio­nen und in der Stephan­straße befand sich das Sozia­lis­ti­sche Zentrum. Bekannt wurde die ehema­lige Filz­fa­brik im Hof der Nummer 60 als vorüber­ge­hende Behau­sung der Kommune 1, die hier Anfang August 1968 einzog. Bei einer Poli­zei­raz­zia in der K1 wurden 1969 Spreng- und Brand­sätze mit elek­tri­schen Zeit­zün­dern gefun­den, bei denen es den Verdacht gab, dass die Poli­ti­sche Poli­zei sie gleich mitge­bracht hatte. Im glei­chen Jahr beka­men die Frauen der Kommune noch Besuch von Jimi Hendrix, der vorher ein Konzert im Sport­pa­last gege­ben hatte. Ende 1969 löste sich die Kommune 1 wieder auf.

Nach der Spaß­gue­rilla kam 1970 die Außer­par­la­men­ta­ri­sche Oppo­si­tion. Hier war das Sozia­lis­ti­sche Zentrum unter­ge­bracht, Sitz verschie­de­ner kommu­nis­ti­scher Orga­ni­sa­tio­nen und Zeitun­gen. Darun­ter die PL/PI (Prole­ta­ri­sche Linke / Partei­initia­tive) und andere maois­ti­sche Betriebs­grup­pen. Sie produ­zier­ten in der Stephan­straße die Betriebs­zei­tung „Klas­sen­kampf“, die in den West-Berli­ner Indus­trie­be­trie­ben wie Siemens, AEG, Osram, SEL oder Daim­ler-Benz verteilt wurde.

Die KPD als damals stärkste Kraft der kommu­nis­ti­schen Linken grün­dete in der Stephan­straße ihre erste „Stra­ßen­zelle“ über­haupt, die ab 1973 mit der „Kommu­nis­ti­schen Presse“ eben­falls eine eigene Zeitung heraus­brachte. Es gab den Viet­na­maus­schuss Stephan­straße, die MLHPol (Marxis­tisch-Leni­nis­ti­sche Hoch­schul­gruppe Poli­to­lo­gie) sowie Grup­pen der KPD/ML. Schräg gegen­über, im Kino Stephan-Licht­spiele, zeig­ten verschie­dene Maois­ten-Parteien Filme und hiel­ten Versamm­lun­gen ab.

In der Stephan­straße 60 saß auch die Rote Hilfe West­ber­lins, die sich um poli­ti­sche und soziale Gefan­gene kümmerte und die größte Gruppe dieser Art in der Bundes­re­pu­blik war. Dane­ben erschien hier die Zeit­schrift FIZZ, die sich als Sprach­rohr der aufblü­hen­den anti­au­to­ri­tä­ren Neuen Linken sah. Sie propa­gierte den mili­tan­ten Unter­grund und zielte dabei auf die Orga­ni­sie­rung der prole­ta­ri­schen Jugend ab. Neun der zehn erschie­ne­nen FIZZ-Ausga­ben wurden beschlag­nahmt, weil sie auch die Grün­dung einer bewaff­ne­ten Stadt­gue­rilla propa­gierte. Die 10. Ausgabe soll nur deshalb nicht verbo­ten worden sein, weil der zustän­dige Beamte gerade im Urlaub war. Anders als die ande­ren Grup­pen gehör­ten die Macher*innen der FIZZ nicht zum stali­nis­ti­schen oder maois­ti­schen kommu­nis­ti­schen Spek­trum, sondern waren als „Hasch­re­bel­len“ eher anar­chis­tisch.

Aber auch die Kommu­nis­ten mach­ten in der Stephan­straße nicht nur Partei­po­li­tik. Für die Rentner*innen im Stadt­teil wurden kommu­nis­ti­sche Kaffee­kränz­chen orga­ni­siert und im Erdge­schoss des Hauses gab es einen Kinder­la­den.
Doch nach ein paar Jahren war wieder Schluss. Mitte der 1970er Jahre waren die Parteien und verschie­de­nen Initia­ti­ven zerstrit­ten oder hatten sich aufge­löst. In den folgen­den Jahren wech­sel­ten Eigen­tü­mer und Mieter mehr­mals, bis das Haus 1997 von einem Paar über­nom­men wurde. Sie sanier­ten das Gebäude, bauten den im Krieg wegge­bomb­ten Teil des Hauses wieder auf und betrei­ben heute unter ande­rem eine Ferien-Wohn­etage. An das Sozia­lis­ti­sche Zentrum erin­nern nur doch die großen, hellen Räume.

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