»Moses Mendels­sohn, aus Rich­tung Pots­dam kommend sich dem Pots­da­mer Tor nähernd, das ihm versperrt bleibt, ist an der Stadt­mauer entlang bis zum Bran­den­bur­ger Tor gegan­gen. Auch dort durfte er nicht in die Stadt hinein, aber sehen konnte er sie die ganze Zeit. Hatte viel­leicht sogar von der Straße Unter den Linden gehört, die zum Grei­fen nahe lag. Aber was ist schon nahe­lie­gend in Berlin?

Moses Mendels­sohn muss nun zurück, von Hunde­ge­bell belehrt, ein Stück in den Tier­gar­ten hinein und dort in der Nähe der könig­li­chen Meie­rei zum Spree­fluss sich zu wenden, den er zu über­que­ren hat. Hier wird Schleu­ens Stadt­karte unüber­sicht­lich. Dafür mögen mili­tä­ri­sche Gründe maßgeb­lich sein. Manche Brücke gibt es, die gibt’s gar nicht. Wie soll einer über den Spree­fluss gelan­gen? Ganz abge­se­hen davon, dass bei Schleuen Norden unten liegt und wir dauernd umden­ken müssen. Daher auch Ost und West beach­ten.

Etwa dort, wo die Tier­gar­ten­brü­cke über die Spree führt, scheint es eine Neben­mauer gege­ben zu haben. Ihren Verlauf — und damit den Weg des jungen Moses — verfol­gen kann der Betrach­ter nicht, denn die einmon­tierte Abbil­dung der Paro­chi­al­kir­che schnei­det den Karten­rand. Aber wer eine Brücke nicht bloß als Über­weg zu nehmen gewohnt ist, sondern als stra­te­gi­sche Enge, der scheint recht infor­miert, wenn er die Tier­gar­ten­brü­cke der befes­tig­ten Stadt zuord­net und ande­rer­seits einräumt, dass sie außer­halb der Gren­zen das Über­que­ren des Wassers auch demje­ni­gen ermög­licht, der noch kein Einwoh­ner ist.

Moses muß das Chari­té­ge­bäude umschrei­ten, das sich hart am Rand der Mauer befin­dende könig­li­che Kran­ken­haus, doch auch am nächs­ten Tor, dem heute noch so genann­ten Platz vor dem Neuen Tor, kann er nicht nach Berlin hinein. Frage: Hat der Junge sich unter­wegs nicht erkun­di­gen können? Warum schickt ihn jeder Wach­pos­ten von einem Tor zum nächs­ten? Oder sagen alle zu ihm, wenn er näher kommt: Nein, hier ist nicht das Rosen­tha­ler Tor? Was nützt es einem Orts­frem­den, denn er hört »Rosen­tha­ler Tor«? Wo liegt denn das? Weiter­ge­hen in Rich­tung Osten.

Schleu­ens präzise Stadt- und Land­karte verrät, dass sich als nächste Öffnung der Stadt das Orani­en­bur­ger Tor anbie­tet. Zuvor hat Moses das Flüss­chen Panke über­que­ren müssen und wahr­schein­lich nasse Füße bekom­men. Der Fluss ist zu schmal für eine Brücke und zu breit für einen Sprung. Viel­leicht aber gab es einen Tram­pel­pfad entlang der Mauer. Das Orani­en­bur­ger Tor ist groß und wich­tig. Es führt von dort eine mit dem Lineal nach Berlin gezo­gene Straße nach Süden durch die Fried­rich­stadt, deren recht­wink­lige Häuser­blö­cke und Stra­ßen eine vor dem Beginn der Bauar­bei­ten voll­zo­gene Stadt­pla­nung verra­ten. Wenn wir den Weg des jungen Menschen verfol­gen wollen, dann können wir das letzte Stück seines Weges zu Fuß nach­ge­hen. So gelan­gen wir zum Rosen­tha­ler Platz. Hier war einst das Rosen­tha­ler Tor. Hier hat Moses Mendels­sohn die Stadt betre­ten.

Warum ist er erst um halb Berlin gelau­fen? Warum hat er nicht den kürze­ren Weg genom­men, den gera­den, den logi­schen, den norma­len, den natür­li­chen, den von Menschen vor ihm für Menschen ange­leg­ten Weg? Weil fremde Juden nur durch das Rosen­tha­ler Tor nach Berlin einrei­sen durf­ten. Wenn Vorschrif­ten begrün­det werden müss­ten, hätten es nicht nur die Histo­ri­ker einfa­cher, sondern schon die Menschen, denen etwas vorge­schrie­ben wird.

Als Moses eintraf, gab es nicht ganz 2.000 Juden in Berlin, das rund 100.000 Einwoh­ner zählte. Wer als frem­der Jude in die Stadt wollte, musste sich am Rosen­tha­ler Tor regis­trie­ren lassen. Er bekam einen Passier­schein zur einma­li­gen Ein- und Ausreise, auf dem genau einge­tra­gen wurde, wie lange sich der Mensch in der Haupt­stadt aufhal­ten wollte. Diesen Schein musste der Inha­ber vom Kommis­sar des Stadt­vier­tels, in dem er Wohnung nahm, gegen­zeich­nen lassen. Die Strafe für die Unter­las­sungs­sünde war schon aufge­druckt: ein Reichs­ta­ler. Das war sehr viel Geld. Also hütete sich jeder, sein Ausweis­pa­pier zu verlie­ren, denn er musste es bei der Ausreise vorwei­sen und ablie­fern und weitere Kontrol­len über sich erge­hen lassen.

Ein vier­zehn­jäh­ri­ger Junge, der seine Habse­lig­kei­ten bei sich trägt und nichts an Geschen­ken oder Waren mitführt, die er verkau­fen könnte — das lohnte wohl nicht das Melde­pa­pier. Aber auch ein klei­ner Mensch wird regis­triert. Am Rosen­tha­ler Tor sitzt für diese Aufgabe nicht etwa der könig­li­che Torschrei­ber, sondern die Jüdi­sche Gemeinde muss für reisende Juden einen gesetz­lich geneh­mig­ten, inso­fern staat­lich geprüf­ten Beam­ten stel­len, der die Forma­li­tä­ten erle­digt. Und da die Tole­ranz schon erfun­den worden ist, entsteht die Frage, weshalb nicht für christ­li­che Reisende je ein Mitar­bei­ter der evan­ge­li­schen und der katho­li­schen Kirche die Bücher führt an der Staats­grenze und ein weite­rer Mann für Grenz­fälle bereit­steht, als da sind Moham­me­da­ner, Athe­is­ten, Mormo­nen, Feuer­an­be­ter und wer weiß wer noch kommen und gehen will nach Berlin.

Wenn wir uns wie ein Verkehrs­po­li­zist auf den Rosen­tha­ler Platz stel­len, den Rücken nach Norden, das Gesicht dem alten Berlin zuge­wandt, und die Augen schlie­ßen, dann sehen wir das enge Tor in der Mauer. Linker Hand ist das Wach­haus, rechts sitzt der Einneh­mer, der Gebüh­ren­zie­her, denn für nichts ist nichts. Rechts, wo heute Damen­mode im Fens­ter hängt, auf dem Gelände bis zur Lini­en­straße, der nächs­ten Quer­straße vor uns, stand einst die Juden­her­berge. Dort versorgte die Jüdi­sche Gemeinde ihre Armen und prüfte die Einrei­se­ge­su­che.«

[Aus: »Herr Moses in Berlin« von Heinz Knob­loch, 1979]

weiter »

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*