“In der Acker­straße, die sich durch den trost­lo­sen Norden der Stadt zieht, ist an jeder Ecke eine Kaschemme. Licht­scheues Gesin­del lungert herum. Auf den Hinter­hö­fen spie­len rotz­nä­sige Rangen und plät­tern, was das Zeug hält. Es genügt, ein einzi­ges Haus zu betre­ten, um alle Häuser dieser Gegend zu kennen. Zusam­men­ge­pfercht in verwanz­ten Löchern, Wand an Wand, Tür an Tür, leben schlecht bezahlte Arbei­ter, geplagte Tage­löh­ner, Huren und Zuhäl­ter, abge­stumpfte Fami­li­en­vä­ter und betu­li­che Mütter, mit ihrer ewig hung­ri­gen Brut.”
So beginnt der Bericht über einen aufse­hen­er­re­gen­den Kindes­mord, der sich im Sommer 1904 in der Acker­straße 130 ereig­nete. Dieses Bild der Acker­straße kennen wir ja nun bereits seit über einem Jahr­hun­dert und es hat sich eher bestä­tigt, als dass sich die Verhält­nisse im Laufe derJahr­zehnte verbes­sert hätten. In den ersten drei Jahr­zehn­ten des 20. Jahr­hun­derts, vor allem aber in den 20er Jahren, hatte das Elend in Deutsch­land immer wieder Hoch­kon­junk­tur — und das spie­gelte sich auch in dieser Straße stets als erstes wider.

Die Einwoh­ner­zahl Berlins explo­dierte, die Indus­tria­li­sie­rung forderte immer neue Arbei­ter. Doch die Wohn­mög­lich­kei­ten pass­ten sich den Erfor­der­nis­sen nicht an. 1905 wohn­ten von den 2.040.148 Einwoh­nern Berlins 1.088.269, also über die Hälfte, in Wohnun­gen, in denen jedes beheiz­bare Zimmer mit drei bis zu 13 (!) Menschen belegt war. 158.511 Berli­ner wohn­ten in 23.786 Einraum-Wohnun­gen, in jedem Zimmer lebten durch­schnitt­lich 6–7 Menschen! 34.000 dieser Wohnun­gen hatten keine eigene Küche. Zwan­zig Jahre später gab es in Berlin noch immer 44.600 soge­nannte “Schlaf­gän­ger” oder “Schlaf­bur­schen”, die ausschließ­lich zum Schla­fen in eine Wohnung kamen, sich also nur ein Bett gemie­tet hatten. Dasselbe Bett wurde oft zu der ande­ren Zeit noch an jemand ande­ren vermie­tet. 70.743 Menschen wohn­ten damals in Keller­woh­nun­gen.
Ende der 20er Jahre bis Anfang der 30er wuchs die Stadt auf 3,5 Millio­nen Menschen an. Das Elend nahm paral­lel zur Wirt­schafts­krise immer mehr zu, die hohe Arbeits­lo­sen­zahl pola­ri­sierte die Menschen, es kam zu Aufstän­den und Stra­ßen­kämp­fen. Vor allem gegen Ende der Weima­rer Repu­blik versuch­ten die Parteien, das Elend für sich auszu­nut­zen. In ganzen Stra­ßen­zü­gen bekann­ten sich Kommu­nis­ten zum Miet­boy­kott, andere zogen mit, auch wenn sie eine andere Meinung hatten. Der gesell­schaft­li­che Druck zwang die Menschen, sich zu entschei­den, oft auch über das eigene Gewis­sen hlnweg. Gleich­zei­tig gab es immer mehr einen “Klas­sen­kampf von oben”. In den Betrie­ben wurde die Arbeits­lo­sig­keit von den Unter­neh­mern scham­los ausge­nutzt, um die Arbei­ter zu erpres­sen, zu spal­ten und zu diszi­pli­nie­ren — mit unter­schied­li­chem Erfolg. In den Klein- und Mittel­be­trie­ben war das noch eher möglich, doch gerade bei den Indus­trie­kon­zer­nen waren die Linken rela­tiv stark, so dass sie Streiks und Boykotte durch­zie­hen konn­ten. Wer nicht mitma­chen wollte, wurde dazu gedrängt.
Dasselbe Vorge­hen wie die Fabri­kan­ten prak­ti­zier­ten natür­lich auch die Haus­be­sit­zer. Sie stopf­ten die Häuser bis zum Bers­ten voll, um dort jeden nur mögli­chen Profit heraus­zu­ho­len. Wer nicht zahlen konnte, wurde gnaden­los raus­ge­schmis­sen, was nicht selten in Verzweif­lung und Selbst­mord der Betrof­fe­nen endete. Der Kino­film “Mutter Krau­sens Fahrt ins Glück”, der in der Acker­straße gedreht wurde, beschreibt sehr deut­lich und ergrei­fend die dama­lige Lebens­si­tua­tion des Indus­trie-Prole­ta­ri­ats und der Arbeits­lo­sen in den Berli­ner Arbei­ter­be­zir­ken.

Ein Beispiel dafür ist auch die Eisen­bahn­brü­cke an nörd­li­chen Ende der Acker­straße. Sie hat keinen offi­zi­el­len Namen, aber einen hat sie trotz­dem: Man nannte sie die “Schwind­sucht­brü­cke”. Und dieser Name ist aus der Erfah­rung heraus gebo­ren, denn unter der Brücke schlief zu dieser Zeit wohnungs­lo­ses, zuge­zo­ge­nes Indus­trie­pro­le­ta­riat. Obdach­lose, die sich dort Bret­ter­ver­schläge oder Zelte aufbau­ten. Dass das nicht gerade gesund war, zeigt in maka­be­rer Weise der Name, der dieser Brücke vom “Volks­mund” gege­ben wurde.
Die gesell­schaft­li­che Situa­tion in der Weima­rer Zeit ist bekannt, ebenso die Aufsplit­te­rung der poli­ti­sier­ten Arbei­ter auf die drei großen konkur­rie­ren­den Parteien. Und poli­tisch waren damals die meis­ten Menschen, dafür sorg­ten schon die miesen Lebens­ver­hält­nisse. So gab es dann gegen Anfang der 30er Jahre, aber noch vor dem Faschls­mus, gerade auch in der Gegend um die Acker­straße immer wieder Ausein­an­der­set­zun­gen zwischen den Nazis und den Kommu­nis­ten. Zwar stan­den sie beim großen BVG- Streik auch vor dem Busde­pot in der Usedo­mer Straße fried­lich beiein­an­der, doch der Kampf um die Vorherr­schaft fand eben vor allem auch auf der Straße statt. Vom SA-Sturm­lo­kal in der Usedo­mer Straße gingen immer wieder Über­fälle auf Kommu­nis­ten aus, die den Stadt­teil als “roten Wedding” für sich bean­spruch­ten. Ein Trug­schluss, wie die Wahlen 1933 zeig­ten, denn obwohl der Groß­teil der Weddin­ger Bevöl­ke­rung aus Arbei­tern oder Arbeits­lo­sen bestand, hieß das nicht auto­ma­tisch, daß sie auch links einge­stellt waren und KPD oder SPD wähl­ten. Gerade die KPD konnte in ihrer poli­ti­schen Arro­ganz nicht begrei­fen, dass arme Leute sich eben mehr für die Verspre­chun­gen von mehr Essen und besse­ren Wohnun­gen begeis­ter­ten, als für die Revo­lu­tion.
In dem Kapi­tel zur Miets­ka­serne “Meyer’s Hof” in diesem Buch wird am Beispiel dieses Hauses noch genauer auf die Lebens­ver­hält­nisse in den Prole­ta­rier­be­zir­ken wahrend der Weima­rer Zeit einge­gan­gen.

Bin jebo­ren Acker­straße

Mädel, lass da nich vablüffn, sei doch ja keen Demels­ack,
wenn da wat jefalln lässt, spieln wa dir ’n Scha­ber­nack,
denn wir Mädel von Berlin sind ja immer uff’n Kien
und so ziehn wa durch die Stra­ßen von Berlin dahin.

Bin jebo­ren Acker­straße und jetauft in Jauche Spree,
meines Vaters Krims­krams­la­den haftet an det Atelier
und in det Panti­nen­vier­tel is’n janz famosa Duft,
in der Straße, wo wa wohnen is ne richtje Moder­luft.

Refrain: Mädel, lass da…

In unsra Straße hat ’n Dokta eene Bimmel an sein Haus,
wenn die Leute nachts dran zotteln, kiekt der Olle oben raus.
Ick hab ooch mal dran jezot­telt und dann bin ick ausje­rückt
und der Olle ist von oben mit nem Knüp­pel nach­je­rückt.

Refrain: Mädel, lass da…

Und aus Rache bind ick ihm eenen Knochen an det Ding
und die Hunde, die da kommen, schnapp­ten schnell und ooch janz flink,
klin­ge­ling, klin­ge­ling, klin­ge­ling und wau wau
ick stand hinterm Baum und hinter mir der Olle — oh, wie schlau

Geschrie­ben um 1920, in der Acht­zi­gern wieder aufge­taucht

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7 Kommentare

  1. Ich kenne das Lied “Junge, lass dir nicht verblüf­fen, sei doch ja keen Dämal­sack, wenn da wat jefal­lem lässt, spieln se dir nen Scha­ber­nack, denn wir Jungen aus Berlin sind ja alle uffm Kien und so ziehn wa durch die Stra­ßen von Berlin dahin.
    Die Schö­ne­ber­ger Sänger­kna­ben haben das damals gesun­gen (50iger Jahre)

    • Ja, das kenne ich auch so und noch folgen­des:

      Uns’re Wirtin ist een Satan und wir Kinder sind nicht doof
      Wenn wa uffn Hof krakee­len wird die Olle puter­rot.
      Neulich schmiss se mit de Kohle als ick uff de Pumpe saß,
      donner­wet­ter dass ick hörn und sehn verjaß.

      und .…..

      Hier muss es noch einen weite­ren Text geben, den ich verges­sen habe.

      • … neulich traf ick diese Olle
        quat­schen stehn im 3. Stock
        und aus Rache schmiß ick ihr
        einen Schwär­mer untern Rock -
        als dat Ding dann explo­dierte
        war ick längst schon abmar­schiert
        und die Olle Janz schön blamiert…
        oder so ähnlich

      • Unsre Wirtin ist en Satan und wir Jören sind ihr Tod .Wenn wa ufn
        Hof krakerln wird die Olle puder­rot. Neulich schmiss sie mir mit Kohle als ick auf de Pumps saß,großer Bimbam dass ich Hörn und Sehn vergaß. Tags­d­ruf sah ick sehr denn quat­schen oben ufn 1. STOCK. Und aus Rache band ick ihr eenen Schwär­mer an den Rock.Eh der Schwär­mer explo­dierte, war ick längst schon rite­riert. Und so ziehen wa
        durch die Stra­ßen von Berlin dahin.

  2. So hab ick dit im Ohr:
    Acker­straße
    Bin jebo­ren Acker­straße und jetauft mit Jauche Spree,
    meines Vaters Jrün­ka­jaule jrenzt gleich an det Atel­lier
    und in det patine Vier­tel weht ne janz famose Luft,
    Junge lass dir nicht verblüf­fen wenn die Olle och mal knufft.
    Ref.:
    Junge lass dir nicht verblüf­fen, sei doch ja keen Demels­ack
    Wenn da wat jefal­len lässt, spielt man dir en Scha­ber­nak,
    doch wir Jungen aus Berlin sind ja alle uffn Kien
    und so ziehn wir durch die Stra­ßen von Berlin.

    Unsre Potsche is‘n Drachen und wir Kinder sind ihr Tod,
    wenn wa uff‘m Hof krakeh­len wird de Olle puter­rot.
    Neulich schmisse mich mit Kohlen als ick uff die Pumpe saß,
    dass mirs Hören und det Sehen janz verjas.
    Ref.

    Neulich Abend traf ick sie klat­schend amn ersten Stock
    Und aus Rache band ick ihr jleich nen Schwär­mer untern Rock
    Als det Ding dann explo­dierte war ick längst schon retou­riert
    Und die Olle die krakehlte ‑ach hab ick mir amüsiert.
    Ref:

    Neben an bei unserm Doktor hängt ne Klin­gel an det Haus,
    wenn du unten dranne zottels, kiekt der Olle oben raus,
    ick hab och mal dran jezot­telt und dann bin ick ausje­rückt
    weil der Olle kam von oben mit ner Krücke anje­rückt.
    Ref:
    Und aus Rache band ick ihm dann nen Knochen an det Ding
    Und die Hunde, die da kamen zogen schnell und zogen flink:
    Bimm bimm bimm und wau wau wau,
    wau wau wau und bimm bimm bimm,
    und so ziehn wir durch die Stra­ßen von Berlin

    (münd­li­che Über­lie­fe­rung)

  3. Bin jebo­ren Ackerst­asse und jetauft in Jauche Spree,
    meines Vaters Grün­kram­la­den haftet an en Atte­lier,
    unsre Wirtin isn Satan und wir Gören sind ihr Tot
    wenn wa ufn Hof krakelen wird die olle Pluder rot
    neulich warf se mir mit Kohlen wie ick uffe Pumpe sass
    Heil­jab­im­bam das mir Hörn und Sehn verjas.

    Neulich stand die alte KLat­sche om im ersten Stock
    und wir warfen ihr een Schwär­mer untern Rock
    eh der Schwär­mer explo­diert warn wir längst schon auto­miert
    ja wir Kinder aus Berlin sind uffn Kien.

    Nebenan da wohnt nen Doktor hat ne Bimmel an dem Haus
    wenn man unten dranne zottelt kiekt der Olle oben raus,
    neulich ham wa dran gezot­telt na wie man immer zotteln tut
    Heil­ja­bimmbam und da gabs was uffn Hut.

    Zur Rache band ick dann nen Knochen unten ran
    und die Hund die da kamen bissen an und schnapp­ten dran
    uuuuuund bepi..ten dieses Ding und bepi..ten dieses Ging
    ja wir Kinder von Berlin sind uffn Kien.

    so sang die Mama es

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