Kranenburg

510 km. Unter­gang einer Kultur

Seit eini­gen Jahr­zehn­ten über­rollt eine neue Vernie­der­land­i­sie­rungs­welle Deutsch­land. Wenn die Polen nicht aufpas­sen, wird sie auch deren Land über­flu­ten. Es geht ums täglich Brot. Deut­sches Brot soll zum Welt­kul­tur­erbe erklärt werden, wenn es nach den Bäckern geht. Deut­sches Brot ist prak­tisch unge­nieß­bar, wenn man Wolf­ram Siebeck glau­ben darf: „weich und glit­schig”, „das Gegen­teil eines gesun­den, natür­li­chen Brotes”.

Wer bei einer Berli­ner Bäcke­rei­kette mit T. ein „Krus­ten­brot” kauft, merkt, was Siebeck meint. Das Brot hat das Ausse­hen und die Konsis­tenz von Fens­ter­kitt, schmeckt aber lang­wei­li­ger, denn Fens­ter­kitt enthält gesun­des, duften­des Leinöl. Dass es auch anders geht, beweist mit einer durch­aus empfeh­lens­wer­ten „Spree­kruste“ die Konkur­renz, die merk­wür­di­ger­weise einen damp­fen­den Hunde­hau­fen als Logo führt.

Das Krus­ten­brot von Bäcke­rei Derks in Kranen­burg, ganz nahe der nieder­län­di­schen Grenze, ist vorbild­lich. Ich wohne auf der ande­ren Seite der Grenze, in Nimwe­gen, und bin darauf ange­wie­sen, denn die Nieder­län­der verste­hen vor lauter Calvi­nis­mus wenig von gutem Essen, und seit der „fran­zö­si­schen Zeit“ backen sie ein Brot, an das ich mich nicht gewöh­nen kann. Am ehes­ten ähnelt es dem Toast­brot von ALDI zu 49 Cent, nur ist noch mehr Luft drin. Leider wird die Versor­gung mit Krus­ten­brot aus Kranen­burg immer schwie­ri­ger, und das hängt mit der Vernie­der­land­i­sie­rung zusam­men.

Ein gutes deut­sches, öster­rei­chi­sches oder polni­sches Brot hat eine knusp­rige, leicht bittere Kruste, die das Innere vor zu schnel­ler Austrock­nung schützt und gleich­zei­tig Venti­la­tion erlaubt, sodass das Brot nicht verschim­melt. So ein Brot ist köst­lich, wenn es frisch aus dem Ofen kommt, aber auch noch nach einer Woche. Siebeck schätzt altba­cke­nes Brot höher als frisches, und wir stim­men zu. Bei rich­ti­ger Lage­rung hat man noch nach einer oder zwei Wochen seine Freude an so einem Brot.

Man muss nur zwei Regeln beach­ten:

Erstens muss das Brot luftig gela­gert werden. In einer guten Bäcke­rei liegt es bis zum Verkauf unver­packt. Nach Hause trägt man es in einer dünnen Papier­tüte, und dann legt man es wieder an die Luft. Nur bei extrem trocke­ner Heizungs­luft ist ein Brot­kas­ten hilf­reich; ansons­ten reicht es, wenn Sie das Brot einfach auf das Brett legen, auf dem es auch geschnit­ten wird, mit der Schnitt­flä­che nach unten. Abso­lut schäd­lich sind Plas­tik­beu­tel. In ihnen ist schon nach weni­gen Minu­ten die Kruste nicht mehr knusp­rig, sondern gummi­ar­tig zäh, und nach eini­gen Stun­den gleicht das beste tradi­tio­nelle Brot einem Fens­ter­kitt­brot.

Zwei­tens muss das Brot unge­schnit­ten gela­gert werden. Sonst verliert die Kruste ja ihre Schutz­funk­tion, und die Schnit­ten trock­nen zu schnell aus.

Nieder­län­di­sches Brot ist, wie gesagt, ein ganz ande­res Produkt: weich, ohne knusp­rige Kruste. Weil es so weich ist, erfor­dert das Abschnei­den einer Schnitte viel Geschick und ein sehr schar­fes Messer. Darum haben hier alle Bäcker Schnei­de­ma­schi­nen, und man kauft so ein Brot immer geschnit­ten. Und natür­lich in Plas­tik verpackt, weil es sonst sofort austrock­net. Die Menschen, die nichts ande­res kennen, glau­ben ehrlich, dass man Brot prin­zi­pi­ell nicht selbst schnei­den kann.

Ich kaufe seit einem Vier­tel­jahr­hun­dert jede Woche ein Krus­ten­brot bei Derks in Kranen­burg. Als das Über­que­ren der Grenze leich­ter wurde, entdeck­ten die Nieder­län­der die Bäcke­rei. Sie kamen vor allem für Kuchen und Torte. Und Derks schaffte eine Brot­schnei­de­ma­schine an, wie die nieder­län­di­schen Kunden sie gewohnt waren. Diese schreck­li­chen Maschi­nen haben sich inzwi­schen lang­sam nach Osten ausge­brei­tet und sogar schon Berlin erreicht. Und nach und nach erschie­nen in Kranen­burg neue Brot­sor­ten, weicher, mit lang­wei­li­ger Kruste, mehr für den nieder­län­di­schen Geschmack geeig­net. Der Kunde ist König.

Den Mecha­nis­mus der Vernie­der­land­i­sie­rung konnte man in Kranen­burg gut studie­ren. Je offe­ner die Grenze wurde, desto mehr Nieder­län­der kamen, und sie woll­ten alle mal etwas Neues probie­ren.

Kunde: „Wir wille ainmal die Krüs­teb­rohd probiere.”

Bäcke­rei-Fach­ver­käu­fe­rin: „Gerne.”

Kunde: „Bitte gesnit­ten.”

Wenn es darauf­hin wie folgt weiter­ge­gan­gen wäre, hätte die Geschichte viel­leicht einen ande­ren Lauf genom­men:

Verkäu­fe­rin: „Wenn Sie es wünschen, gerne. Aber es schmeckt viel besser, wenn Sie jeden Tag nur so viel abschnei­den, wie Sie essen wollen. Das geht bei diesem Brot ganz leicht, wirk­lich! Haben Sie kein Brot­mes­ser? Wir verkau­fen gute Solin­ger Brot­mes­ser für 9,90. Schauen Sie einmal! Daran werden Sie hundert Jahre Freude haben. Und das Brot schmeckt viel besser, wenn sie es unge­schnit­ten bewah­ren.”

Kultu­relle Aufklä­rung im klei­nen Grenz­ver­kehr. So hätte es gehen können; aber so ging es leider nie. Es ging vor fünf­zehn Jahren so, nach­dem das Brot kommen­tar­los geschnit­ten war:

Kunde: „Bitte in aine plestic sack.”

Verkäu­fe­rin: „Schauen Sie mal, das hier ist eine spezi­elle Tüte, in der das Brot atmen kann.”

Kunde: „Nain, habe ßie kaine dichte ples­tik Sack?”

Schau­dernd habe ich das selbst erlebt. Ich habe mich nicht einge­mischt, und der Kunde bekam sein Krus­ten­brot wie gewünscht: geschnit­ten und im Plas­tik­beu­tel. Kein Wunder, dass immer weni­ger Krus­ten­brote verlangt wurden, denn so schme­cken sie ja gar nicht. Seit eini­gen Jahren sind bei Derks die Krus­ten­brote konse­quen­ter­weise schon sehr früh am Tage ausver­kauft, weil ja nur ein paar hart­ge­sot­tene Einhei­mi­sche sie verlan­gen. Also muss ich früh­mor­gens anru­fen, um mir eines reser­vie­ren zu lassen.

Das Schnei­den und in Plas­tik Verpa­cken hat sich bei Derks derweil zu einer Zwangs­neu­rose entwi­ckelt. Sobald man etwas zurück­le­gen lässt, begin­nen sie es zu schnei­den und zu verpa­cken. Zuerst wurde noch gefragt, später aber wurde mir mitge­teilt, dass ich selbst bei der Bestel­lung deut­lich ange­ben muss, dass es nicht geschnit­ten und verpackt werden soll. Also: „Bitte legen Sie mir zwei Krus­ten­brote zurück, aber nicht geschnit­ten, und nicht in Plas­tik verpa­cken, einfach nur zurück­le­gen.” – „Ja, gern. Unge­schnit­ten und nicht in Plas­tik.” Stun­den später im Laden: „Ich habe zwei Krus­ten­brote bestellt.” – „Ja, hier liegen sie.“ (Greift verpackte Schnit­ten, die sich von denen bei ALDI nur durch den hohen Preis unter­schei­den und dadurch, dass bei ALDI alle Schei­ben gleich groß sind.) – „Nein!!! Nicht diese, sondern die da links.“ – „Ach so, gerne. Sollen die auch geschnit­ten werden?“ – „NEIN!! Und bitte in eine Papier­tüte.”

So lernt man, wie stark die nieder­län­di­sche Kultur sein kann und wie bedrängt sich seit dem Großen Kurfürs­ten die Bran­den­bur­ger gefühlt haben müssen.

Viel­leicht wird das Jagd­schloss Stern in Pots­dam demnächst einer der weni­gen Orte sein, an dem man noch gutes Brot kaufen und unver­dor­ben nach Hause tragen kann. Dort wird nämlich in der Tradi­tion Fried­rich Wilhelms I. geba­cken. Leider nur drei­mal im Jahr. Aber wir blei­ben vorerst noch am Nieder­rhein, wo noch mehr anfing und nach Osten wehte.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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2 Kommentare

  1. Dieses Kapi­tel hat in Kranen­burg viel Staub aufge­wir­belt und zu inter­es­san­ten Gesprä­chen mit zwei Bäcker­meis­tern geführt. Seit­her betrachte ich mich als Experte und konnte es nicht lassen, einer viel­ver­spre­chen­den Bäcke­rei­kette zu schrei­ben. Ihr Name sei mit dem Mantel der Näch­ten­liebe verhüllt. In diesem Falle geht es nicht um den Umgang mit Brot, sondern um die Quali­tät des Brotes selbst.

    Sehr geehr­ter Rosa* Bäcker,

    bitte gestat­ten Sie mir, meine Verwun­de­rung über die Unge­nieß­bar­keit Ihres Brotes auszu­drü­cken!

    In meinem Buch “Suche nach der Mitte von Berlin ( http://selbstdenkbuch.eu/berlin ) werden die Krus­ten­brote zweier Bäcke­rei­ket­ten vergli­chen:

    “Deut­sches Brot soll zum Welt­kul­tur­erbe erklärt werden, wenn es nach den Bäckern geht. Deut­sches Brot ist prak­tisch unge­nieß­bar, wenn man Wolf­ram Siebeck glau­ben darf: „weich und glit­schig”, „das Gegen­teil eines gesun­den, natür­li­chen Brotes”.

    Wer bei einer Berli­ner Bäcke­rei­kette mit T. ein „Krus­ten­brot” kauft, merkt, was Siebeck meint. Das Brot hat das Ausse­hen und die Konsis­tenz von Fens­ter­kitt, schmeckt aber lang­wei­li­ger, denn Fens­ter­kitt enthält gesun­des, duften­des Leinöl. Dass es auch anders geht, beweist mit einer durch­aus empfeh­lens­wer­ten „Spree­kruste“ die Konkur­renz […].”

    Zwei­mal habe ich nun ein Krus­ten­brot beim Rosa Bäcker gekauft, und es war noch schlim­mer als das Fens­ter­kitt­brot von T. Es trägt einen Wickel mit dem Aufdruck: “So schmeckt unsere Heimat”. Wenn das so ist, will ich unsere Heimat nicht mehr schme­cken. Nicht einmal frisch, am ersten Tag.

    Innen ist das Brot lang­wei­lig und zäh. Die Kruste sieht eini­ger­ma­ßen viel­ver­spre­chend aus, ist aber nicht knusp­rig sondern einfach hart. Nach zwei Tagen ist sie so hart, dass sich das Brot selbst mit dem besten Solin­ger Brot­mes­ser kaum schnei­den lässt, geschweige denn, dass man sie gerne kaut. Da man Brot nicht wegwirft, habe ich mich zehn Tage mit Ihrem Brot herum­ge­quält, aber nun gebe ich auf.

    Ich verstehe nicht, dass sich so etwas verkauft.

    Mit freund­li­cher Verwun­de­rung,

    Dr. Hanno Wupper

    selbstdenkbuch.eu

    ——

    Sehr geehr­ter Herr Dr. Wupper,
     
    für Ihre E‑Mail vom 26.08.2016 bedan­ken wir uns recht herz­lich. Wir nehmen Ihr Anlie­gen sehr ernst, denn Ihre kriti­schen Hinweise sind uns in unse­rem Bestre­ben nach größt­mög­li­cher Kunden­zu­frie­den­heit jeder­zeit will­kom­men.
     
    Wir möch­ten Ihre Infor­ma­tion gern an den zustän­di­gen Produk­ti­ons­lei­ter weiter­ge­ben. Um Ihr Anlie­gen der entspre­chen­den Produk­ti­ons­stätte zuord­nen zu können, müssen wir wissen, in welcher unse­rer Filia­len Sie das Krus­ten­brot gekauft haben.
     
    Für Ihre Bemü­hun­gen bedan­ken wir uns und verblei­ben
     
    mit freund­li­chen Grüßen
     
    S. Schar­tau*
    Sekre­ta­riat Filia­len
     
    ——

    Sehr geehr­ter Herr Schar­tau,

    es handelt sich um dieses “Krus­ten­brot”: (weblink)

    Ich hatte das erste in Berlin-Neukölln gekauft und beschlos­sen, den Rosa Bäcker hinfort zu meiden, weil ich sicher war, dass es am Rezept und der Ferti­gung lag und nicht ein einma­li­ger Ausrut­scher war. Dann brachte mir ein Freund verse­hent­lich ein zwei­tes aus Borgs­darf mit, und es war genauso.

    Es gibt eben große Unter­schiede: die Spree­kruste von Stein­ecke ist knusp­rig, innen zart und sehr ange­nehm — wie in meinem Buch beschrie­ben. Bei Ihrem Brot und dem zweier ande­rer Ketten ist das ganz anders, da hilft auch der güns­tige Preis nicht. Im Grunde strahlt Ihre Inter­net­prä­senz das ja auch aus: da geht es über­haupt nicht um Quali­tät und Wohl­ge­schmack. Stich­worte sind: Rosa-World, Rosa-Part­ner­schaft, Fina­ler Rosa Bäcker-Tour­stopp und Laufen auf Euro­pas längs­ter Strand­pro­me­nade!, Part­ner­ver­eine, Gewinn­spiele, Initia­tiv­be­wer­bung.

    Eine rosa Welt eben, in der die Quali­tät des Gebäcks von unter­ge­ord­ne­ter Bedeu­tung ist. Dass das besser in unsere Zeit passt und viele Menschen glück­lich macht, will ich nicht bezwei­feln. “Produk­ti­ons­lei­ter” statt “Bäcker­meis­ter”. “Kunden­zu­frie­den­heit” (Die kann ein Forschungs­büro bestimmt genau messen und in einer Zahl ausdrü­cken.) statt “Quali­tät”. Beim Kuchen merkt man  das auch: lang­wei­lig und zu süß, also perfekt für den Massen­ge­schmack.

    So hat eben die Bezeich­nung “Krus­ten­brot” in mir falsche Erwar­tun­gen erweckt. Aber ich bin ja alt. Nun tren­nen sich unsere Wege. Viel­leicht kommen Sie ja mal hier­her, um einen Eindruck davon zu bekom­men, worum es mir geht:

    http://jagdschloss-stern.de/Stall/events/herbstfest-mit-parforcejagd/

    Mit freund­li­chen Grüßen,

    Hanno Wupper

    http://selbstdenkbuch.eu/berlin

    ——
    *) Farbe und Namen von der Redak­tion geän­dert

  2. Hallo Aro,
    die neue Serie gefällt mir sehr gut. Man bekommt Einbli­cke in eine Zeit — und in Gedan­ken­gänge — die einem bisher unbe­kannt waren. Ich bin sehr gespannt, wie es weiter­geht. Das Buch werde ich auf jeden Fall für meine Mutter bestel­len.

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