Schloss Moyland

490 km. Eine Burg im Westen geht mit der Zeit

Moyland liegt nicht weit von Pfalz­dorf und Loui­sen­dorf zwischen Kleve und Kalkar. Dort stand im Mittel­al­ter eine Burg mit einem riesi­gen Berg­fried, nicht beson­ders elegant, aber eini­ger­ma­ßen sicher. Als sich die Waffen­tech­nik änderte und die Renais­sance ausbrach, wurde die nun unnütze Burg umge­baut zu einem Wasser­schloss mit Turm an jeder Ecke. Das muss ganz schön gewe­sen sein, nur war der Turm an der rech­ten hinte­ren Ecke, der ehema­lige Berg­fried, über­pro­por­tio­niert, was der bauli­chen Harmo­nie nicht zugute kam. Erlö­sung brachte das Barock­zeit­al­ter, in dem man die vier Türme, vor allen den unpro­por­tio­nier­ten, mit verschnör­kel­ten Dächern versah. Drin­nen gibt es eine kleine Ausstel­lung von zeit­ge­nös­si­schen Bilden, da kann man sehen, wie ein Bau immer mehr Schich­ten Zucker­guss erhielt. Den letz­ten Schritt bewun­dert man drau­ßen.

Damals in der Barock­zeit kaufte König Fried­rich I., der Sohn des Großen Kurfürs­ten, die Anlage, weil er ein Liebes­nest für eine Affäre mit einem sieb­zehn­jäh­ri­gen Bürger­mäd­chen aus Emme­rich brauchte. Die Dienst­rei­sen des ersten Königs in Preu­ßen zwischen seinen weit ausein­an­der­lie­gen­den Landes­tei­len waren beschwer­lich genug, da darf man seine Bedürf­nisse nicht vernach­läs­si­gen.

Sein Enkel Fried­rich II. hatte andere Bedürf­nisse. Schon als Kron­prinz hatte er den beim Estab­lish­ment verschrie­nen Voltaire bewun­dert, und es ergab sich, dass er als frisch­ge­ba­cke­ner König ausge­rech­net hier zum ersten Male mit ihm zusam­men­traf. Später entwi­ckel­ten die beiden den Plan, hier eine Philo­so­phen­aka­de­mie zu grün­den. Sie dach­ten sich auch die Bezeich­nung Wahr­heits­ma­nu­fak­tur aus. Auf dem Rück­weg, in Kamp, zeich­nete Fried­rich II. den Terras­sen­gar­ten für sein Sans­souci. Den gibt es in Pots­dam immer noch. Aus der Wahr­heits­ma­nu­fak­tur aber wurde nichts, und Fried­rich bezahlte später mit Schloss Moyland seine Kriegs­schul­den beim nieder­län­di­schen Baron Steen­gracht.

Ein späte­rer Baron Steen­gracht war Direk­tor der König­lich Orani­schen Gemäl­de­samm­lung im Haag. Dieser Baron schaffte seine eigene, private Gemäl­de­samm­lung nach Moyland, während die könig­li­chen Bilder im Haag im Maurit­shuis hängen, das Moritz von Nassau gebaut hatte, der Mann von den Land­schafts­ster­nen um Kleve. In Moyland läuft viel zusam­men.

Und das ist noch nicht alles. Im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert war das Gebilde aus mittel­al­ter­li­chem Berg­fried, Renais­sance-Wasser­schloss und baro­cken Verzie­run­gen dann auf einmal altmo­disch. Modern waren Gebäude, die rich­tig echt mittel­al­ter­lich aussa­hen wie die Ober­baum­brü­cke in Berlin, das Torge­bäude in Doorn und Schloss Neuschwan­stein in Bayern. Also wurde Moyland modern vermit­tel­al­tert, mit Wehr­gän­gen, Zinnen, Pech­na­sen und allem Drum und Dran, und zwar von Zwir­ner, dem Baumeis­ter des Kölner Doms. Man erschrickt, wenn man nichts­ah­nend in der Nieder­rhein­land­schaft herum­fährt und auf einmal ein Märchen­schloss aus einem Phan­tasy-Film lebens­groß neben der Straße steht. Zum Glück wächst es lang­sam zu. Berli­ner bekom­men eine Vorstel­lung vom Schloss, wenn sie sich vorstel­len, zwei Ober­baum­brü­cken würden in ihre Baukör­per zerlegt, ohne die U‑Bahn zu einem vier­ecki­gen Klotz zusam­men­ge­setzt und wieder ins Wasser gestellt.

Aller­dings ist das heutige Schloss Moyland neo-neo-Mittel­al­ter, denn das „echte“ wurde bei Kriegs­ende zu seinem Haufen Ziegel­stei­nen zerschos­sen und erst Jahr­zehnte später wieder aufge­baut, um die Kunst­samm­lung der Gebrü­der van der Grin­ten aus Kranen­burg sowie das Beuys-Archiv des Landes Nord­rhein-West­fa­len aufzu­neh­men. Die van der Grin­tens sind die Kunst­samm­ler, die dem Künst­ler Joseph Beuys zur Berühmt­heit verhal­fen und dafür zahl­rei­che seiner Aqua­relle erhiel­ten. Die großen Instal­la­tio­nen von Beuys stehen aller­dings anderswo, einige im Hambur­ger Bahn­hof in Berlin.

Nach dem Wieder­auf­bau bestan­den die sammeln­den Brüder darauf, dass unun­ter­bro­chen so viele ihrer zigtau­send Bilder und Plas­ti­ken wie möglich aufge­hängt und ausge­stellt sein soll­ten. Kein Quadrat­zen­ti­me­ter Wand blieb unge­nutzt. Ganze Wälder wurden für Bilder­rah­men abge­holzt. Und so wie jeder Raum gesät­tigt war mit Kunst­wer­ken, war die Luft gesät­tigt mit den Ausdüns­tun­gen des im Wasser gegrün­de­ten Gemäu­ers, muffig und tuber­ku­lös. Das Schönste bei jedem Besuch war das Errei­chen der frischen Luft.

Ein entsetz­li­cher Ort, aber in seiner Konse­quenz schon wieder groß­ar­tig. Und eine nütz­li­che, inter­es­sante Samm­lung. Man durfte das Museum nur nicht als Kunst­aus­stel­lungs­halle miss­ver­ste­hen. Es ging nicht darum, dass der Besu­cher sich in Ruhe auf ein an einer ansons­ten leeren Wand hängen­des Bild konzen­trie­ren konnte. Es ging um eine wissen­schaft­lich voll­stän­dige Kollek­tion von allem aus einer bestimm­ten Peri­ode. Die Samm­lung und ihre Präsen­ta­tion war am ehes­ten zu verglei­chen mit dem histo­ri­schen Teil des Ozea­no­gra­phi­schen Muse­ums in Monte Carlo. Dort stehen dicht auf dicht in Forma­linglä­sern sämt­li­che Lebens­for­men, die der Ozean hervor­ge­bracht hat, mit all ihren Vari­an­ten und phylo­ge­ne­ti­schen Veräs­te­lun­gen. Zu viel, um alles erfas­sen zu können, zu dicht, um einen Über­blick zu erlau­ben; aber von allem, was man sucht, kann man ein Exem­plar finden und mit ähnli­chen Verglei­chen. So war es auch in Moyland. Fluxus gewis­ser­ma­ßen in Forma­lin. An die hundert­tau­send Bilder, Bild­chen und Skulp­tu­ren form­ten zusam­men mit dem Schloss und seiner Geschichte ein einzig­ar­ti­ges Gesamt­kunst­werk, zu dem nicht nur Könige, Philo­so­phen und Muse­ums­di­rek­to­ren, sondern auch die Brüder van der Grin­ten dick­köp­fig beigetra­gen hatten.

Nur Haus Doorn ist ähnlich voll­ge­stopft und muffig.

Die Umbaue­rei von Moyland hört nie auf. Das Museum bekam eine neue Direk­to­rin, war ein Jahr lang geschlos­sen, wurde wieder umge­baut und vor allem ganz neu einge­rich­tet. Der größte Teil der Samm­lung steht nun im Depot. In regel­mä­ßi­gem Wech­sel soll nur eini­ges gezeigt werden. Ich war dort am Tag der Wieder­eröff­nung. Den Dutzen­den Lotsen bei Einfahrt und Park­platz nach zu urtei­len, hatte man sich auf einen flächen­de­cken­den Verkehrs­zu­sam­men­bruch vorbe­rei­tet.

Und wie ist es nun?

Immer noch zu voll und immer noch beklem­mend muffig. Dunk­ler als früher. Nur nicht mehr schau­rig-schön erschla­gend. An jeder Wand hängen nur einige Bilder. Sie stören sich gegen­sei­tig nicht, aber es sind immer noch zu viele, als dass man sich jedes in Ruhe anschauen könnte. Jeder Raum könnte mit dieser Hängung der Stolz eines zweit­ran­gi­gen Provinz­mu­se­ums sein, wäre dort aber wohl besser gelüf­tet. Man ist schnell gelang­weilt, müde und asth­ma­tisch, doch es folgt Raum auf Raum, Trep­pen­haus auf Trep­pen­haus. Über­all Menschen, die den Ausgang suchen. Eine Führe­rin, womög­lich die Direk­to­rin selbst, erklärt Marcel Duch­amps über­be­wer­te­tes Schwei­gen und hustet hohl. Kein Wunder bei diesem Klima. Die paar klei­nen Schätze, die ich bei frühe­ren Besu­chen entdeckt und immer wieder aufge­sucht hatte, um sie Freun­den zu zeigen, sind nun im Depot.

Ein paar Stun­den nach der Wieder­eröff­nung war der Park­platz immer noch halb leer.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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