Ein Haufen Orte

Ordnung ist nicht nötig

1920 wurden acht Städte, 59 Land­ge­mein­den und 27 Guts­be­zirke zusam­men­ge­fasst zu Groß-Berlin. Man hätte das auch lassen können, dann wäre das heutige Bundes­land Berlin so etwas wie das Ruhr­ge­biet: ein locker zusam­men­hän­gen­der Haufen Städte. Eigent­lich ist es das auch, und die ehema­li­gen Städte und Land­ge­mein­den haben jeweils ein Zentrum mit ganz eige­nem Charak­ter. Zum Glück wissen die Touris­ten das nicht und halten sich fast alle in der Nähe der Muse­ums­in­sel oder der Gedächt­nis­kir­che auf, wenn sie nicht gerade die bekann­ten Stel­len entlang der inner­städ­ti­schen Mauer bewun­dern: Check­point Char­lie, Pots­da­mer Platz, Bran­den­bur­ger Tor, Bernauer Straße.
Wie die Berli­ner der einen Sorte blei­ben die meis­ten Einwoh­ner des Ruhr­ge­biets vor allem in ihrer Stadt. Der Berli­ner der ande­ren Sorte dage­gen fährt mal eben für ein paar Bier von Zehlen­dorf nach Pankow, wenn da gerade eine Kneipe in ist. Oder zum Essen von Span­dau nach Köpe­nick oder umge­kehrt. Zuge­reiste begrei­fen irgend­wann, dass in Berlin die Reise­zeit in S- und U‑Bahn nicht zählt.
Wer Berlin verste­hen will, muss die ganze Stadt kennen und auch ihren Rand und die umlie­gen­den Orte, nicht nur Pots­dam.
Wenn man einmal einen Blick dafür hat, erkennt man die uralten Bran­den­bur­gi­schen Dörfer. In ganz Bran­den­burg hat ja fast jedes Dorf einen typi­schen Dorf­an­ger: Die Durch­gangs­straße kommt aus der Einöde, spal­tet sich, dazwi­schen liegt ein läng­li­ches Stück Gras­land für alle, meist mit einer Kirche darauf, und dahin­ter läuft die Straße wieder zusam­men und führt weiter, als ob nichts gewe­sen wäre. In Groß-Berlin haben diese zwei Einbahn­stra­ßen mit Gras und Kirche dazwi­schen gerne Namen wie Alt-Tempel­hof, Alt-Mari­en­dorf, Alt-Mari­en­felde, Alt-Lübars, Alt-Müggel­heim, Alt-Lank­witz, Alt-Lich­ten­rade, Alt-Wittenau, aber manch­mal heißen sie auch Dorf­platz, Richard­platz, Breite Straße, Hinden­burg­damm oder Möllen­dorff­straße. Manch­mal ist das Gras zuge­baut. Es gibt wirk­lich viele solcher ehema­li­gen Anger, und sie zeugen davon, wie länd­lich es früher hier war.
Es gibt aber auch Stadt­teil­na­men, die davon zeugen, wie die Stadt unter einem König wuchs: Fried­richs­hain, Fried­richs­felde, Fried­richs­ha­gen, Fried­richs­wer­der, Fried­rich­stadt. Und Namen, die zeigen, dass einem nichts mehr einfiel: Schö­ne­feld, Schö­ne­berg, Schön­ei­che, Schö­ner­linde, Schön­holz, Schö­ne­weide, Schön­fließ, Nieder­schön­hau­sen, Hohen­schön­hau­sen. Man muss sich unbe­dingt merken, dass es erstens genau darauf ankommt, weil zwei­tens diese Stadt­teile nichts mitein­an­der zu tun haben.
Noch genauer kommt es darauf an bei Altglie­ni­cke zusam­men­ge­schrie­ben, Groß-Glie­ni­cke mit und Groß Glie­ni­cke ohne Binde­strich, Klein Glie­ni­cke, Glie­ni­cke an sich und Glie­ni­cke an der Nord­bahn. Sowie bei Buckow, Buckow, Buckow und Buckow, wenn ich jetzt keines verges­sen habe. Die liegen alle ganz woan­ders. Und ganz im Norden Berlins liegt ein Blan­ken­felde in der Nähe von einem Hein­ers­dorf noch in der Stadt, während sich ganz im Süden ein Blan­ken­felde und ein Hein­ers­dorf neben­ein­an­der von außen an die Stadt­grenze schmie­gen.
Die Berli­ner beherr­schen das im Schlaf, und die gut gemeinte neumo­di­sche Erfin­dung der Post­leit­zahl erweist sich hier als unnö­tig. Nie habe ich jeman­den fragen hören: „Meenste nu 13159 Blan­ken­felde oder 15827 Blan­ken­felde?“
Manches Verwir­rende zeugt vom schnel­len Wachs­tum: Die Köll­ni­sche Heide selbst liegt heute ganz woan­ders als der gleich­na­mige S‑Bahnhof. Das liegt daran, dass sie beim Bau der S‑Bahn viel weit­läu­fi­ger war und seit­her durch Bebau­ung vom S‑Bahnhof wegge­schrumpft ist. Baum­schu­len­weg dage­gen ist gar kein Weg, sondern ein komplet­ter Stadt­teil, der nach einem S‑Bahnhof benannt ist, der an einer Straße liegt, die früher mal ein Weg war, der zu den Spät­h­schen Baum­schu­len führte, was die Spät­h­straße übri­gens auch tut.
Verlan­gen Sie nach Ordnung? Dann können Sie besser nach Mann­heim oder Manhat­tan fahren.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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