Der erste Frühlingstag

Schleuse

Frühlingsgefühle oder Morgenluft wittern?

Schon gestern Nachmittag kribbelte es mir beim ersten kurzen Sonnenschein in der Nase. Der Geruch und das Gefühl von erwachenden Leben draußen durchfluteten meinen Körper für einen Moment. Es war, als ob sich mein Geist erinnern würde. Erinnern nicht nur an die helle Zeit im Sommer, sondern auch an eine Zeit des Friedens. Ich finde, gerade im Frühjahr, wenn alles erwacht, frisch erblüht und die Seelen der Menschen bei einem Spaziergang durch den Park nach dem unerträglich langen Winter friedlich werden, verschwinden die vielen Probleme für einige Momente; relativiert sich vieles auf obskure Weise. Diese spirituelle Kraft der Natur wirkt sozusagen Wunder.

So ging ich also heute Morgen nach dem singenden, klingenden Sonntagsrätsel erneut hinaus zum ersten Sonntagsspaziergang im gefühlten Frühling Ende Januar. Bitter nötig hatte ich Trost nach den vielen Streiks, dem Dauergehupe in der Nähe meiner Wohnung und den Umfragewerten für rechte Parteien. Die Million Demonstranten die gegen den erneuten Faschismus in Deutschland demonstriert hatten vermochten mich nicht wirklich zu beruhigen.

Und so trat ich hinaus in den strahlenden Sonntag. Zunächst noch etwas kalt machte ich die Runde um den Block. Vor einem Haus am Ufer der Spree hatte jemand einen Zettel mit der Aufschrift „Nie wieder ist jetzt!“ zusammen mit einer weißen Rose neben den dortigen Stolperstein gelegt. Danke dafür! Dann überquerte ich eine Brücke, um anschließend auf der Sonnenseite an der Spree entlang laufen und mich aufwärmen zu können. Da war es wieder: Dieses Gefühl von längst vergangenen, friedlichen Zeiten. Vor mir ein Paar Hand in Hand in knallbunten Jacken. Angekommen bei CARL & SOPHIE war ein leerer Schlafplatz eines Obdachlosen zu sehen. Nur seine Sachen und die Schuhe lagen auf der Bank vor dem Fenster des Restaurants, so als ob er nur mal kurz zur Morgentoilette war. Er kam jedoch auch nach längerer Zeit nicht wieder zurück… Warum auch immer.

Dafür war der beste Platz an der anderen, besten Ecke noch frei. Die gepolsterte und windgeschützte Sitzbank war meine. Dort wurde es warm und gemütlich. Zeit zum Genießen. Zuerst schaute ich noch über die still und leise vor mir liegende Spree, mit ihren Reflektionen der Sonne, die auf dem Wasser so schön glitzerten. Frieden. Schnell entspannte ich mich so sehr, dass ich die Augen schließen konnte, um von Optik auf Akustik umschalten zu können. Was ich jetzt erlebte, war eine Sinfonie eines mystischen Sonntagmorgens.

Da auf dem Weg noch das Streugut der letzten Eiszeit lag, machte jeder Mensch und jedes Fahrzeug sein eigenes Geräusch. Nun konnte ich zuhören beim Konzert des Lebens. Manche Menschen joggten in kurzen Schritten, andere in langen. Manche gingen gemütlich spazieren. Einige wenige marschierten. Manche unterhielten sich leise. Auch die Kinderwagen und Fahrräder unterbrachen die unterschiedlich langen Pausen, in denen nur das Grundrauschen der entfernten Stadt oder das eine oder andere Rufen eines Vogels zu hören waren. Immer wenn ich es schaffte, meine Augen geschlossen zu halten, die Neugier zu besiegen, oder wie es heute so schön heißt „ganz bei mir zu bleiben“, lief der Film meiner Fantasie vor dem inneren Auge statt. Egal wurden die tatsächlichen Bilder der verschiedenen Menschen. Wichtiger wurde der himmlische Klang, den sie verursachten. Uns so wurde es ein Konzert für 98 Beine, 66 Räder auf Schotter und einen Hund, der mich mit seiner kalten, nassen Schnauze begrüßte.

Das Geläut der Glocken der umliegenden Kirchen, die zum „Vater unser“ mahnten, beendete dieses morgendliche Freikonzert mit einem fulminanten Finale. Merkwürdigerweise tun sie dies jeden Sonntag nahezu gleichzeitig. Egal ob evangelisch oder katholisch.

So ging ich dann anschließend geerdet und beschenkte diesen Tag, aber leider auch zurück in die politische Realität, denn vor meinem Wohnhaus prangt seit einigen Tagen ein Wahlplakat der AfD, was mich jeden Morgen begrüßt. Bis jetzt habe ich mich nicht getraut, es abzureißen, auch weil es so perfekt hoch angebracht worden ist. Ob jedoch so eine Aktion tatsächlich die Meinung meiner allzu netten Nachbarn ändern würde, oder diese sogar erst recht wie gehabt wählen würden, kann ich nicht beurteilen. Besser ist es, weiterhin auf die Straße zu gehen und mit legalen Mitteln für den Erhalt unserer Demokratie zu kämpfen. Oder eben hin und wieder eine weiße Rose vor den zahlreichen Stolpersteinen im Hansaviertel niederzulegen. Immerhin wurde das Hansaviertel vor der vollständigen Zerstörung im 2. Weltkrieg als erstes Viertel Berlins als „Judenfrei“ gemeldet. Was für eine Schuld wir doch bis heuteauf unseren Schultern tragen!

Wenn dann der Frühling tatsächlich wieder da ist, empfehle ich den Spaziergang durch Moabit. Sie waren Nachbarn zeigt Ihnen den Weg. Nehmen Sie ruhig Ihre Freunde und Bekannten mit. Auch dies kann helfen, die Erinnerung wach zu halten, was dringend geboten ist. „Nie wieder meint JETZT!“

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