Vom Gesundbrunnen zur Osloer Straße

Ach, der Gesundbrunnen. Der Gesundbrunnen ist immer mit ach oder oh. Jetzt: Zwei Großbaustellen, am ihrem berühmten „Pilz“, auf der anderen Bahnhofseite das „Einkaufscenter Gesundbrunnen“, das die Behmstraße wie eine Mauer zur Bahn abschließt.
Ach, so sieht es hier jetzt aus! Als ich Amtsrichter war im Wedding, in den 60-er Jahren, sah es hier ganz anders aus. Und es gab täglich Leute, die sagten: Ach wie es hier aussah, als die Mauer noch nicht stand! Oft traf ich auch Menschen, die sagten: Ach, der Gesundbrunnen, wie der aussah vor dem Krieg! Damit war WK II gemeint. Wie es hier aussah vor dem ersten Krieg – ich habe nie jemanden getroffen, der mir das erzählen wollte, aber es gibt Zeugnisse, Bücher, Bilder. Zu schweigen von den sozusagen prähistorischen Zeiten, die in den Touristenbüchern meist als die Geschichte des Gesundbrunnens ausgegeben werden: woher er den Namen hat.

Die Badgeschichte war eine Episode aus Zeiten, als noch ganz weit draußen war, was Jahrzehnte später das Zentrum Berlins bildete. Wenn man das Zentrum einer Stadt da sieht, wo sie sich am dichtesten zusammenballt, dann war zwischen 1880 und 1910 hier das Zentrum Berlins, hier und ein Stückchen weiter unten zur Chausseestraße hin.
Davon sieht man nichts mehr. Die wirkliche Geschichte der Stadt taugt nicht als Dekor für Besserverdienende. Am Gesundbrunnen ist das wirkliche Leben in immer neuer Gestalt. In den 60-er Jahren, als ich hier Abende und Nächte verbrachte, sprach es noch nicht so gut Türkisch wie heute.

Ich will aus dem Bahnhof direkt zur Zingster Straße gehen, aber die Tür ist mit weißen Brettern verschlagen. Die Baustelle ist dicht heran gerückt. Die Zingster Straße wirkt dunkel, die Fassaden könnten gesäubert werden, aber es sind feine Fassaden. In stilisiertem Pflanzenschmuck ziehen sie sich in einem eleganten Schwung zur Bellermannstraße hinunter. Ich gehe die Bellermannstraße aufwärts zur Swinemünder Brücke. „Millionenbrücke“ sagte man, weil ihr Bau 1902 bis 1905 so teuer war. Noch in den 70-er Jahren konnte man von hier sehen, wie die Hauptstadt eines Reiches ausgesehen hatte, das das Blut der Arbeiter trank.
Wenn die Leute oben sitzen im fertigen Einkaufscenter, wo es doch ein schönes Cafe geben wird, werden sie herab sehen auf die Gegend, an der sich ihre Voreltern geplagt haben und werden sagen: Ach, der Gesundbrunnen, wie’s früher hier aussah.

Die Nebenstraßen liegen an der Badstraße wie Nebenräume am großen Wohnungsflur. Ich besichtige jedes Mal die Grüntaler Straße. Die „Berufsschule für Metallarbeiter“, gebaut 1913 bis 1915, als die Arbeiter schon verheizt wurden auf französischen Feldern, auch die SPD hatte nicht Nein gesagt: jetzt „Willy-Brandt-Oberschule“, eine Gesamtschule. Dass wenigstens die Gesamtschulen übrig geblieben sind von den bildungspolitischen Versuchen. Willy Brandts Berliner Schulsenator Carl-Heinz Evers ist gerade 75 geworden. Ich grüße ihn.

Das berühmteste Stück Badstraße beginnt gegenüber der Paulskirche. Die Paulskirche steht in den Kunstbüchern, weil sie von Schinkel ist. Hoffentlich versteht der heutige Pfarrer mehr vom Leben der Menschen, die wahrscheinlich kaum noch in den Gottesdienst kommen, als seine Vorgänger Buttmann und Bellermann, die wohl mehr Diener des Königs waren und die Arbeiter für ihn gefügig zu machen versuchten.
Auch der große Schinkel hat sich nicht genug interessiert für die Absichten, die mit seinen Kirchen verbunden waren. Vier von ihnen baute er wie Stützpunkte einer Kolonialmacht in einem auszubeutenden Lande. Solange ich hier vorbeigehe, erbittert mich die Schönheit der Formen und die Bosheit der Gedanken.
Die Paulskirche ist wirklich ein Mahnmal. Niemand lässt sich mahnen. Auf der breiten Treppe sitzen Obdachlose, trinken Bier aus Dosen und warten, dass das Leben vergeht.
Aus den Resten der bürgerlichen Bade- und späteren Kaffeegartenkultur ist die Stadtbibliothek am Luisenbad geworden. Die Bibliothek und die Anlage darum herum ist allein den Wedding-Besuch wert. Viele junge Leute geben Bücher ab und holen sich neue.

Im Rücken der Arnheimschen Tresorfabrik und vorbei an ihren Hallen, die jetzt Bildhauerateliers beherbergen, geht der kleine Weg auf die Betriebswerkstätten der BVG zu, die seit den 20-er Jahren gegenüber an der Gropiusstraße liegt. Das ist derselbe Gropius, nach dem in Kreuzberg der Gropiusbau heißt. Zur Zeit läuft dort eine Ausstellung über den amerikanischen Action-Künstler Kienholz; was man da als Kunst besichtigen kann, kann man hier im Wedding an manchen Stellen als Realität sehen (z.B. in der Grüntaler Straße das Environment aus Wirklichkeit neben Mario Lampes Werkstätten aus dem Haus Nr. 78).

Jetzt biege ich an dem prächtigen Eckhaus, überhaupt einem Muster von Eckhaus, an der Uferstraße in die Exerzierstraße ein. Sie hat ihren Namen von der Artillerie, die hier lag – wie man so sagt -, nachdem sie weiter nördlich geschossen hatte.
Die Straße hat noch immer etwas Ausgezirkeltes. An der Stelle, wo sie als Schulstraße nach links auf den Nauener Platz zuläuft, bildet sie nach rechts einen kleinen Stadtplatz um eine Wasserpumpe, die Eckhäuser aus der Exerzier- und aus der Schulstraße (Nr. 62) laufen mit bedrohlich spitzen Ecken auf einen Hausturm zu, der rot-weiß in der Mitte steht, als sei er aus Sienna, „Bienvenuti“ heißt das italienische Restaurant, das uns hier begrüßt.

Nun gehe ich am Jüdischen Krankenhaus vorüber. Es wird gebaut, „Ersatzbau eines Wirtschaftsgebäudes“ steht auf dem Schild vor den grünen und weißen Kränen, auch der Kranführer ist grün gekleidet. Die Gegend verbreitet trotzdem eine Atmosphäre der Stille und des Gedenkens.
Das Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde war einer der Schreckensorte, an denen Menschen, Nachbarn womöglich, Nachbarn versammelten, um sie zur Ermordung abzuführen. Wenige überlebten. Aus den Kellern krochen sie im April 1945 in eine veränderte Welt. Die Straße endet mit Kleingärten. „Kleingartenkolonie Nordkap e.V.“, vor dem Nachbarhaus, direkt neben dem Krankenhaus, steht ein Lieferwagen: „Alaska. Abenteuer-Reisen, Hundeschlittentouren“.
Unter der Erde im U-Bahnhof Osloer Straße straht das norwegische Rot-Weiß-Schwarz, ein Kreuz des Friedens in dieser Gegend, unter deren Pflaster eine Geschichte begraben liegt, von der ich bei jeder Nachricht über Ausländerhass und Xenophobie fürchte, dass sie wieder aufsteht und uns alle verschlingt.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Chris Alban Hansen / CC BY-SA 2.0

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