Rosa Fassaden, Huber im Abendlicht

Die Abend­sonne, plötz­lich, von links. Sie lässt die Fens­ter des Schön­hau­ser Tores, durch die Eckneu­bau­ten jetzt wirk­lich ein Tor, so über­ra­schend aufschei­nen, dass ich mich nach der Licht­quelle suchend umbli­cke, ehe ich der Febru­ar­sonne glaube, dass sie leuch­tet. Über das Vogel­gelb der Tram legt sie einen milden Glanz. Das doppel­to­nige Fassa­den­rosa von Torstraße Nr. 85–87 scheint von innen zu strah­len, einen Augen­blick, nicht lange, schon sind graue Wolken aufge­zo­gen, das Fassa­den­rosa ist stumpf, die Back­steine treten hervor, als woll­ten sie unter dem Putz ihr eige­nes dunke­les Rotbraun geltend machen. Ich verbiete mir, dieses knappe Farben­spiel im ruhen­den, aber dann umso hefti­ger durch die Torstraße staub­wir­beln­den Abend­wind als Natur­me­ta­pho­rik zu verste­hen für die Geschichte, die hinter den Doppel­to­ren dieser beiden Häuser liegt.
Kurzer Glanz, langes Verges­sen. Falscher Glanz und leider nur halbes Verges­sen. Hinter diesen Fassa­den fault eine zwei­fel­hafte Tradi­tion. Johann Geist, der Bauhis­to­ri­ker, sieht diesen Fassa­den ein ästhe­ti­sches Programm an, das sich in der Stalin­al­lee wieder­hole, mehr als ein Jahr­hun­dert später. Viel­leicht. Viel­leicht nicht.
Diese Häuser sind nicht als ästhe­ti­sche Marken­zei­chen erin­ne­rungs­wür­dig, sondern als poli­ti­sche. Gebaut 1849/50, kurz nach der erfolg­lo­sen Revo­lu­tion von 1848, der wir mit allen 150-Jahr-Aufmär­schen nichts ande­res abge­win­nen können als eine deut­sche Bitter­nis.

Der Bauherr war die “Berli­ner gemein­nüt­zige Bauge­sell­schaft”, 1849 gegrün­det, von einem Kreis konser­va­ti­ver, anti­re­vo­lu­tio­nä­rer, christ­li­cher Gutmen­schen, deren Gutmen­schen­tum aus einer dunkel­män­ni­schen Klas­sen­ge­sin­nung hervor­geht und sie verbirgt. König­lich rechte Minis­ter sind darun­ter, könig­lich hohe Rich­ter, sogar Stüler, der in den Büchern verzeich­nete Archi­tekt.
Das Werbe­blatt der Verei­ni­gung beginnt fast drohend mit der Berüh­mung “In Gottes Namen”; aus dem Nach­kriegs­schutt in der Ritter­straße 28 hat man ein solches Blatt hervor­ge­zo­gen; es schließt mit einer Formel, von der man glau­ben könnte, dass sie in der Begrün­dung zum Wohnungs­ei­gen­tü­mer­ge­setz von 1951 steht: “Verwand­lung eigen­tums­lo­ser Arbei­ter in arbei­tende Eigen­tü­mer”, was aber — sagt Johann Geist in seiner epocha­len Geschichte des Berli­ner Miets­hau­ses — “nicht zu verwirk­li­chen ist, weil die propa­gierte Sess­haf­tig­keit des Arbei­ters im eige­nen Heim im Wider­spruch steht zur gefor­der­ten Mobi­li­tät der Arbeits­kräfte in der kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­weise.”
Der Chef­ideo­loge dieser Frak­tion hieß Victor Aimé Huber, ein vom preu­ßi­schen König gekauf­ter Profes­sor aus denk­wür­di­ger Genea­lo­gie. Die Schrift, die ihn für die Reak­tion quali­fi­zierte, hieß: “Die innere Kolo­nia­li­sa­tion” (1946): die Arbei­ter bei der Seele fassen, Zwangs­päd­ago­gik, evan­ge­li­sche Kirchen als Befrie­dungs­ka­the­dra­len, ideo­lo­gi­sche Beru­hi­gungs­cen­ter, notfalls — so Wichern, der christ­li­che Refor­mer — mit Gefäng­nis und Schwei­ge­haft: “Es lebt hier eine förm­li­che Nation von Heiden in einer Sand­wüste … Welche eine verfaulte, verpes­tete, inner­lich und äußer­lich tief gefal­lene Armut, in der Sünde Gerech­tig­keit und Schande Ehre ist.”
Um Gottes willen, denke ich, während die rosa Fassa­den nun rasch dunkeln: Lass doch den Stein der Geschichte ruhen, wo er gerade liegt, damit das Ottern­ge­zücht der Bedeu­tung verges­sen bliebe. Der Rück­weg von Victor Aimé Huber ist kurz; er führt zu einem meiner größ­ten Balkon­göt­ter: zu Georg Fors­ter, dem Welt­rei­sen­den, Sprach­meis­ter, Repu­bli­ka­ner, aber Huber — der für die Bauge­sell­schaft als “Haus­vor­ste­her” fungiert — ist “nur” der Sohn des Mannes, mit dem Fors­ters Frau den Frei­geist betro­gen hatte: Therese Huber, des gelieb­ten Victors Mutter, die erste deut­sche Jour­na­lis­tin, das könnte man wohl sagen: die Frei­geis­ter zeug­ten die Reak­tion? Ach nein; das Wort Reak­tion strei­che ich, was besagt es?
Huber war wohl nur einer, der sich verpflich­tete, kurz zu denken für Geld und der dann wirk­lich dachte, was er sollte, um zu verges­sen, dass er besto­chen war. So blieb er ein Ehren­mann und bekam im Harz eine Villa, die ihm übri­gens auch jener C.W. Hoff­mann baute, der als gerade 30-Jähri­ger die rosa­far­be­nen Torstra­ßen­häu­ser errich­tet hatte, vor denen ich hier ins Sinnen gekom­men bin: damals Wollank­straße 8 und 9, dunkel­rot in Klin­kern.

Damit bin ich um die Ecke Gormann­straße herum in die Zehde­ni­cker Straße und also in den Rücken der Bauge­sell­schafts­häu­ser gelangt: Die Fassade von Nummer 27 zeigt auch das fast edle Wappen der Gutmen­schen­ver­ei­ni­gung. Es ist von beschei­de­ner Eleganz, die verquere Ideo­lo­gie ihrer Urhe­ber sieht man ihm nicht an. Auch von dieser Seite steht der Wohn­kom­plex unter Denk­mal­schutz.
Also weiß man, dass man sich was denken soll. Später, in der Lottum­straße, denke ich, als ich am blau-orange-grünen “Mädchen­treff” vorüber bin: Bunt! Die Häuser bunt malen! Die Geschichte nicht in diesem zarten Rosa liegen lassen, als ob man sie verste­hen, in einer beru­hi­gen­den Halb­erin­ne­rung verges­sen und doch gleich­zei­tig denken könnte, man erin­nere sich. “Leg doch dein’ Vermie­ter um!” steht am rotbraun-blauen, ocker­far­be­nen Haus Ecke Anger­mün­der Straße. Das Apostroph ist studen­ten­ver­däch­tig.
Dann die Saar­brü­cker Straße hinauf und hinab, an der Ecke Straß­bur­ger gibt’s “chice” Büro­flä­chen. Das Wort selbst sieht schick aus. Fassa­den­schi­cke­ria. Zwei­mal um die Ecke, schließ­lich Torstraße 1, um ein erin­ne­rungs­wür­di­ges Wende­mal herum, stehe ich endlich vor der Wohn­an­lage des Berli­ner Beam­ten-Wohnungs-Vereins von 1900, Torstraße 3–15. “Fast so alt wie das BGB”, denke ich und denke an den namhaf­ten DDR-Juris­ten, der hier gewohnt haben soll. Aber das ist ein ande­res Kapi­tel. Oder viel­leicht nicht. Darüber in einem ande­ren Kapi­tel.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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