Meyer’s Hof

Meyer’s Hof stand für das düstere Leben der Armen und Prole­ta­rier im Wedding. Der folgende Text ist dem Buch “Eine Reise durch die Acker­straße” entnom­men, das auch schon hier bei Berlin Street doku­men­tiert ist.

Der Wedding, das war die Acker­straße. Und die Acker­straße, das war »Meyer’s Hof«. Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre des 20. Jahr­hun­derts wurde er im ganzen Land bekannt als beson­ders abscheu­li­ches Beispiel von Ausbeu­tung der Menschen ohne jede Rück­sicht auf deren Bedürf­nisse, Gesund­heit oder Leben. Bis zu 2.000 Menschen lebten zeit­weise in diesem Komplex Acker­straße 132/133. Zusam­men­ge­pfercht, krank, verzwei­felt und oft in den Selbst­mord getrie­ben. Meyer’s Hof war das beste Beispiel des Elends des Prole­ta­ri­ats. Und doch war dies nur ein Ausschnitt aus der Geschichte dieses Hauses, das vorher mehr als eine Gene­ra­tion lang ganz anders beur­teilt wurde.
Meyer’s Hof nimmt in diesem Buch beson­ders viel Platz ein, weil er hundert Jahre lang für die Entwick­lung in der Acker­straße und dem Wedding stand. Trotz­dem war dieser Komplex in den verschie­de­nen Zeiten kras­ser, als es der Rest des Weddings war. Dies ist aber vor allem aus seiner Größe zu erklä­ren, denn ansons­ten war er nur ein Wohn­haus unter vielen, mit den selben Proble­men und Entwick­lun­gen.
Meyer’s Hof: Ein fünf­ge­schos­si­ges Vorder­haus über die Breite zweier Wohn­häu­ser. Erdge­schoss, vier weitere Etagen. Dahin­ter: Fünf ebenso große Quer­ge­bäude, zwölf Meter tief, jeweils im Abstand von zehn Metern, zeit­weise mit Keller­woh­nun­gen. Das sechste Quer­ge­bäude war nied­ri­ger. Die Hinter­häu­ser hatten in der Mitte eine Tordurch­fahrt, davon gingen auf beiden Seiten die Trep­pen­häu­ser ab.
Meyer’s Hof war über die hundert Jahre seines Bestehens keine konstante Einheit, sondern hat sich verän­dert. Die folgende Vorstel­lung von Meyer’s Hof ist deshalb auch in mehrere Teile zeit­lich geglie­dert, weil dadurch die unter­schied­li­che Entwick­lung in den verschie­de­nen Zeit­ab­schnit­ten deut­li­cher gemacht wird.

Eine kleine Stadt entsteht

Nicht nur einmal wurde Meyer’s Hof als »Stadt in der Stadt« bezeich­net. Das liegt aber nicht nur an der Größe und Abge­schlos­sen­heit nach außen hin, sondern auch an der Viel­falt, die dieser Wohn­kom­plex zu bieten hatte. Denn es gab nicht nur Wohnun­gen, sondern auch viel Gewerbe und zeit­weise soziale und kultu­relle Einrich­tun­gen in diese Komplex.
Wieso über­haupt »Meyer’s Hof?«.
Der Name Meyer bezieht sich auf den Bauherrn dieser Gebäude. Jaques Meyer besaß in den 70-er Jahres des 19. Jahr­hun­derts eine Textil­fa­brik in der Köpe­ni­cker Straße 18–20, auf deren Gelände auch die Villa stand, in der er bis zum Bau von Meyer’s Hof wohnte. Am 30. Dezem­ber 1871 wurde auf das Grund­stück seiner Fabrik eine bis zum 1.1.1877 zurück zu zahlende Hypo­thek einge­tra­gen. Dieses Geld wurde wahr­schein­lich für den Bau von Meyer’s Hof benö­tigt.
1878 über­nahm sein 27-jähri­ger Sohn Otto Meyer die Verwal­tung und zog auch selbst dort hin, in das zwei­stö­ckige Verwal­tungs-Gebäude auf dem 6. Hof. Otto Meyer verwal­tete Meyer’s Hof bis zu seinem Tod 1920. Der Komplex war also immer­hin 36 Jahre lang in Fami­li­en­be­sitz.
Das Wort »Hof« wurde zur Zeit des Baus eigent­lich eher für Gewer­be­bau­ten benutzt, erst später auch für Wohn­kom­plexe. Das zeigt, dass es in Meyer’s Hof von Anfang an üblich war, dass auch Gewer­be­triebe ange­sie­delt wurden.
Am Anfang gab es 257 Wohnun­gen und 13 Gewer­be­triebe, u.a. eine Bäcke­rei, eine Bade­an­stalt und mehrere Werk­stät­ten. Die Bewoh­ner des Vorder­hau­ses setz­ten sich zusam­men aus Laden­be­sit­zern, Kauf­leu­ten, Ange­stell­ten und Beam­ten, wobei der Begriff »Kauf­leute« etwas irre­füh­rend ist. Darun­ter verstand man oft Hand­wer­ker, die ihre Produkte auch selber verkauf­ten und das war in Meyer’s Hof vorwie­gend der Fall. Im Laufe der 80-erJahre kamen auch noch Fabri­kan­ten dazu, die im 4. oder 5. Hof (damit waren natür­lich nicht die Höfe, sondern die entspre­chen­den Quer­ge­bäude gemeint) ihre Fabrik oder Werk­statt hatten. Einige der klei­nen Hand­wer­ker mit eige­ner Werk­statt vergrö­ßer­ten sich im Laufe der Zeit, sie wurden Fabri­kan­ten und zogen dann auch ins Vorder­haus. In den Hinter­häu­sern lebten vor allem einfa­che Arbei­ter und Ange­stellte, Arbeits­lose und Witwen.
Der weit­aus größte Teil der Wohnun­gen bestand nur aus Stube, Küche und einer klei­nen Kammer. Das waren natür­lich die in den Quer­ge­bäu­den. Dabei waren die Wohnun­gen auch keine abge­trenn­ten Einhei­ten, wie man es heute kennt, sondern auf jeder Etage gab es einen langen Flur, von denen die jewei­li­gen Zimmer abgin­gen. Man musste also, um z.B. von der Küche in die Stube zu gelan­gen, über den gemein­sa­men Flur. Weil dieser aber in der Mitte des Gebäu­des lag, war er immer duster.
Eine Toilette hatten die Mieter zu dieser Zeit in den Hinter­häu­sern noch nicht, diese gab es nur auf den Höfen. Und sie wurden auch nur zwei­mal täglich von einem zentra­len Wasser­spei­cher auf dem Dach­bo­den des 6. Gebäu­des aus gespült. Ledig­lich im Vorder­haus und im Verwal­tungs-Gebäude gab es eigene Toilet­ten. Erst viel später sind dann auch in den ande­ren Häusern Toilet­ten einge­baut worden, an den Trep­pen­flu­ren, immer zwei für eine Etage. Eigene Wasser­hähne gab es für die Mieter in den ersten Jahren auch nicht, man musste immer auf den Trep­pen­flur zum gemein­sa­men Wasser­hahn.
Jaques und später auch Otto Meyer ließen die Häuser oft umbauen, vor allem, wenn ein Gewer­be­be­trieb einzie­hen oder sich vergrö­ßern wollte. Dabei fällt auf, dass sie in den 36 Jahren, in denen sie selbst die Verwal­tung besorg­ten, kein einzi­ges Mal recht­zei­tig einen Bauan­trag bei der zustän­di­gen Poli­zei­be­hörde stell­ten. Sämt­li­che Bauan­träge für Dutzende von Umbau­ten wurden nach­träg­lich gestellt und auch erst, wenn der betref­fende Umbau von der Poli­zei entdeckt wurde oder von irgend jeman­dem verra­ten wurde. Offen­sicht­lich liefer­ten sich die Meyers ein klei­nes Spiel­chen mit der Poli­zei.
Zu dieser Zeit war Meyer’s Hof immer eine Baustelle. Denn die von den Gewer­be­trei­ben­den gewünsch­ten Umbau­ten wurden meist prompt erle­digt. Und oft waren diese Vorrei­ter für Einrich­tun­gen, die dann später auch die Wohn­mie­ter beka­men. Zum Beispiel die Toilet­ten, Dampf­hei­zun­gen, Gas und Strom. Die Betriebe erhiel­ten auch eigene Dampf­ma­schi­nen, viel später sogar einen Aufzug. Aber auch in den Wohnun­gen wurden neue Wände gezo­gen, Durch­brü­che gemacht, Räume zusam­men­ge­legt, andere getrennt. Für diese Zeit kann man sagen, dass auf die Wünsche der Mieter wirk­lich einge­gan­gen wurde.
Über die Lebens­ver­hält­nisse der Mieter in den ersten drei­ein­halb Jahr­zehn­ten ist kaum etwas über­lie­fert worden. Trotz­dem aber noch soviel, dass man von einer rela­tiv huma­nen Bele­gungs­zahl der Wohnun­gen ausge­hen kann, auch wenn schon zur Zeit des Baus gerade im Wedding Wohnungs­not herrschte. Denn die vielen hier entste­hen­den Betriebe brauch­ten ja Arbei­ter und diese woll­ten nicht nur arbei­ten sondern auch wohnen. Anschei­nend waren die Meyers nicht so unver­fro­ren und geld­gie­rig wie die folgen­den Eigen­tü­mer, die Meyer’s Hof bis zum letz­ten Meter mit Menschen voll­stopf­ten, an denen sie dann verdie­nen konn­ten. Aller­dings gab es in den ersten Jahren auch Keller-Wohnun­gen, die erst Anfang der 30-er aufge­löst wurden (aller­dings durch baupo­li­zei­li­che Verfü­gun­gen, nicht aufgrund huma­ni­tä­rer Anwand­lun­gen des neuen Besit­zers). Über Probleme in den Anfangs­jah­ren berich­tet ein Zeitungs­ar­ti­kel:
»Noch vor Bauvoll­endung wurde das Gebäude von wohnungs­su­chen­den Mietern gestürmt und in Besitz genom­men. Eine schlechte Mieter­schaft nistete sich ein, und als der jetzige Besit­zer im Jahre 1878 das Grund­stück über­nahm, war es in der kurzen Zeit völlig verwahr­lost. Von der Mieter­schaft, die der Besit­zer Herr Otto Meyer jetzt antraf, gab er mir einige dras­ti­sche Schil­de­run­gen. Miete zahl­ten über­haupt nur die wenigs­ten, und die sich nur auf das Nicht­zah­len beschränk­ten, waren eigent­lich noch die besse­ren Elemente. Einzelne gingen noch viel weiter. Einer der Mieter, von Beruf Töpfer, hatte die Kachel­öfen seiner Wohnung abge­ris­sen und verkauft. Ein ande­rer handelte mit Weih­nachts­bäu­men, er hatte den Fußbo­den seines Zimmers aufge­bro­chen und die Bret­ter zu Baum­stüt­zen und Unter­la­gen zersägt.
Der Besit­zer nahm sich nunmehr vor, seinen Haus­be­sitz in die Höhe zu brin­gen, indem er nur solide Mieter herein nahm, aber zu billi­gen, nicht stei­ger­ba­ren Mieten vermie­tete. Bald hatte sich eine seßhafte Mieter­schaft einge­fun­den.
Die Geschichte dieser Haus­ver­wal­tung, des Nieder­gangs, des Verfalls, des Aufstei­gens ist gewiß lehr­reich. Es genügt, ein altes, gut verwal­te­tes Haus mit verwahr­los­ten Gebäu­den zu verglei­chen, um zu erken­nen, wieviel hier von der Tätig­keit und der Arbeit – oder der Nicht­tä­tig­keit – des Haus­be­sit­zers abhängt.«
1877 wurde das 59. Poli­zei­re­vier in Meyer’s Hof einge­rich­tet, dessen Leiter Thiele auch in dem Haus wohnte. 1884 veröf­fent­lichte Julius Roden­berg die erste bekannte lite­ra­ri­sche Beschrei­bung von Meyer’s Hof:
»Endlich bietet sich mir auch in der Acker­straße noch ein Anblick, welcher allein genü­gen würde, den unge­heu­ren Abstand zwischen Einst und Jetzt darzut­hun, oder gewis­ser­ma­ßen in einem Bilde zu zeigen: Ich meine die Meyer’schen Fami­li­en­häu­ser, welche den Platz einneh­men, wo früher die Bara­cken des Voigt­lan­des gestan­den haben. Auch damals gab es hier schon Fami­li­en­häu­ser. Aber wie es darin ausge­se­hen, das ist in dem Buche Bettina von Arnim beschrie­ben. Wenn man mit solchen Zustän­den die gegen­wär­ti­gen Fami­li­en­häu­ser vergleicht, dann begreift man, welche Fort­schritte wir seit­dem gemacht haben. Colos­sal in ihrem Umfange, geben sie dem Verhält­niß sicht­ba­ren Ausdruck, in welchem mit spar­sams­ter Ausnut­zung des vorhan­de­nen Raumes zugleich für das häus­li­che Wohl­be­fin­den und die sani­täre Zukömm­lich­keit großer, dicht zusam­men wohnen­der Menschen­men­gen gesorgt werden kann. Diese Fami­li­en­häu­ser sind Miets­häu­ser mit etwa fünf­hun­dert Einwoh­nern. Sie glei­chen einer klei­nen Stadt, wimmelnd von Menschen und mit jeder Art von Hantie­rung. Die Front des Haupt­ge­bäu­des, mit zwei mäch­ti­gen Porta­len, flan­kiert die Acker­straße; dahin­ter öffnen sich fünf Höfe, jeder mit zwei vier­stö­cki­gen Quer­ge­bäu­den, durch welche ein gewölb­ter Durch­gang führt, mit zwei Seiten­ein­gän­gen für die Häuser selbst.
In den Höfen herrscht das Leben einer Straße: Kinder spie­len fröh­lich umher, Werk­stät­ten von jegli­cher Beschaf­fen­heit sind in vollem Betrieb, und Frauen, welche Grün­kram und Obst feil­hal­ten, sitzen an den Ecken. Den Hinter­grund des letz­ten Hofs bildet eine Bade­an­stalt mit einer großen Uhr, welche die Zeit in diesem Gebäu­de­com­plex regelt, und vorn, am Stra­ßen­por­tal, hängt eine fast die ganze Wand bede­cken­de­Ta­fel mit den Namen der Einwoh­ner, dane­ben aller­lei sons­ti­gen Benach­ti­gun­gen. Ich muß sagen, daß dies Alles einen guten Eindruck machte, wie ich bei Zwie­licht die Höfe durch­schritt, in welchen so viele Hunderte dicht zusam­men leben und dennoch einan­der nicht im Wege sind. Die Luft in den ange­mes­sen geräu­mi­gen Höfen war nicht schlecht, und als ich sie verließ, fingen eben die Gasla­ter­nen an, ihr reich­li­ches Licht in densel­ben zu verbren­nen.«1

Poli­zei­an­zeige vom 14. Juni 1884: »Die tiefen Licht­schächte vor den Keller­fens­tern auf dem Hofe entbeh­ren jegli­cher Abde­ckung oder Umfrie­dung, so daß daraus Gefahr für Passan­ten des Hofe nament­lich aber für spie­lende Kinder entste­hen kann.« Jaques Meyer wurde aufge­for­dert, die 180 (!) bis zu 1,5 m tiefen Licht­schächte der Keller­woh­nun­gen inner­halb von 14 Tagen vergit­tern zu lassen.
Poli­zei­an­zeige vom 10. Juli 1891: »Spülung der Closetts befref­fend. Auf dem Grund­stück befin­den sich 4 Closett­ge­bäude, welche zwar an die städ­ti­sche Kana­li­sa­tion ange­schlos­sen sind, jedoch der Einzel­spü­lung entbeh­ren; viel­mehr haben sämt­li­che Closetts eines Gebäu­des eine gemein­schaft­li­che Spülung, welche von dem Verwal­ter des Grund­stücks jeden Tag angeb­lich 2–3 mal vorge­nom­men wird.
Meyer hat im hinte­ren Teil des Grund­stücks ein Wasser­re­ser­voir ange­bracht, von welchem der Wasser­be­darf nach den Wohnun­gen, wie auch zu den Closetts gelei­tet wird. Wenn­gleich die besagte Einrich­tung in sani­täts­po­li­zei­li­cher Bezie­hung zu klagen noch keine Veran­las­sung gege­ben hat, so stellt das Revier doch gehor­samst anheim, ob nicht auf Grund der bestehen­den Bestim­mun­gen die Einzel­spü­lung der Closetts zu verlan­gen sein dürfte.«
Doch der Antrag schei­terte, da die Verord­nun­gen ledig­lich das Vorhan­den­sein von Toilet­ten regelte, nicht aber die Art der Toilet­ten.

Anonyme Post­karte an das Poli­zei­re­vier (mitt­ler­weile am Garten­platz 4) vom 28. Juni 1893: »Ersu­che sie freund­lichst, den Kauf­mann Jintze, wohn­haft hier, anord­nen zu wollen seinem Comis eine andere Schlaf­stelle anwei­sen zu lassen. Da die betref­fende Schlaf­stelle ein Hänge­bo­den der kaum 4 Fuß hoch ist und auch kein genü­gen­des Fens­ter zu lüften vorhan­den ist.«
Poli­zei­an­zeige vom 2. Septem­ber 1894: »Am 31. August hat der Eigen­tü­mer Meyer auf seinem Grund­stück, 2. Hof paterre, zwei Fach­werk­wände gänz­lich entfer­nen und in zwei massive Schei­de­wände Türlö­cher einrei­ßen lassen. Zweck der ohne baupo­li­zei­li­che Geneh­mi­gung ausge­führ­ten Arbei­ten ist die Herstel­lung zusam­men hängen­der Räum­lich­kei­ten zur Unter­brin­gung einer Koch­schule für Mädchen der arbei­ten­den Clas­sen.«
Beschwerde von zehn Mietern des 5. Quer­ge­bäu­des vom 17. Mai 1895: »In dem vorste­hend erwähn­ten Quer­ge­bäude hat der Buch­dru­cker W. Manteuf­fel einen Gasmo­tor aufstel­len lassen, welcher von morgens bis nach­mit­tags 4 Uhr im Betriebe. Hier­durch sind uner­träg­li­che Zustände einge­tre­ten. Nicht allein, daß alles in den Wohnun­gen stets hin und her schwankt, Wände und Decken haben derar­tige Risse bekom­men, daß der Putz davon abfällt und selbige einzu­stür­zen drohen. Der Zustand ist gera­dezu lebens­ge­fähr­lich und seitens des Eigent­hü­mers des Grund­stücks eine Abhüfle nicht zu erwar­ten.«
Die Besich­ti­gung durch die Bauin­spek­tion ergab, dass der Gasmo­tor falsch einge­stellt war und es deswe­gen zu den star­ken Schwin­gun­gen kam. Nach der Repa­ra­tur war Ruhe.
1897 wurden in den fünf Quer­ge­bäu­den insge­samt 51 Toilet­ten einge­baut. Das entspricht einem WC pro Aufgang und Etage. Danach sind die Toilet­ten-Anla­gen auf den Höfen abge­ris­sen und statt­des­sen dort Verkaufs­stände (1. und 2. Hof) und Pfer­de­ställe (3.–5. Hof) aufge­baut worden.
Am 28. Okto­ber 1904 gab Otto Meyer bekannt, dass das Grund­stück Tag und Nacht bewacht wird und die ganze Nacht hindurch beleuch­tet war. Ein Privat­wäch­ter musste nachts jede halbe Stunde seine Runde drehen. Dies legt die Vermu­tung nahe, dass die Verhält­nisse in Meyer’s Hof zu dieser Zeit eini­ger­ma­ßen geord­net verlie­fen.
Von 1874 bis 1910 gab es Dutzende, viel­leicht sogar Hunderte Gewer­be­be­triebe in Meyer’s Hof. Meist waren dies aber keine Firmen, sondern nur einzelne Menschen, die in ihrer Wohnung etwas herstell­ten oder verar­bei­te­ten. Neben vielen »übli­chen« Betrie­ben waren in Meyer’s Hof auch folgende zu finden: Fünf Cigar­ren­ma­cher, eine Grün­kram­hand­lung, die 13. Volks­kü­che, eine Bild­hau­er­werk­statt, drei Mostrich­fa­bri­ken, das Vereins­lo­kal der Metho­dis­ten-Gemeinde, eine Nudel­fa­brik, die »Erste Berli­ner Wäschenä­he­rei«, eine Knopf-Fabrik, ein Bier­ver­lag, ein Depot der Stra­ßen­rei­ni­gung, eine Filz­plat­ten­fa­brik, eine Honig­ku­chen-Fabrik, eine Pantof­fel­fa­brik, eine Cylin­der­put­zer-Fabrik, eine Reise­kof­fer-Fabrik, eine Bind­fa­den­hand­lung, eine Kessel­schmiede, eine Glas­buch­sta­ben-Fabrik, eine Schirm­stock­fa­brik, drei Sack­hand­lun­gen, eine Haar­na­del­fa­brik, eine Koch­schule des Zweig­ver­eins des Vater­län­di­schen Frau­en­ver­eins, eine Papier­tü­ten-Hand­lung, eine Wasch­an­stalt, eine Carton­fa­brik, eine Bürs­ten­höl­zer-Fabrik, eine Perl­mutt­schlei­fe­rei, eine Kamm­fa­brik, eine Bade­an­stalt, eine Gänse­hand­lung, ein Instru­men­ten­ma­cher, eine Laden­kas­sen­fa­brik, eine Eier­ko­gnak-Fabrik, ein Metall­fa­den-Lampen­werk, eine Milch­ver­damp­fung, eine Blumen­dün­ger-Fabrik, eine Hutfa­brik und schließ­lich eine Sarg­hand­lung…

 Das Speku­la­ti­ons­ob­jekt

Seit dem Bau von Meyer’s Hof waren nunmehr 36 Jahre vergan­gen. Über die Zeit zwischen 1910 und Ende der Zwan­zi­ger ist nicht bekannt, dass es noch bedeu­ten­dere Umbau­ten gege­ben hätte. 1920 starb Otto Meyer und damit begann auch der Abstieg von Meyer’s Hof. Vorüber­ge­hend waren noch »Meyers Erben« die Eigen­tü­mer, doch zur glei­chen Zeit kam die Firma Keyling & Thomas ins Spiel. Diese war bereits auf dem benach­bar­ten Grund­stück Acker­straße 126–129 nieder­ge­las­sen und betrieb dort eine Eisen­gie­ße­rei. Der Betrieb nahm mehrere große Grund­stü­cke zwischen der Acker­straße und der Garten­straße in Beschlag. Doch weil ihr der Platz nicht reichte, begann die Firma damit, auch benach­barte Grund­stü­cke aufzu­kau­fen, um sie dann mit eige­nen Gebäu­den neu zu bebauen. In der Acker­str. 123–125 und der Garten­str. 46 und 47 wurde die ursprün­gi­i­che Bebau­ung durch neue Gieße­rei­hal­len ersetzt. Doch mit Meyer’s Hof sollte es Probleme geben.
Die Firma Keyling & Thomas, mitt­ler­weile umbe­nannt in Eisen­gie­ße­rei AG, wurde am 21. Septem­ber 1921 neuer Eigen­tü­mer der Acker­str. 132/133. Als erstes began­nen sie damit, das letzte Gebäude in Meyer’s Hof umzu­bauen, in dem sich bis dahin eine Bade­an­stalt und die Haus-verwal­tung befun­den hatte. Statt­des­sen rich­tete man in diesem Gebäude eine »Kern­ma­che­rei« ein. Die Pläne für Meyer’s Hof waren klar: Abriss der Wohn­häu­ser, Neubau von Produk­ti­ons-Gebäu­den. Doch da die Eisen­gie­ße­rei nicht schnell genug war, kam ihr 1923 das neue Mieter­schutz­ge­setz dazwi­schen. Dadurch wurden die Pläne über’n Haufen gewor­fen, denn nun konnte der Wohn­kom­plex nicht mehr einfach entmie­tet werden. Da die Pläne mit dem Grund­stück damit zersto­ben waren, wurde Meyer’s Hof für die Firma unin­ter­es­sant; man ließ ihn verkom­men, viel­leicht auch in der stil­len Hoff­nung, das Problem würde sich auf diese Art bald von allein lösen. 1927 verließ die Eisen­gie­ße­rei AG dann aber den Stand­ort Wedding und siedelte nach Britz um.

Im Sommer dessel­ben Jahres verkaufte sie Meyer’s Hof an die »Union Bauge­sell­schaft«, die das Grund­stück aber ledig­lich zu Speku­la­ti­ons­zwe­cken haben wollte. Denn schon am 6. Septem­ber 1927 bot die Union das Gelände dem Bezirk Wedding zum Kauf an. Anschei­nend hatte sie mitbe­kom­men, dass der Bezirk durch das Grund­stück eine neue Straße bauen wollte und erhoffte sich dadurch hohe Profite. Es sah auch ursprüng­lich so aus, dass der Deal schnell vonstat­ten gehen konnte, doch stritt man im Bezirks­amt über die korrekte Stra­ßen­füh­rung. Darüber verging Monat um Monat, bis schließ­lich – zwei­Jahre später! – der Bau der Straße und damit auch der Kauf des Grund­stücks wieder verwor­fen wurde. Die Union Bauge­sell­schaft hatte in der Zwischen­zeit immer wieder zum Kauf von Meyer’s Hof gedrängt, da sie selbst in große finan­zi­elle Schwie­rig­kei­ten gekom­men war. Gleich­zei­tig wies sie auch auf die schlim­men sani­tä­ren Zustände in dem Haus hin, um damit eine Beschleu­ni­gung der Entschei­dung zu errei­chen. Doch an diesen Zustän­den änderte sie nichts. Wie schon zuvor für die Eisen­gie­ße­rei war auch für die Union nur das Grund­stück von Inter­esse, die darauf leben­den Menschen stör­ten nur.
Im April 1929 verkaufte die Union Bauge­sell­schaft Meyer’s Hof schließ­lich an die »Nord­deut­sche Immo­bi­lien AG«, zu einem Preis von 170.000 Reichs­mark – einem Vier­tel der Summe, die sie ursprüng­lich vom Bezirk gefor­dert hatte.
Doch schon am 24. Januar 1930 wurde Meyer’s Hof wieder verkauft, dies­mal an den Kauf­mann Dr. Alex­an­der Turm­ar­kin. Unter seiner Verwal­tung ging das Haus nun voll­ends den Bach runter und wurde zum verru­fens­ten Gebäude Berlins.

Die 1920er Jahre

Da es wenig Berichte über die 20-er Jahre in Meyer’s Hof gibt, beschränkt sich das folgende Kapi­tel vor allem auf’s Ende der Zwan­zi­ger bis 1930. Aller­dings sind die hier beschrie­be­nen Zustände eben nicht erst zu diesem Zeit­punkt einge­tre­ten, sondern entwi­ckel­ten sich seit 1921 in diese Rich­tung.
Ab 1929 wurde Meyer’s Hof berühmt bzw. berüch­tigt als Hoch­burg des »prole­ta­ri­schen Milieus«. Aufgrund der Wohnungs­not wurden die Wohnun­gen mehr­fach belegt und voll­ge­stopft. Im selben Jahr starb auch der Berli­ner Maler Hein­rich Zille. Und obwohl er kein einzi­ges Bild nach­weis­lich in Meyer’s Hof gezeich­net hatte, wurde das Haus bald die »Zille­burg« genannt. Dies hängt sicher damit zusam­men, dass sich die Zeichun­gen bei Zille und die Zustände in Meyer’s Hof prak­tisch nicht vonein­an­der unter­schie­den. Allein 1929 erschie­nen fünf größere Zeitungs-Arti­kel über Meyer’s Hof, alle verse­hen mit zahl­rei­chen Abbil­dun­gen. Doch anders als früher galt der Komplex nun als abschre­cken­des Beispiel.

Die »Ackerritze«

»Die Bernauer ist eine eher lang­wei­lige Straße. Ein paar Keller­knei­pen, zwei Gemü­se­lä­den, eine Litfaß­säule, mehr gibt es nicht zu sehen. Und auch die Acker­ritze ist längst nicht so breit wie die Brun­nen­straße, besitzt nicht so viele Geschäfte. Aber es ist seine Straße. Hier hat er seine ersten Schritte getan, kennt jeden Pflas­ter­stein, jedes Murmel­loch und jedes zweite Gesicht, das ihm entge­gen­kommt. Im Hauf­lur ist es ange­nehm kühl. Das ist ein Vorteil dieser Häuser, in denen man im Wnter gar nicht so schnell heizen kann, wie man friert, im Sommer wird es nie sehr heiß, wenn man nicht gerade unter’m Dach wohnt.*

Zuerst tauchte er in der Lite­ra­tur bei Franz Hessel auf. In seinem Buch »Spazie­ren in Berlin« beschreibt Hessel eine Wande­rung von der Leip­zi­ger Straße in Rich­tung Norden, wobei er auch in die Acker­straße verschla­gen wird: »Durch die Acker­straße nach dem Wedding zu. Selbst diese trau­rige Gegend bekommt etwas vom Weih­nachts­wald und bunten Markt ab. Aus dem Hof der riesi­gen Miets­ka­serne, dem ersten Hof – sie hat wohl fünf oder sechs, eine ganze Stadt wohnt darin. Alle Arten Berufe lassen sich erra­ten aus den Anschlä­gen: Apos­tel­amt, Pumper­ni­ckel­fa­brik, Damen- und Burschen­kon­fek­tion, Schlos­se­rei, Leder­stan­ze­rei, Bade­an­stalt, Dreh­rolle, Flei­sche­rei… Und noch soundso viel Schnei­de­rin­nen, Nähe­rin­nen, Kohlen­män­ner, die in den endlo­sen, grau­ris­si­gen Quer­ge­bäu­den hausen.
Die Wölbun­gen dieser Torgänge geben dem Groß­stadt­elend wenigs­tens noch ein Gesicht. Sonst ist es hier im Norden wie auch in den prole­ta­ri­schen Teilen von Schö­ne­berg oder Neukölln den Häusern von außen meist nicht anzu­se­hen, wieviel Armut sie bergen. Wie die Menschen, so haben auch die Gebäude eine herun­ter­ge­kom­mene Bürger­lich­keit. Sie stehen in endlo­ser Reihe; Fens­ter an Fens­ter, kleine Balkons sind vorge­klebt, auf weichen Topf­blu­men ein kümmer­li­ches Dasein fris­ten. Um eine Vorstel­lung vom Leben der Bewoh­ner zu bekom­men, muß man in die Hof vordrin­gen, den trau­ri­gen ersten und den trau­ri­ge­ren zwei­ten, man muß die blas­sen Kinder beob­ach­ten, die da herum­lun­gern und auf den Stufen zu den drei, vier oder mehr Eingän­gen der licht­lo­sen Quer­ge­bäude hocken, rührende und groteske Geschöpfe, wie Zille sie gemalt und gezeich­net hat.«
Am 1. Mai 1929, dem soge­nann­ten »Blut­mai«, erschien dann in der »Arbei­ter-Illus­trier­ten-Zeitung« (AIZ) die erste Foto-Repor­tage über Meyer’s Hof. In den Foto­gra­fien erkannte man krasse Bilder aus der Wirk­lich­keit. Der Hoffas­sa­den-Ausschnitt zeigte die glei­che Herun­ter­ge­kom­men­heit der Bausub­stanz und ließ zum ersten Mal erken­nen, dass für die Instand­hal­tung des Hofes nichts mehr getan wurde, seit Meyers Erben verkauft hatten.
Einige Monate später, am 5. Septem­ber 1929, erschien eine zweite Foto­re­por­tage, dies­mal im »Welt­spie­gel«. Unter dem Titel »Die Acker­straße 132/133 lädt zum Ball« berich­te­ten die beiden Jour­na­lis­ten von einem Hoffest, an dem sie offen­sicht­lich teil­ge­nom­men haben. Dieses Fest fand tradi­tio­nell am 4. August statt. Im Gegen­satz zum AIZ-Arti­kel wurde nun nicht das Kaputte und Elende in der Vorder­grund gestellt, sondern das »Mill­jöh«.

In einer Beilage berich­tete die »Berli­ner Morgen­post« am 31. Okto­ber 1929 über Meyer’s Hof: »Über Berlin krei­sen Flug­zeuge, unter der Erde rattern Unter­grund­bah­nen, durch die Acker­straße zwän­gen sich zwei­stö­ckige Auto­busse, denen die erste Miete­rin in Meyers­hof, Frau Minna Riedel, jetzt eine schwer­hö­rige Grei­sin, noch immer etwas mißtrau­isch nach­sieht. Nur an dem Haus der tausend Menschen, Acker­str. 132, hat sich nichts wesent­li­ches verän­dert. Der Glanz der Mauern ist zwar verbli­chen, und von den Fassa­den springt in großen Blät­tern der Putz ab. Aber noch immer steht es wie eine Burg, deren Höfe, wenn es dämmert, Burg­ver­lie­ßen ähneln, in die ein freud­lo­ses Schick­sal sonnen­hung­rige Groß­stadt­kin­der gewor­fen hat.
Hunderte gehen jeden Morgen mit frischen Augen auf den Weg zur Arbeit und kehren abends müde wieder in das Haus zurück, das selten einen Bewoh­ner loszu­las­sen scheint, ehe der Tod ihn abruft.
Eine jede Laune unse­res viel­fäl­ti­gen Schick­sals ist inner­halb der Wände von Meyers­hof erlebt worden. Mehr als 1.000 Ehen wurden geschlos­sen, 500 Frauen haben ihre Kinder zur Welt gebracht. Geschäfts­leute sind zugrunde gegan­gen, und andere haben Erfolg gehabt. Im Nach­bar­haus ist vor 38 Jahren die zwölf­jäh­rige Lucie Berlin von einem Lust­mör­der getö­tet worden. 150 Haus­be­woh­ner haben Meyer’s Hof im Sarg verlas­sen, den ihnen der Tisch­ler im Paterre gezim­mert hat. Einer hat sich erhängt, andere ließen den Gashahn offen… Eine Gene­ra­tion hat den Krieg mitge­macht und ist vom Sensen­mann dahin­ge­mäht worden.«
In einem Inter­view über das Leben in Meyer’s Hof erzählte der Bewoh­ner Harry Kopisch später: »Das große Tor war während der Arbeits­zeit auf. Danach wurden das Tor und die Aufgänge abge­schlos­sen. In der ersten Zeit gab es extra einen Nacht­wäch­ter, da hat man noch keinen Schlüs­sel gehabt, den mußte man rufen. Dann kam der an und hat erst­mal geguckt: Wer ist denn das, wo wollen Sie hin? Wenn man bekannt war, wurde man rein­ge­las­sen. Er hatte im ersten Quer­ge­bäude im Durch­gang sein Kabäu­schen. Links, zum zwei­ten Hof hin, war eine kleine Tür mit einem Verschlag, da hat er Bett, Tisch und einen Ofen drin gehabt. Als er dann 1928 starb, folgte ihm keiner mehr nach. Vater Block, der alte Haus­wart, hat das auch nicht über­nom­men. Eine Zeit­lang haben sie das Tor dann noch zuge­sperrt, und jede Fami­lie hatte ihren Schüs­sel, der so groß war, daß man einen Menschen damit totschla­gen konnte. Aber dann hat sich kein Mensch mehr drum geküm­mert, und das Tor blieb offen.«

Meyer’s Hof

»Nolle wohnt in Meyer’s Hof wie das Haus Acker­straße 132/133 nur genannt wird. Es hat schon mehr­fach den Besit­zer gewech­selt und gehört jetzt einem Russen namens Tumer­kin. Dieser Tumer­kin steckt nichts, aber auch gar nichts in das Haus, um es wenigs­tens ein bischen wohn­li­cher zu machen, will nur die Miete kassie­ren. Es heißt sogar, er hätte das Haus noch nie gese­hen. Doch nicht wegen dieses Meyer oder Tumer­kin ist das Haus so berühmt gewor­den, sondern wegen der sechs Hinter­höfe und der unbe­schreib­li­chen Enge der Räume. Über zwei­tau­send Mieter leben hier. Und dazu sind die Wohnun­gen noch so feucht, daß die Kinder die hier leben spot­ten, sie hatten Wohnun­gen mit flie­ßen­dem Wasser – immer an den Wänden runter.«2

Der Mieter­streik

Am 24. Januar 1930 erwarb Alex­an­der Tumar­kin Meyer’s Hof. Er kümmerte sich genauso wenig um den Komplex wie seine Vorgän­ger. Aller­dings wurde er in den ersten Jahren der Nazi­zeit gezwun­gen, etwas für das Erschei­nungs­bild von Meyer’s Hof zu tun, was aber nicht viel mehr als Kosme­tik war. 1938 oder 1939 verschwand Tumar­kin in die USA und erzählte dort, dass er als Jude rumä­ni­scher Abstam­mung enteig­net worden sei. Nach dem Faschis­mus, 1950, stellte er von New York aus einen Antrag auf Wieder­erstat­tung seines angeb­lich enteig­ne­ten Besit­zes. Doch es stellte sich heraus, dass er gar nicht enteig­net worden, sondern anschei­nend vor den hohen Schul­den geflo­hen war.
Als Tumar­kin 1930 Meyer’s Hof über­nahm, bean­tragte er bei der Städ­ti­schen Baupo­li­zei im Bezirks­amt Wedding eine Ausnahme-Rege­lung zur Rück­ver­wand­lung von Gewerbe- zu Wohn­räu­men. Das 5. Hinter­haus, das Jahre zuvor zu einem reinen Fabrik­ge­bäude umge­baut worden war, stand zum Groß­teil leer. Durch die Wirt­schafts­krise war an eine Neuver­mie­tung zu Gewer­be­zwe­cken nicht zu denken, statt­des­sen such­ten Hundert­tau­sende eine bezahl­bare Wohnung, mehrere zehn­tau­send Menschen saßen auf der Straße. Da ließ sich natür­lich aus dem Haus wieder mal ein Geschäft machen. In der Folge­zeit wurden Teile des 5. Quer­ge­bäu­des mit Einraum-Wohnun­gen bebaut, in die Menschen einzo­gen, die vorher in größe­ren Wohnun­gen gelebt hatten. Doch bei der riesi­gen Arbeits­lo­sig­keit konn­ten sich viele die größere Wohnung nicht mehr leis­ten und muss­ten sich in ein einzi­ges Zimmer quet­schen.
Ansons­ten wurde in Meyer’s Hof auch weiter­hin nichts repa­riert. Am 13. April 1931 wand­ten sich die Mieter Heising und Köhler aus dem 2. Quer­ge­bäude an die Baupo­li­zei: »In Anbe­tracht der vielen Mißstände, die in dem berüch­tig­ten Meyers­hof herr­schen, möch­ten Unter­zeich­nete ebenso höflich wie drin­gend bitten, Meyers­hof einen Besuch abzu­stat­ten. Die Höfe und haupt­säch­lich die Einfahrt von der Straße bis zum 4. Hof sind in solch schlech­tem Zustand, daß Unglücks­fälle gar nicht ausblei­ben.
Gefähr­lich wirken auch die Fassa­den, die man bei und nach schlech­tem Wetter nur mit Lebens­ge­fahr spazie­ren kann. Auch fahren hier Radfah­rer, Autos und Last­au­tos mit großer Geschwin­dig­keit auf den Höfen, daß sich die Bewoh­ner, haupt­säch­lich Kinder und alte Leute, in steter Lebens­ge­fahr befin­den. Nach allen Verhand­lun­gen, die wir mit der Verwal­tung und dem Haus­wirt geführt haben, blieb bisher alles erfolg­los.
Wir bitten nun die Baupo­li­zei, uns in dieser Sache zu unter­stüt­zen und stehen zu jeder Zeit zur Verfü­gung.«3

Mit dieser Eingabe war es das erste Mal, dass zwei Mieter für alle spra­chen, nicht nur für die eige­nen Inter­es­sen. Bei einer Besich­ti­gung lässt sich die Baupo­li­zei von der Haus­ver­wal­tung mit der Zusage abspei­sen, dass die nöti­gen Arbei­ten bereits in Auftrag gege­ben worden seien. Tatsäch­lich wurde dann aber im Juli 1931 nur damit begon­nen, den Putz von den Wänden abzu­klop­fen, ohne ihn zu erneu­ern. Die Mieter in Meyer’s Hof setz­ten dem aber zuneh­mend Wider­stand dage­gen, weil sie zu Recht fürch­te­ten, dass sich dadurch die Wände mit Wasser voll­sau­gen und das Wohnen dort noch gesund­heits­schäd­li­cher wird. Die Arbei­ten wurden aufgrund des Wider­stands abge­bro­chen.
Am 3. August 1932 ging die Miete­rin Adamc­zak zur Baupo­li­zei, weil das Wasser nur noch völlig verdreckt aus den Leitun­gen kam. Doch auch nach einer Entnahme von Wasser­pro­ben änderte sich nichts, die Mieter wurden mit ihrem Problem allein gelas­sen. So wurde August Heising im Okto­ber 1932 von den Bewoh­nern als Mieter­spre­cher gewählt und verfasste einen Beschwer­de­brief an die Baupo­li­zei, in dem er verlangte, dass die Fassa­den neu verputzt werden. Außer­dem beschrieb er Klagen vieler Mieter über Rauch­be­läs­ti­gun­gen beim Feuern der Koch­ma­schi­nen und beim Heizen der Ofen.
»Weiter­hin ist das aus der Wasser­lei­tung flie­ßende Wasser voll­stän­dig verschmutzt, trübe, dunkel­ge­färbt und unge­nieß­bar. Ich bean­trage, dem Vermie­ter aufzu­ge­ben, in möglichst kurzer Frist die oben ange­führ­ten Mängel besei­ti­gen zu lassen.«

Doch wieder geschah nichts. Die Mieter hatten genug, am 29. Dezem­ber 1932 hiel­ten sie eine Versamm­lung ab. Sie beschlos­sen, ab dem 1. Januar 1933 solange keine Miete mehr zu zahlen, bis ihre Forde­run­gen erfüllt werden:
1. Voll­stän­dige Reno­vie­rung des gesam­ten Komple­xes, 2. reines Trink­was­ser, 3. Rück­nahme sämt­li­cher Exmis­si­ons­kla­gen, 4. Strei­chung der rück­stän­di­gen Mieten, 5. Senkung der Mieten um 25%. Hinter diesem Beschluss stan­den 227 von 230 Miet­par­teien! Nur die drei Nazis weiger­ten sich, den Beschluss mitzu­tra­gen.
Zu dieser Zeit gab es in Berlin bereits eine Mieter­streik­be­we­gung. Aller­dings ist diese in der Lite­ra­tur kaum belegt, man muss vor allem in der dama­li­gen Tages­presse suchen. Und da war es vor allem die »Rote Fahne« der KPD, die darüber berich­tete: Zum Beispiel über zwei Streiks in der zu Wohn­zwe­cken umge­bau­ten Kaserne Neue Fried­rich­straße 99 und der »Wanzen­burg«, dem ehema­li­gen Stadt­ge­fäng­nis, deren Zellen eben­falls vermie­tet wurden. Fast täglich fanden sich Berichte von Häusern, die den Miet­streik beschlos­sen oder erfolg­reich been­det hatten, von Exmit­tie­run­gen, die verhin­dert, oder leer stehen­den Wohnun­gen, die besetzt wurden. Begon­nen hatte diese Bewe­gung mit dem Beschluss der Mieter von 14 Wohn­häu­sern in der Swine­mün­der Straße, und zwar in dem kurzen Abschnitt zwischen Arko­na­platz und Zions­kirch­platz im Stadt­be­zirk Mitte. 300 Miet­par­teien verwei­ger­ten dort seit dem 12. August 1932 die Miet­zah­lung. In Hunder­ten von Wohn­häu­sern wurden in den Mona­ten danach Mieter-Versamm­lun­gen abge­hal­ten, Kampf­lei­tun­gen wurden gewählt.
Ursa­che der Streiks waren natür­lich zum einen die zu hohen Mieten, zum ande­ren die immer höhere Zahl der Arbeits­lo­sen, die 1932 ihren Höhe­punkt erreicht hatte. Eine alte Frau formu­lierte einen Satz, der sich dann wie ein Lauf­feuer verbrei­tete und zum Motto der Bewe­gung wurde: »Erst kommt bei uns det Essen!«

Die Poli­zei versuchte zunächst eine Auswei­tung der Streik­be­we­gung durch Verhaf­tun­gen zu verhin­dern. So wurden am 18. August 1932 fast alle Mieter der Lyche­ner Straße 18 im Prenz­lauer Berg verhaf­tet, als sie eine Mieter­ver­samm­lung abhiel­ten. Am nächs­ten Tag dasselbe mit 63 Verhaf­tun­gen in der Lieben­wal­der Straße 41 im Wedding. Doch das konnte nicht verhin­dern, dass am folgen­den Tag 120 Fami­lien im umge­bau­ten Gefäng­nis am Molken­markt, der Wanzen­burg, mit dem Streik began­nen. Dieser endete erst­mals rela­tiv erfolg­reich, die Miete wurde um 40% herab­ge­setzt.
Die Mieter der Köpe­ni­cker Str. 34/35 began­nen am 1. Septem­ber eben­falls zu strei­ken und verwan­del­ten das ganze Haus in eine einzige Kampf­burg. Meter­lange, auf den Bürger­steig gemalte Pfeile wiesen in eine kleine Gasse, einen Fabrik­zu­gang, von dem man gieich­zei­tig in die bestreik­ten Häuser gelangte. Den schma­len Hof umschlos­sen zwei große Miets­häu­ser und eine Fabrik­mauer, auf der in meter­ho­hen Buch­sta­ben die Parole »Erst das Essen, dann die Miete« prangte. Aus den Fens­ter hingen 30 rote Fahnen, vor einem Trep­pen­auf­gang stand: »Hier wird gestreikt, wir wollen leben«. Über einem Keller­fens­ter: »Hier verkom­men unsere Kinder«. Von den 30 Kindern im Haus hatten zwölf Tuber­ku­lose. Ein Pfeil zeigte fragend auf ein ande­res Keller­loch: »Licht, Luft und Sonne für alle?«.
Dieses Haus wurde Anlauf- und Kontakt­stelle der Streik­be­we­gung, hier konn­ten sich Mieter aus ganz Berlin über die Metho­den dieses Kamp­fes infor­mie­ren. Und das Inter­esse war riesig: Zum 1. Novem­ber 1932 traten abge­spro­chen ganze Stra­ßen­züge in den Miet­streik, z.B. die Kösli­ner Straße (Wedding) und die Fischer­straße (Mitte). Ende Novem­ber griff die Bewe­gung auch auf die großen Neubau­sied­lun­gen der Wohnungs­bau-Gesell­schaf­ten über. Hier vor allem mit der Forde­rung für weni­ger Miete. Bei einer Massen­ver­samm­lung der »Gagfah«-Gesellschaft, an der 7.000 Mieter teil­nah­men und einer Versamm­lung von 2.800 »Roland«-Mietern wurden massiv Forde­run­gen nach nied­ri­ge­rer Miete laut.

Es war vor allem die KPD, die sich in der Streik­be­we­gung enga­gierte, aller­dings kann man nicht nur von einer KPD-Bewe­gung spre­chen. Im Novem­ber gab auch die Partei­füh­rung der SPD bekannt, dass sie die Streiks unter­stütze, sie konzen­trier­ten sich jedoch mehr auf die Miet­min­de­rungs-Forde­run­gen in den Neubau­blö­cken. Zu den kata­stro­pha­len Bedin­gun­gen in den vielen Altbau­ten äußerte sich die SPD kaum.

Das Loch

»Das Loch ist der Grund­pfei­ler dieser Gesell­schafts­ord­nung, und so ist sie auch. Die Arbei­ter wohnen in einem fins­te­ren, stecken immer eins zurück, und wenn sie aufmu­cken, zeigt man ihnen, wo der Zimmer­mann es gelas­sen hat. Sie werden hinein­ge­steckt, und zum Schluß über­bli­cken sie die Reihe dieser Löcher und pfei­fen auf dem letz­ten. In der Acker­straße ist Geburt Fluch; warum sind diese Kinder auch gerade aus diesem gekom­men? Ein paar Löcher weiter, und das Asses­sor­ex­amen wäre ihnen sicher gewe­sen.«

Kurt Tuchol­sky, 1931

Als sich Meyer’s Hof um die Jahres­wende 1932/33 nun eben­falls den Streiks anschloss, war dies ein Signal. Nun berich­te­ten auch brei­tere und bürger­li­che Medien ausführ­li­cher über die Beweg­gründe und Ausmaße der Streik­be­we­gung. Am 6. Januar 1933 schrieb die »Welt am Abend« über die Verhält­nisse in Meyer’s Hof:
»Die rissi­gen Fassa­den der Hinter­han­ser sind mit roten Schrif­ten über­zo­gen, aus unzäh­li­gen Fens­tern hängen rote Fahnen und von den Wänden leuch­ten rote Trans­pa­rente. An einer kahlen Mauer schreit der Satz: »Wir wollen als Menschen leben!«, auf einem weite­ren Trans­pa­rent sind die Worte geschrie­ben: »Erst die Kinder satt, dann dem Haus­wirt watt«. Über­all haben die Mieter ihre Kampf­an­sa­gen ange­bracht. Es ist ein gespens­ti­scher Spazier­gang, durch die dunk­len schlucht­ar­ti­gen Höfe zu laufen, und über­all von roter Farbe begrüßt zu werden: Die Streik­lei­tung besteht aus kommu­nis­ti­schen, sozi­al­de­mo­kra­ti­schen und partei­lo­sen Arbei­tern. Wir kämp­fen um nack­tes Menschen­recht, wir wehren uns unse­rer Haut, erklä­ren die Mieter.
Wir gehen in eine Wohnung; ihr Inha­ber, ein alter Mann, nimmt ein Glas und füllt es aus der Leitung: Es ist eine schwarz­graue, fast undurch­sich­tige, mit klei­nen Sand­körn­chen durch­setzte Flüs­sig­keit. In einer ande­ren Wohnung ist das Leitungs­was­ser nicht schwarz, sondern gelb und milchig. Wahr­schein­lich sind die Rohre versackt und verfilzt und mögli­cher­weise verschie­dene ange­bro­chen, so daß sich der Unrat mit dem Wasser vermen­gen kann.
Der Stein­bo­den im Hof hat große Löcher. Es gibt keine Nacht­be­leuch­tung, ein Frem­der würde sich glatt die Beine brechen. Die Dächer der Häuser sind defekt: Bei Regen pras­selt das Wasser in Strö­men herein.
Wir gehen in die Wohnung von Frau Grou, die in einer winzi­gen Kammer unter der Erde haust: Das ist kein Wohn­kel­ler mehr, denn das Fens­ter ist durch einen Pfer­de­stall verdeckt, von den Wänden rinnen unauf­halt­sam Wasser­tropftn, die die Farbe lösen und am Fußbo­den eine schmut­zige Lache bilden. Unter dem Fens­ter­brett wächst dicker Schwamm, der nicht auszu­rot­ten ist.
Dann stei­gen wir die Treppe zum drit­ten Stock­werk. Über dem knapp10 Quadrat­me­ter grofen Wohn­loch befin­det sich ein Klosett – die Decke hält nicht dicht, die Jauche näßt durch und tropft auf den Tisch der beiden Leute, die hier leben müssen. Eine Wand des Raumes ist geris­sen, aus dem zwei­ten, nebenan liegen­den Klosett kann man in die erbärm­li­che Stube hinein­se­hen. Das ist der Meyer-Hof, das in ganz Deutsch­land berüch­tigte Schand­stück des Nordens, der Acker­straße.«

Wie sehr sich der Mieter­streik ausge­wei­tet hatte, ist nicht bekannt. Doch Ende Okto­ber 1932 waren allein in der Gegend um den Stet­ti­ner Bahn­hof 312 Häuser mit 14.615 Mietern im Streik. Anfang1933 hatte die Streik­be­we­gung ihren Höhe­punkt, doch mit der Macht­über­gabe an Adolf Hitler traten plötz­lich ganz andere Verhält­nisse in Kraft. Seit­dem gab es auch keine Infor­ma­tio­nen zu Miet­streiks mehr. Vor dem Hinter­grund des verzwei­fel­ten Versuchs, doch noch einen Gene­ral­streik als letz­tes Mittel gegen den sich auf allen Ebenen und mit allen Mitteln durch­zu­set­zen­den Faschis­mus zu orga­ni­sie­ren, ist das zu verste­hen. Man kann aber davon ausge­hen, dass der Terror der Nazis über­all die Weiter­füh­rung des Streiks verhin­dert hat.

Geschichte eines Mieterstreiks

Eines Morgens um sechs – die Jungens kamen vom Zeitungs­aus­tra­gen -
Hielt vor der grauen Miets­ka­serne ein Plat­ten­wa­gen.
In der Haus­türe stan­den zwei Poli­zis­ten und ein Mann vom Gericht,
Die gingen drei Trep­pen hinauf und klopf­ten. Man öffnete nicht.

Der Schlos­ser kam und brach auf. Das ganze Trep­pen­haus roch nach Gas.
Menschen kamen und schnup­per­ten. Sahen sich an. Keiner sagte etwas.
Ein Schupo kam wieder herun­ter und hustete: »Is was passiert?« -
»Exmit­tie­ren wird nicht mehr nötig sein! Sind schon krepiert!«

Die Tage darauf­war es stil­ler: gedämpf­ter Zank und Geschrei;
Wenn einer mit dem Verwal­ter Krach hatte, liefen sie alle herbei.
Und eines Abends brüllte einer durchs ganze Haus:
»Hört mal zu! Morgen früh schmei­ßen sie im drit­ten Hof einen raus!«

Am nächs­ten Morgen waren schon alle Haus­flure und Trep­pen besetzt.
Die Poli­zis­ten kamen und der Mann vom Gericht: »Wer hat euch hier aufge­hetzt?«
Ein alter Mann trat vor und sagte: »Wollen Sie’s probie­ren?
Gegen uns alle? Wir lassen hier keinen mehr exmit­tie­ren!«

Um neune gingen die Poli­zis­ten. Der Wagen fuhr leer wieder weg.
Ein Mann rief hinter­her: »Nich wieder­kom­men! Hat doch keinen Zweck!«
Im Hof stieg einer auf den Müll­kas­ten und sprach: »Das ist euch doch klar,
Mit der Einig­keit ist aller­hand zu errei­chen, nich wahr?«

Am Tage darauf kamen alle zusam­men im Hof Nummer vier.
Und der alte Mann stieg auf den Müll­kas­ten und schwang ein Papier.
»Arbei­ter, hier hab ich einen Brief an den Wirt geschrie­ben. Hört her!
Wir zahlen bloß noch die halbe Miete. Wir können nicht mehr!«

Auf diesen Brief war vom Wirt ein kurzer Bescheid gekom­men:
Er verhandle nicht, er hätte gericht­li­che Schritte unter­nom­men.
Und wieder versam­mel­ten sie sich. »Der kann doch bei uns nicht landen!«
Wir zahlen jetzt über­haupt nicht mehr. Wir strei­ken! Verstan­den?«

Der Haus­wirt setzte Gericht und Poli­zei in Bewe­gung.
Der Verwal­ter rannte von Tür zu Tür, rot vor Erre­gung.
War alles umsonst. Keiner zahlte. Da kam ein Schrei­ben:
»Mieten um fünf­zig Prozent gesenkt. Rück­stände nicht mehr einzu­trei­ben!«

Und wieder versam­mel­ten sich alle. Da sagte der alte Mann:
»Das war der erste Erfolg. Es kommt nur auf die Einig­keit an!
Und das gilt über­all, nicht bloß beim Kampf um Kammer und Küche!
Gegen unsere Geschlos­sen­heit geht jede Macht in die Brüche.«

Erich Weinert, 1932

 Meyer’s Hof im Faschis­mus

Nach der Macht­über­gabe an Hitler und dem Reichs­tags­brand verän­derte sich das Leben vor allem für dieje­ni­gen, die sich in der Zeit davor beson­ders für Arbei­ter- oder Mieter­rechte einge­setzt hatten. Gerade in den Miets­ka­ser­nen, die Hoch­bur­gen der SPD und KPD waren, war dies ein unvor­stell­ba­rer Einschnitt. Es ist heute auch schwie­rig, den Alltag nach­zu­voll­zie­hen, weil viele der Zeit­zeu­gen nicht mehr leben. Etwa­ige schrift­li­che Zeug­nisse davon exis­tie­ren kaum, weil sie aus Sicher­heits­grün­den nicht ange­legt oder vorsätz­lich vernich­tet wurden.
Über die Auswir­kung der Verhaf­tungs­wel­len auf die Bewoh­ner von Meyer’s Hof gibt es kaum Infor­ma­tio­nen. Augen­zeu­gen dafür sind im Nach­hin­ein nicht an die Öffent­lich­keit gegan­gen und heute sicher nicht mehr am Leben.
Vergleicht man aber die Adress­buch-Einträge der Acker­str. 132/133 von Ende 1932 mit denen von 1935, fällt auf, dass nur noch 50% der ursprüng­li­chen Bewoh­ner dort lebten. Erst ab 1935 pendelte sich die Bewoh­ner­schaft wieder ein und blieb rela­tiv konstant.
Die 1932 und Anfang 1933 entstan­de­nen Mieter­ge­mein­schaf­ten, die sich aus dem gemein­sa­men Inter­esse gebil­det hatten, waren zerstört. Die von den Nazis ange­ord­ne­ten »Haus­ge­mein­schaf­ten« waren damit ja nicht mehr zu verglei­chen, die bilde­ten eher die kleinste Einheit der soge­nann­ten Volks­ge­mein­schaft.
Am 9. Februar 1933, also gut eine Woche nach der Macht­über­nahme der Nazis, besich­tigte eine Kommis­sion der Baupo­li­zei Meyer’s Hof. Sie verord­nete Tumar­kin ganze drei Aufla­gen, die aller­dings so lächer­lich waren, dass es ihm nicht schwer fiel, diese zu erfül­len. Auch ansons­ten hat sich Tumar­kin mit den neuen Macht­ha­bern sehr gut arran­giert, was aus mehre­ren Brie­fen hervor­geht.
Dass sich in Bezug auf die ursprüng­li­chen Forde­run­gen der Mieter von Meyer’s Hof nichts verän­dert hatte, zeigt der Text eines Brie­fes, den eine Miete­rin im Dezem­ber 1934 schrieb: »Hier­durch teile ich ihnen höflich mit, daß ich unse­rem Haus­wirt Dr. Tumar­kin seit Jahren nach jedem Regen gemel­det habe, wie sehr es in unse­rer Küche durch­reg­net, doch blie­ben meine Bean­stan­dun­gen immer ohne Erfolg.«
Erst 1935 griff der Bezirk mit öffent­li­chen Mitteln in die Verhält­nisse in Meyer’s Hof ein: »Heute hat die neue Bezirks-Verwal­tung des Weddings mit allen Kräf­ten eine Besse­rung der Wohn­ver­hält­nisse herbei­ge­führt. Nicht nur die Fassa­den des Vorder­hau­ses und der sechs Quer­ge­bäude wurden instand­ge­setzt, sondern auch sämt­li­che Trep­pen­häu­ser und Wohnun­gen in einen freund­li­chen und wohn­li­che­ren Zustand gebracht.«
Es ist zu vermu­ten, dass die ober­fläch­li­chen Maßnah­men vor allem im Zusam­men­hang mit den für 1936 geplan­ten Olym­pi­schen Spie­len und der damit verbun­de­nen inter­na­tio­na­len Öffent­lich­keit stan­den.
Eines der weni­gen Zeug­nisse aus der Zeit des Faschis­mus, die Meyer’s Hof betref­fen, fand sich 1941 in der von Joseph Goeb­bels gegrün­de­ten Zeit­schrift »Das Reich«:
»1933 begann man zuerst das Haus von den örtlich allge­mein behann­ten poli­ti­schen Anfüh­rern zu säubern. Mehr war kaum auf den ersten Anhieb zu tun. Der Riesen­kom­plex der über sechs Höfe aufge­teil­ten Miets­ka­ser­nen wird heute von 675 Menschen bewohnt.
Die 170 Fami­lien des Hauses, von denen etwa 20 in Koch­stu­ben wohnen, haben 130 Kinder. Die Mieter der Einzel­stu­ben sind zu 80 Prozent alte Leute, Rent­ner-Ehepaare oder verwit­wet. Die übri­gen Koch­stu­ben werden von jünge­ren Ehepaa­ren bewohnt, die z.T. erst in den letz­ten zwei, drei Jahren zuzo­gen und deren Kinder schon während des Krie­ges gebo­ren wurden. Sie gehö­ren, wie die Mehr­zahl der Fami­lien hier, der Arbei­ter­schaft an.
1938 setzte die Kreis­lei­tung VI der NSDAP einen poli­ti­schen Treu­hand­ver­wal­ter für Meyers Hof ein. Er hat die Voll­macht zur welt­an­schau­li­chen, poli­ti­schen und sozia­len Beauf­sich­ti­gung der Mieter und setzt sich auch dafür ein, daß rück­stän­dige Mieten bezahlt werden. Der poli­ti­sche Treu­hand­ver­wal­ter ist eine Sonder­er­schei­nung, bedingt durch die außer­ge­wöhn­li­chen Verhält­nisse dieses gigan­ti­schen Hauses. Die Partei wird durch einen Zellen­lei­ter vertre­ten, der Werk­zeug­ma­cher von Beruf ist, und von fünf Block­lei­tern.
An allen Ecken und Enden ist mit dem Aufräu­men begon­nen worden. Alte, allein­ste­hende Perso­nen, die es gewohnt waren, ihre oft nicht saube­ren Zimmer auch noch als Nacht­asyle gegen Entgelt zu verwer­ten, und die davon nicht ablie­ßen, wurden mit Hilfe der Stadt in Alters­hei­men unter­ge­bracht. Die dadurch frei gewor­de­nen Räume, meis­tens Koch­stu­ben, wurden mit ande­ren Einzel­zim­mern verbun­den, so daß Fami­lien mit Kindern mehr Platz erhiel­ten. Mit dem Ziel, den Fami­lien nach ihrer Kopf­zahl die geeig­netste Wohnung zu verschaf­fen, wurde in dem Gebäu­de­kom­plex Wohnungs­tausch über Wohnungs­tausch vorge­nom­men. Vor allem galt es, das Haus zu entvöl­kern. Die Keller-Wohnun­gen mußten ganz aufge­ho­ben werden.
In einem Raum von 75 qm wurde eine Schar der HJ herein­ge­nom­men. Ihr Auftre­ten hatte eine gute propa­gan­dis­ti­sche Wirkung und viele Anmel­dun­gen zur Folge. Bei den allge­mei­nen öffent­li­chen Versamm­lun­gen schnei­det Meyer’s Hof keines­wegs schlecht ab. In vielen Fällen kann man eher das Gegen­teil sagen.
Die Mehr­zahl der Fami­lien, das hat sieh in den letz­ten Jahren gezeigt, sind sehr wohl fähig, sich in ein höhe­res sozia­les Niveau einzu­ord­nen, wenn man sich Mühe um sie gibt. Auf der ande­ren Seite exis­tie­ren schwie­rige, viel­leicht hoff­nungs­lose Fälle. Aber die kommen nicht nur hier, sondern auch ander­wärts vor.
Es gibt in Meyer’s Hof Menschen, die 45, ja 60 Jahre in ihm wohnen, die sich auch heute dort in ihrem gewohn­ten Heim glück­lich fühlen und hoffen, bis zu ihrem Tode nie auszie­hen zu müssen. Frau S., eine Witwe, wohnt seit 44 Jahren in der glei­chen Stube und Küche. Sie zog darin neun Kinder auf. Ihr Mann war 27 Jahre lang der Wäch­ter des Hauses, das früher noch jeden Abend abge­schlos­sen wurde.«
Wann während des Kriegs Meyer’s Hof beschä­digt wurde, weisen keine Doku­mente mehr nach. Auf jeden Fall gab es die ersten Bomben­schä­den in der Nacht vom 30. Novem­ber auf den 1. Dezem­ber 1943. Ein Arti­kel, der 1947 im »Sozi­al­de­mo­krat« erschien, gibt einen klei­nen Einblick:
»In einer schreck­li­chen Nacht rissen Bomben eines der Quer­ge­bäude in Stücke, fraßen die Flam­men vier weitere Blocks, so daß nur noch das Vorder­haus und das erste Hinter­ge­bäude stehen blieb! Über zwei­hun­dert Wohnun­gen wurden zerstört, über sieben­hun­dert Menschen verlo­ren ihr Obdach, oft ihre letz­ten Habse­lig­kei­ten. Nuir hundert Wohnun­gen, in denen jetzt drei­hun­dert Arbei­ter mit ihren Fami­lien, Rent­ner und Pensio­näre hausen, blie­ben erhal­ten. Und, ein Trost bei allem Unglück, sämt­li­che Einwoh­ner der klei­nen Stadt konn­ten sich retten.
’Nieder mit den Nazis’ kann man am Flur­ein­gang lesen. Ein muti­ges Wort, mit grüner Farbe geschrie­ben, als Meyer’s Hof brannte, Ausdruck der Gesin­nung einer Stadt in der Stadt, die sich zur Weima­rer Zeit an ’beson­de­ren Tagen’ in rotes und schwarz-rot-golde­nes Fahnen­tuch hüllte und braune Sprech­chöre zum Teufel jagte. Und die auch heute noch denkt und fühlt und haßt und liebt wie ehemals.«
Von Meyer’s Hof blieb nach dem Krieg nur das Vorder­haus und das erste Hinter­haus erhal­ten, die vier hinte­ren Quer­ge­bäude waren voll­stän­dig zerstört und wurden später abge­ris­sen.

Die letz­ten Jahre — Erin­ne­run­gen

Während große Teile der Grund­stü­cke im Weddin­ger Sanie­rungs­ge­biet von der DeGeWo gekauft wurden, erhielt den Block 262, auf dem auch Meyer’s Hof stand, südlich der Ernst-Reuter-Sied­lung eine der klei­ne­ren gemein­nüt­zi­gen Bauge­sell­schaf­ten, die Alex­an­dra-Stif­tung. Diese Stif­tung kaufte Meyer’s Hof von dem Sohn des Vorbe­sit­zers, der das Grund­stück mehrere Monate vorher von seinem Vater erwor­ben hatte. Er verkaufte den Hof am 21. Juli 1965. Und anschei­nend hat die Alex­an­dra-Stif­tung mit dem Gelände Großes vor, jedoch nicht mit Meyer’s Hof.

Denn am 29. Septem­ber 1965 verschickte sie an alle Mieter ein gleich­lau­ten­des Schrei­ben, in dem diese darüber infor­miert wurden, dass die Miets­ver­hält­nisse zum nächst­mög­li­chen Termin gekün­digt sind. Da die Stif­tung als Sanie­rungs­trä­ger verpflich­tet ist, den Mietern Ersatz­woh­nun­gen zu beschaf­fen, legte sie dem Schrei­ben einen Frage­bo­gen bei. Mit dem ausge­füll­ten Bogen sand­ten manche Mieter kurze Briefe zurück, in denen sie ausführ­ten, dass sie bereits sehr lange im Wedding wohn­ten, und dort auch blei­ben woll­ten.
Mit den Entmie­tun­gen ging es dann aber doch nicht so schnell, wie die Alex­an­dra-Stif­tung sich das vorge­stellt hatte. Fünf Jahre später, 1970, verzeich­net das Adress­buch noch immer 42 Miet­par­teien in den 82 Wohnun­gen in Meyer’s Hof. Einige der Wohnun­gen wurden in der Zwischen­zeit zwangs­ge­räumt, weil sie für unbe­wohn­bar erklärt worden waren. Erst am 17. Okto­ber 1972, sieben Jahre nach der ersten Nach­richt für die Mieter, dass ihr Haus abge­ris­sen werden soll, wurde Meyer’s Hof gesprengt. Und es dauerte noch­mal ein halbes Jahr, bis das Grund­stück geräumt war. Das war dann das endgül­tige Ende von Meyer’s Hof.

Erinnerungen an Meyer’s Hof

Die beiden folgen­den Texte sind Erin­ne­run­gen ehema­li­ger Bewoh­ner von Meyer’s Hof. Sie wurden komplett dem Buch »Das Berli­ner Miets­haus« entnom­men.

Inge und Hilla Mann:
»Der Flur hatte kein direk­tes Licht, die Türen waren meis­tens verschlos­sen und hatten keine Fens­ter. Ab 1936 gab es elek­tri­sches Licht im Meyer’s Hof, bis dahin wurde mit Gas, Petro­leum oder Kerzen beleuch­tet. Seit­dem hing eine trübe elek­tri­sche Glüh­birne im Flur. Es war so’n rich­ti­ger Graul­kor­ri­dor.
Fami­li­en­feste wurden von allen, die auf dem Flur wohn­ten, gemein­sam gefei­ert, dann waren die Türen offen. Wir wuss­ten doch, wie unsre Buden aussa­hen, wir brauch­ten uns doch nicht vorein­an­der zu schä­men. Keiner war besser. Das Klo lag neben der Küche, der hintere Teil war abge­trennt, das war die Spei­se­kam­mer von Frau Spal­dings. Darüber war das Fens­ter, das man mit einer Stange öffnen konnte.
Wir hatten ja nur in der Küche gelebt. Da gab’s zu essen, zu trin­ken, da wurde drin gewohnt. Das Schlaf­zim­mer, das war tabu, da wurde nur drin geschla­fen. Aber meine Mutti, die hat in der Küche geschla­fen. Geheizt wurde nur in der Küche. Wir haben immer im Kalten geschla­fen.
Küche kann man das eigent­lich nicht nennen, das war so ein klei­nes Ding mit einem Wasser­hahn. Links stand der Koch­herd, so ein eiser­nes Ding, der wurde mit Kohle geheizt. Neben dem großen eiser­nen Herd stand ein Gasherd, der mit einem Schlauch an einen Auto­ma­ten ange­schlos­sen war. In den Gasau­to­ma­ten musste ich immer einen Groschen rein­ste­cken.«

Harry Kompisch:
»1924, als ich drei Jahre alt war, bekam mein Vater die Wohnung. Ich habe dort bis 1941 gelebt, bis ich einge­zo­gen wurde, also 17 Jahre lang. Ich habe meine Kind­heit dort verbracht, und ich muss sagen, es war eine wunder­schöne Jugend, trotz­dem es ’Mill­jöh’ war. Heut­zu­tage würde man das keinem Menschen mehr zumu­ten, aber für uns Kinder war das ein Para­dies zum Spie­len.
Wir haben nicht geguckt, wohnt der im Vorder­haus, wohnt der im zwei­ten, im drit­ten Hof. Uns verband nur die Freund­schaft und die Spie­le­rei. Jungs und Mädels haben zusam­men gespielt. Erst mit etwa 16 trennte sieh das ein bischen.
Der wich­tigste Spiel­platz war sicher Meyer’s Hof selbst, dann der Garten­platz, der einen großen Buddel­platz hatte. Auf das Eisen­bahn-Gelände durfte man nicht. Die Straße war auch Spiel­platz. Wir sind mit dem Roller oder Rad gefah­ren und haben Ball­spiele gemacht, vor allem Schlag­ball. Wenn die Stra­ßen­bahn kam, muss­ten wir Pause machen. Die Stra­ßen­bahn haben wir in unsere Spiel­flä­che mit einbe­zo­gen; Auf- und Absprin­gen während der Fahrt, oder wir haben Knall­plätz­chen, mit denen wir Trap­per und India­ner gespielt haben, auf die Schie­nen gelegt. Dann kam die Stra­ßen­bahn ange­kracht. Die Fahrer, die da täglich mit der 3 durch­fuh­ren, die kann­ten Meyer’s Hof schon und sagten sich, jetzt musst du mal lang­sam fahren, die haben bestimmt wieder was auf die Schie­nen gelegt.
Unser Revier war der Block zwischen Acker- und Garten­straße. Unser eige­nes Revier, das hatten wir in Beschlag, das kann­ten wir in- und auswen­dig, die gegen­über liegende Stra­ßen­seite der Acker­straße gehörte schon nicht mehr dazu. Der tiefe Wedding war der Bereich Acker­straße, Garten­platz, Bernauer Straße, Garten­straße bis zum Ende hin. Der Wedding hinter der Schwind­sucht­brü­cke war wieder ein ande­res Gebiet. Für uns endete der Wedding an der Schwind­sucht­brü­cke.
Die Sack­nä­he­rei im letz­ten Quer­ge­bäude war nur ein Stock­werk hoch, ein Flach­bau, der für uns Kinder herr­lich zum Spie­len war. Wir sind über die Dächer gerannt, übers Neben­haus bis hin zum sechs­ten Hof, da ging eine Leiter runter am Schorn­stein, dann waren wir auf dem Flach­bau. Entwe­der hatten die unten im Hof Säcke gesta­pelt, auf die wir dann drauf gesprun­gen sind, oder wir sind die Regen­rohre runter gerutscht. Wir konn­ten auch, wenn wir weiter gegan­gen sind, über die Dächer von Keyling & Thomas hinweg rüber bis zur Garten­straße. Später, das muss so 1934/35 gewe­sen sein, wurden die Fabrik­hal­len ausge­räumt und einer der ersten über­dach­ten Berli­ner Rummel­plätze in ihnen einge­rich­tet. Genau unter einem Fens­ter lagen die Matten der Ringer; da haben wir als Kinder immer runter gespuckt und haben uns unse­ren Jux gemacht.
Etwa acht bis zehn Kinder aus Meyer’s Hof waren in derselbe Klasse, die Clique Meyer’s Hof hielt auch zusam­men gegen Angriffe von aufen. Die Clique bedeu­tete Schutz, man war ja die größte Kinder­zahl in der Gegend. Morgens hatten die meis­ten einen gemein­sa­men Schul­weg. Wir sind dann zur glei­chen Zeit los. Einer rief den ande­ren runter. Da war früh immer der Appell auf dem Hof: ’Biste fertig?Kommste runter? Wir gehen jetzt!’ – ’Ja, ich komme!’. Neben meinem Zimmer war der Trep­pen­auf­gang von 132, da pochte man an die Wand, das war unser Privat­te­le­fon.
Die Schrip­pen­kir­che hatte, was wir als Kinder sehr begrüß­ten, eine Art Fund­grube von Sachen, die verlo­ren gegan­gen waren und dort verstei­gert wurden. Uns inter­es­sier­ten damals immer Spazier­stö­cke, damit haben wir als Kinder Hockey und Cricket gespielt. Einer kostete einen Sech­ser oder einen Groschen, den habe ich meinem Vater aus dem Leib geris­sen, und dann haben wir den Puck über die Straße gescho­ben.
Die HJ hat in Meyer’s Hof keine Kunden werben können. Gegen­über war eine Berufs­schule, später hieß sie Walter-Wagnitz-Haus, da hatten die sich etabliert. Wir haben gar keinen Kontakt zu denen gehabt. Gewiss, die woll­ten uns auch manch­mal angrei­fen und sind da raus­mar­schiert, mit Fahnen, und versuch­ten uns zu provo­zie­ren. Aber wir haben uns gesagt: Lass die laufen; wir sind dann unse­rer Wege gegan­gen. Also in Meyer’s Hof haben die keine großen Freunde gewin­nen können.
Unser Teil der Acker­straße und der weiter unten, hinter den Fried­hö­fen, die haben wenig mitein­an­der zu tun gehabt. Der Fried­hof war unsere Grenze, die Bernauer Straße. Was dahin­ter kam, war ein ande­res Gebiet. Da unten gab es Prosti­tu­tion. Im oberen Teil der Acker­straße gab es das gar nicht. Das war ein Arbei­ter­vier­tel, da haben die nicht Fuß gefasst. Zur Markt­halle ging man selten. Der Haupt­grund ist bestimmt gewe­sen, dass die Leute bar bezah­len muss­ten. Denn hier im Umkreis des Hauses in den Stamm­ge­schäf­ten, die wir hatten, konnte man ansch­rei­hen lassen. Und Frei­tag war Zahl­tag. Zur Markt­halle in der Acker­straße pilgerte man von Meyer’s Hof nur für bestimmte Arti­kel wie Fisch, den es dort frischer gab als bei uns beim Much. Der hatte zwar auch Fisch, aber der war einge­legt in großen Fässern.
Die Nazis haben keinen Fuß gefasst in Meyer’s Hof. Da war mehr die SPD und die KPD – früher sagte man ’die rote Hoch­burg’ – bis zum Mieter­streik. Der wurde ja auch von den poli­ti­schen Parteien orga­ni­siert und unter­stützt. Vor dem Mieter­streik, da kam der Tumar­kin. Man hatte an der Brand­wand zur Acker­straße 134 über der Schlach­te­rei Sprü­che ange­malt. Einem jungen Mann hatte man eine Wäsche­leine umge­bun­den, hat einen Sitz befes­tigt, dann saß er wie auf einer Schau­kel. Oben haben drei Mann gestan­den und ihn runter­ge­las­sen, dann hat er die Wand bemalt: ’Tumar­kin kommt nach Berlin, um arme Leute auszu­ziehn; doch Meyer’s Hof ist auf dem Posten, und er kommt nicht auf seine Kosten’. Das hat der an die Wand gemalt und das blieb da auch stehen. Bis die Nazis endlich drauf gesto­ßen sind: Das muss weg! Dann haben sie die Fassade neu gestri­chen.
1933/34 haben die Nazis die bekann­ten Kommu­nis­ten und Sozi­al­de­mo­kra­ten raus­ge­holt. Vorne im Vorder­haus wohnte der jüdi­sche Arzt Dr. Moses, die Fami­lie ist 1935 emigriert nach Amerika. Und die Fami­lie Sper­ling – die Frau war ’Arie­rin’, wie man so schön sagte, und der Mann war Jude, die Kinder waren Halb­ju­den, und die hat man nach­her bis auf die Frau alle abge­holt. Das jüngste Kind, der Feddi, lebt heute noch, aber sein Bruder und der Vater, die sind irgendwo umge­kom­men. Den Sper­lings-Kindern haben wir alle Kinder, mal einen Brief geschrie­ben, den haben wir der Mutter über­ge­ben. Die wollte ihren Sohn besu­chen, aber sie hat auch mit der Jüdi­schen Gemeinde Rück­spra­che genom­men, und um uns nicht zu gefähr­den, hat sie den Brief nicht abge­ge­ben.«

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  1. Aus den drei Bänden »Das Berli­ner Miets­haus« von Johann Fried­rich Geist und Klaus Kürvers. Auf über 1.500 Seiten wird darin die Entwick­lung Berlins in den vergan­ge­nen 300 Jahren nach­ge­zeich­net. Eine Pflicht­quelle, wenn man zur Berli­ner Histo­rie arbei­tet. []
  2. Aus dem Buch von Klaus Kordon: »Mit dem Rücken zur Wand«. Kordon, gebo­ren 1943, hat eine »Trilo­gie der Wende­punkte« geschrie­ben: Drei Romane, die jeweils einige Wochen 1918/19, 1933 sowie 1945 mit den Augen eines Kindes sehen, das mit seiner Fami­lie in der Acker­straße wohnt. Die Bücher sind sehr lehr­reich und äußerst span­nend geschrie­ben: »Die roten Matro­sen«, »Mit dem Rücken zur Wand«, »Der erste Früh­ling«. []
  3. Aus den drei Bänden »Das Berli­ner Miets­haus« von Johann Fried­rich Geist und Klaus Kürvers. Auf über 1.500 Seiten wird darin die Entwick­lung Berlins in den vergan­ge­nen 300 Jahren nach­ge­zeich­net. Eine Pflicht­quelle, wenn man zur Berli­ner Histo­rie arbei­tet. []

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3 Kommentare

  1. Einer meiner Vorfah­ren, der “Fabri­kant” Wilhelm Wunder­wald” (seine Ehefrau war eine geb. BOLLE), besaß wohl einen Teil des Ensem­bles (4. Hinter­hof vom Meyers Hof), wenn man die Immo­bi­lien- Versi­che­rungs- Police sieht, die mir vorliegt.
    Sollte es von Inter­essse sein, stelle ich Ihnen gern eine Kopie der Urkunde als jpg- oder PDF- Datei zu Verfü­gung.
    Mit freund­li­chen Grüßen Dipl.- Ing. Will- Fred Paul Bolle

  2. Meine Fami­lie hat ihre Wurzeln auf dem Meyer­hof. Sie betrieb dort die Bäcke­rei im Vorder­haus acker­strasse 132. Erst mein Groß­va­ter Albert Royl von 1904 bis in die Mitte Der drei­ßi­ger Jahre, danach seine Toch­ter Johanna,meine Tante mit ihrem Mann Karl Jahn1904 bis 1963. Nach dem frühen Tod Ihres Mannes 1942 im Russ­land Krieg führte meine Tante die Bäcke­rei mit Ange­stell­ten später mit zwei Ihrer Ihrer Kinder weiter. Ich kenne viele viele inter­es­sante Bege­ben­hei­ten aus den Fami­li­en­ge­schich­ten. Herr Hocken­holz, der Acker­strasse ganzer Stolz wurde oft erwähnt auch Dr. Moses. Auch der Konflikt zwischen den Roten und den Nazis wurde viel genannt. Mein Groß­va­ter war ein sehr from­mer Mann. Er spen­dete viel für die Schrip­pen­kir­che. Er litt sehr, als seine Söhne sich bei den Nazis enga­gier­ten.

  3. Ich kenne nur die Wohn­ver­hält­nisse inner­halb von Berlin unmit­tel­bar nach dem Krieg.Hier lebte meine Verwandt­schaft und ich habe die Falken­stein­straße 46 in Kreuz­berg erlebt. Die Bewoh­ner waren alle einfa­che Leute aber der Zusam­men­halt, und dies in einer Groß­stadt, ist mir bis heute in guter Erin­ne­rung. So etwas ist heute leider nirgendwo mehr zu finden. Eine alte Tante meiner Mutter wohnte auf einem Dach­bo­den in der Lange­straße am Ostbahn­hof. Die Armut, die ich dort um 1950 wahr­ge­nom­men habe, kann sich heute keiner mehr vorstel­len. Trotz­dem liebe ich Berlin heute noch, wohne aber am Nieder­rhein.

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