Eine Axt schlug ein auf die Erde. Sie spal­tete die ganze Welt, sie spal­tete auch Europa, Deutsch­land, Berlin und schließ­lich die Brun­nen­straße in zwei Teile. Der soge­nannte »Eiserne Vorhang«, der einen großen Teil der Erde vom ande­ren Teil abtrennte, war der glei­che, der auch eine (fast) undurch­dring­li­che Grenze quer über die Brun­nen­straße zog. Seit dem Morgen des 13. August 1961 waren Ost- und West-Berlin nicht nur formal getrennt, sondern ganz real. Es war nicht mehr möglich, den ande­ren Teil der Stadt zu betre­ten. Somit ist die Geschichte der Brun­nen­straße auch eng mit der Geschichte der deut­schen Teilung und der Mauer verknüpft.

In den kommen­den 28 Jahren sollte diese Grenze das Leben in beiden Hälf­ten der Brun­nen­straße maßgeb­lich beein­flus­sen, denn von diesem Datum an änderte es sich grund­sätz­lich. Nicht nur, dass eine der wich­tigs­ten Verbin­dungs­stra­ßen der Gegend nun zur Sack­gasse gewor­den war und nirgendwo mehr hinführte, als zu einer Mauer. Ein gewach­se­nes Wohn­vier­tel wurde zerris­sen, die Menschen aus der Rheins­ber­ger Straße konn­ten nicht mehr zur S‑Bahn am Gesund­brun­nen fahren, die Menschen vom Vineta­platz konn­ten nicht mehr zum Rosen­tha­ler Platz.
Wer auf der ande­ren Seite arbei­tete, musste sich nun nach einem neuen Job umse­hen. Auch mit dem billi­gen Einkauf im Osten (für die einen) oder dem Einkauf von luxu­riö­se­ren Waren im Westen (für die ande­ren) war Schluss. Nur die Vögel und die Maul­würfe konn­ten die nun geschlos­sene Grenze unge­hin­dert passie­ren, und aus dieser Erkennt­nis heraus machte sich auch bald so mancher auf, es den Maul­wür­fen gleich­zu­tun: Es wurden Tunnel gegra­ben, von West nach Ost, oder von Ost nach West, jeweils aber immer mit dem Ziel, Menschen den Weg Rich­tung West­ber­lin zu öffnen, die nicht mehr legal die Seite wech­seln konn­ten. In die andere Rich­tung war es übri­gens immer möglich, den Wohn­ort zu verle­gen, da gab es kaum Beschrän­kun­gen. Über die Tunnel­boh­rer wird hier noch an ande­rer Stelle berich­tet.

Der Mauer­bau an der Brun­nen­straße ging leise vor sich. Von der Inva­li­den­straße kommend fuhren Mann­schafts­wa­gen der Grenz­trup­pen und der Volks­po­li­zei vor. Sie sperr­ten die Straße Rich­tung Wedding ab. Hier in der Bernauer Straße verläuft die Grenze entlang der Häuser­front auf der Ostber­li­ner Seite. Und so brauch­ten die Bewoh­ner dieser Häuser nur vorn aus dem Haus zu treten und schon waren sie im Wedding und damit im Westen. Doch gerade diese Häuser sind natür­lich das erste Ziel der Grenz­po­li­zis­ten.
Doch nicht alles läuft so reibungs­los wie geplant. Denn da die DDR-Staats­füh­rung diese Aktion geheim halten musste, hat sie auch nicht sofort an sämt­li­chen Stel­len genü­gend Bauma­te­rial zur Verfü­gung stel­len können. So wurden erst­mal Stachel­draht­rol­len ausge­legt. Immer wieder gab es Versu­che durch­zu­bre­chen, aber die bewaff­ne­ten Einhei­ten stan­den davor: Offi­ziere und junge, verstörte Wehr­pflich­tige der NVA, Volks­po­li­zis­ten und Mitglie­der der Betriebs­kampf­grup­pen. Plötz­lich drehte sich einer der Bewa­cher um, ein junger Soldat, rannte auf den Stachel­draht zu und sprang über die Stachel­draht­rol­len in den Westen. Dort stand in der Bernauer Straße ein Jour­na­list, der das berühmte Foto machte, genau in dem Moment, als der Soldat sprang.

In den ersten zwei Tagen nach dem Mauer­bau gab es eine merk­wür­dige Situa­tion: Da manche Häuser an der Bernauer Straße von hinten nicht zugäng­lich waren, konn­ten die Mieter immer noch nach vorne hinaus. So setz­ten sich natür­lich viele noch in letz­ter Minute in den Westen ab, die nicht in Ost-Berlin blei­ben woll­ten. Gleich in den ersten Tagen wurde damit begon­nen, diese Häuser nach hinten aufzu­bre­chen. Doch auch dann wurden die Bewoh­ner noch nicht heraus­ge­holt, weil nicht sofort genü­gend Ersatz­wohn­raum für sie zur Verfü­gung stand. Statt dessen sind erst­mal nur die Eingangs­tü­ren und Parterre­fens­ter zuge­mau­ert worden, die zur Bernauer Straße gingen. In den folgen­den Wochen haben sich dann noch viele Haus­be­woh­ner aus der Bernauer Straße in Rich­tung Westen abge­seilt. Durch das Span­nen von Draht und Stachel­draht vor den Fens­tern versuch­ten die Grenz­trup­pen, dies zu verhin­dern. Sowie es für die dort Leben­den aber eine andere Wohnung gab, muss­ten sie inner­halb weni­ger Stun­den auszie­hen und die Fens­ter wurden zuge­mau­ert.

Dann kam der 24. Septem­ber 1961. Morgens um sechs fielen Hunderte Ange­hö­rige der Volks­po­li­zei und aus Betriebs­kampf­grup­pen in die Häuser ein, die große Häuser­räum-Aktion begann — 2.000 Menschen soll­ten an diesem Tag umge­sie­delt werden.
In den folgen­den Stun­den spiel­ten sich sehr tragi­sche Szenen ab, weil viele ihre Wohnun­gen nicht verlas­sen woll­ten. Und viele woll­ten auch nicht in der DDR einge­mau­ert werden. Manche Leute versuch­ten noch, aus ihren Fens­tern in den Westen zu sprin­gen, die Bilder gingen später um die Welt: Die Fassade eines Wohn­hau­ses in der Bernauer Straße 34, im ersten Stock eine alte Frau, die auf dem Sims steht und sich ängst­lich am Fens­ter fest­hält. Unten stan­den Feuer­wehr­leute mit Sprung­tü­chern, oben zogen Vopos an ihr, um sie wieder in die Wohnung zurück zu holen. Doch dann fiel sie ins Sprung­tuch, aber die Aufre­gung brachte sie um.
Einige Stun­den später waren die Häuser geräumt und 50 Türen, 37 Läden sowie 1.253 Fens­ter zuge­mau­ert, prak­tisch eine über 20 Meter hohe Mauer!
Regine Hilde­brandt:
»Direkt nach dem 13. August muss­ten wir aber über die Brun­nen­straße, da hatte die Grenze einen Über­gang. Wir muss­ten dann zuerst immer da außen rum, das war ’ne völlig absurde Situa­tion.
Also, am Anfang konnte man da noch ’ne Weile durch, dann wurden die Türen und die Fens­ter zuge­mau­ert, im Parterre. Wir wohn­ten ja Parterre, das war dann das nächste. Dann sind wir ausge­zo­gen, mit Kampf­grup­pen, aus der Bernauer Straße 2 in die Nummer 10, wo gerade aus’m ersten Stock sich jemand abge­seilt hatte. Da sind wir dann ringe­kom­men. Denn wohn­ten wir auf einmal ’ne Etage höher, weil unten alles zuge­mau­ert war. Dis war dann nur ’ne Zwischen­phase, bis Ende Septem­ber, wo wir noch da gewohnt haben. Und denn wurden wir endgül­tig aus der Bernauer Straße alle umge­sie­delt in irgend­wel­che andere Wohnun­gen. Aber vorher, das war die Zeit, als man nicht mehr in die Bernauer Straße in den Westen rein­konnte, aber immer noch raus­ku­cken konnte. Und deshalb konn­ten auf der Straße die Verwand­ten und die Freunde alle kommen und dann konnte man sich wenigs­tens unter­hal­ten. Dann konnte man auch was runter­nud­deln und was hoch­nud­deln. Mein Bruder, mein einzi­ger Bruder, hat sich im Septem­ber noch mit seiner Frau aus dem ersten Stock in der Bernauer 10 abge­seilt, im wahrs­ten Sinne des Wortes mit der Strippe runter. Nach­dem also die Fens­ter und die Türen zuge­mau­ert waren und wir in der Bernauer 10 gewohnt hatten, wollte mein Bruder dann noch rüber nach West­ber­lin abhauen. Und er hat dann seine Frau infor­miert in Dessau und dann sind wir mit’m Motor­rad zurück­ge­fah­ren nach Berlin und sie ist mit dem Zug gekom­men.
Er hatte ja ’nen Ausweis, wo drin stand: Bernauer Straße 10. Aber seine Frau nicht, die war ja aus Dessau. Und jetzt war die Frage, kriegt er sie über­haupt rin in das Haus Bernauer 10, um mit ihr abzu­hauen? Die Vopos haben sie dann aber bequat­schen können und deshalb durf­ten sie dann über’n Fried­hof ins Haus und so konn­ten sie dann abhauen.«

In den folgen­den Mona­ten wurden die direkt an der Grenze stehen­den Häuser Stück für Stück abge­ris­sen. Man ließ nur ein etwa drei­ein­halb Meter hohes Stück der Fassade stehen, als Mauer in Rich­tung West-Berlin. Am 19. Juni 1962 began­nen Bauar­bei­ter mit der Errich­tung einer zwei­ten Sperr­mauer hinter der bishe­ri­gen Mauer. Dadurch entstand ein etwa hundert Meter brei­ter Strei­fen, der aufgrund seiner Bestim­mung bald »Todes­strei­fen« genannt wurde.
1980 wurde die alte »Mauer« dann durch neue, vorge­fer­tige Beton­ele­mente ersetzt, die im Boden veran­kert wurden, vier Meter hoch waren und ganz oben eine Röhren­ab­de­ckung hatten, damit sich niemand daran fest­hal­ten konnte.

Doch trotz aller Sicher­heits­maß­nah­men gab es von Anfang an immer wieder Fluch­ten und Flucht­ver­su­che an der Bernauer Straße. Viele gingen schief, viele klapp­ten auch (siehe das Kapi­tel »Der Tunnel«). Und manche Flucht endete mit dem Zerschel­len des Körpers auf dem West­ber­li­ner Pflas­ter. Wie schon beschrie­ben, versuch­ten viele unmit­tel­bar nach der Grenz­schlie­ßung, ihre Häuser gen Westen zu verlas­sen. Mindes­tens sechs fanden dabei den Tod:
19. August 1961: Rolf Urban (46 Jahre) sprang bei seiner Flucht aus dem ersten Stock und zog sich dabei schwere Verlet­zun­gen zu. Er starb sechs Wochen später.
22. August 1961: Ida Siek­mann (59) sprang aus dem drit­ten Stock der Bernauer Straße 48 und verfehlte das Sprung­tuch.
29. Septem­ber 1961: Olga Segler (80) starb vier Tage nach ihrem Sprung aus dem zwei­ten Stock der Bernauer Straße 34.
4. Okto­ber 1961: Bernd Lünser (22) stürzte bei einem Flucht­ver­such nach Beschuss durch die Grenz­po­li­zei vom Dach des Hauses Bernauer Straße 44 und war sofort tot; sein Freund (Name und Alter unbe­kannt) wurde nach seiner Fest­nahme auf dem Dach dessel­ben Hauses zu Tode geprü­gelt.
5. Septem­ber 1962: Ein unbe­kann­ter Mann (40–50 Jahre) wurde bei einem Flucht­ver­such auf dem Sophien­fried­hof an der Bernauer Straße durch zwei Kopf­schüsse ermor­det.

Aller­dings berich­te­ten Anwoh­ner, dass in manchen Näch­ten immer wieder mal Schüsse aus Rich­tung des Todes­strei­fens zu hören waren. Es ist also anzu­neh­men, dass es dort noch mehr Opfer gab. Erst im Winter 1989/90 war der Spuk been­det, die Mauer an der Brun­nen­straße wieder geöff­net. Hier ist bis heute der Verlauf des ehema­li­gen Grenz­strei­fens noch zu über­se­hen.

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