Dieses Gespräch wurde und uns freund­li­cher­weise von der Himmel­fahrt­kir­che zur Verfü­gung gestellt. Inter­viewt wurden zwei alte Damen Jahr­gang 1926, die beide am Gesund­brun­nen aufge­wach­sen sind. Die behan­delte Zeit rund um den Faschis­mus haben die beiden Freun­din­nen zum größ­ten Teil gemein­sam erlebt. Eine der Damen hat noch bis 1984 bei der AEG in der Brun­nen­straße gear­bei­tet.

Die ersten Jahre haben wir in der Ramler­straße 13 bzw. 21 gewohnt. Zur Schule sind wir die ganzen acht Jahre, von 1932 bis 1940, zusam­men in eine Klasse der Volks­schule in der Graun­straße gegan­gen.
Zur dama­li­gen Zeit wurde, daran kann ich mich noch gut erin­nern, am 9. Novem­ber der Helden­ge­denk­tag began­gen. Da muss­ten wir dann zur Aula rauf. Der große Mittel­gang der Schule war — sehr zeit­an­ge­passt — ausge­schmückt mit Bildern und Fahnen. Unser Klas­sen- und Gesangs­leh­rer hatte eher Wander­lie­der am Klavier locker leicht vorbe­rei­tet, nicht so Marsch­mu­sik usw. Aber es war aus meiner heuti­gen Sicht der poli­ti­sche Wille der Macht­ha­ber spür­bar.
Poli­tik war kein direk­tes Fach, wir haben aber ein Führer­bild im Klas­sen­raum gehabt. Wir haben solche Lieder und Gedichte gelernt. Geschicht­li­che Daten wie die Münch­ner Feld­her­ren­halle usw. muss­ten wir natür­lich lernen. Aber es wurde uns nichts direkt einge­häm­mert.

Wir hatten regel­mä­ßig Reli­gi­ons­un­ter­richt. Zwei jüdi­sche Schü­ler kamen morgens später, wenn wir evan­ge­li­schen Unter­richt hatten, das fiel uns natür­lich auf.
Unse­ren Klas­sen­leh­rer hatten wir insge­samt fünf Jahre. Zunächst soll­ten wir Fräu­lein L. bekom­men, die war aber Halb­jü­din und musste weg von der Schule. Da hat uns Herr S. über­nom­men, später wurde er Rektor.
Man wusste auch, aus welchem Haus die einzel­nen Mitschü­ler kamen. Arbei­ter und sowas. Dass ich z.B. aus einem Geschäfts­haus­halt kam, wusste man natür­lich. Das wirkte sich dann aus bei Klas­sen­fahr­ten und Ausflü­gen, bei dem Geld. Zum Beispiel bei einer Fahrt nach Stet­tin hat Herr S. meine Eltern ange­spro­chen, ob sie etwas mehr geben konn­ten, damit alle mitkom­men können. Die Fahrt nach Stet­tin war sehr schön, wie wir da am Hafen stan­den. Ich kann mich erin­nern, dass meine Tante in Ahlbeck Urlaub machte und uns dort besuchte und uns mit Obst versorgte.

Zu Beginn des Krie­ges muss­ten wir dann ganz schnell zurück. Einige unse­rer Mitschü­ler haben ihre Väter nicht mehr gese­hen, weil sie zum 1. Septem­ber schon einge­zo­gen waren.
Es waren viele von ihnen Arbei­ter, Stra­ßen­bahn­bauer, beim Magis­trat, Post­bote, bei der AEG, Müll­kut­scher, Stra­ßen­fe­ger oder Gleis­ar­bei­ter (»Ritzen­schie­ber«). Uns gegen­über war ein Konfek­tio­när, ein Zwischen­meis­ter. Eine Mutter hatte eine Knopf­loch­ma­schine und arbei­tete zu Hause. Von einem Mitschü­ler weiß ich, der Vater war Vertre­ter. Verschie­dene Väter waren bei der AEG oder Siemens. Jeden­falls war das hier ’ne reine Arbei­ter­ge­gend.
Wir durf­ten viel auf dem Hof spie­len. Wir sind rumge­lau­fen, auf dem Gelän­der rumge­klet­tert, auch auf die Millio­nen­brü­cke geklet­tert. Wir haben Hoppse auf der Straße gespielt, sind aber auch zum Humboldt­hain gezo­gen, das war aber schon weit weg. Wir sind also mehr oder weni­ger am Haus geblie­ben. Wenn wir zum Humboldt­hain gingen, war immer irgend­eine Mutter dabei, soweit die Mütter das konn­ten. Unsere Mütter muss­ten ja auch arbei­ten, die eine im Geschäft, die andere hat gebü­gelt. Am späten Nach­mit­tag, wenn teil­weise die Eltern schon wieder zu hause waren, konn­ten wir noch vor die Tür, die Stra­ßen des klei­nen Karrees oder gar das große Karree ablau­fen. Das war schon sehr viel.

Einkau­fen gingen wir, jeden­falls ich mit meiner Mutter, zum Rosen­tha­ler Platz. Da war Wert­heim und Schuh-Leiser und in der Inva­li­den­straße waren Geschäfte, da haben wir auf Kredit gekauft. Auch in die Acker­halle hatte mich meine Mutter, als ich größer war, mit elf oder zwölf Jahren, von der Ramler­straße bis zur Inva­li­den­straße geschickt, um dort einzu­kau­fen. Da konnte man ja dann auch anschrei­ben und nach einer Woche bezah­len. Vieles wurde über­haupt über Anschrei­ben in dieser Zeit gekauft, das wurde in den Geschäf­ten »aufad­diert«. Auch mein Groß­va­ter im Geschäft musste abends die Hefte und Listen aufad­die­ren und zum Frei­tag mit vielen Schwie­rig­kei­ten die wöchent­li­chen Beträge einzie­hen. Das war so bei Milch­ge­schäf­ten, bei Gemü­se­ge­schäf­ten und Fleisch­ge­schäf­ten.

Die Lebens­um­stände waren sehr beschei­den. Übli­cher­weise gab es nur Stube und Küche, da haben dann durch­aus vier bis fünf Perso­nen drin gewohnt. Und die Toilette war oft eine halbe Treppe tiefer. Schon ein biss­chen besser war es, wenn zwei Stuben und Küche waren. Da war aber so viel abge­knapst worden, dass es von der Wohn­flä­che wieder verlo­ren ging. Da wurde z.B. eine Mauer vom Boden bis zur Decke gezo­gen. Da, wo es eine Innen­toi­lette gab, war darüber der so genannte Hänge­bo­den.
Es war anfangs durch­aus noch Gasbe­leuch­tung in den Wohnun­gen. In den 30er Jahren kam elek­tri­sches Licht. Aber wir waren vornehm, weil wir im Vorder­haus wohn­ten, wegen des Geschäfts, wir hatten früher elek­tri­sches Licht. Unsere Wohnung hatte auch schon eine Toilette, aber kein Bad.

Als 1932, ich war da sechs Jahre alt, meine Eltern eine Wohnung gesucht hatten, da war auch schon Wohnungs­knapp­heit. Eine Wohnung vorn in der Ramler­straße wurde besich­tigt, bei der meiner Mutter nicht gefal­len hat, dass man durchs Wohn­zim­mer in die Küche musste.
Ich kann mich erin­nern, wenn wir irgendwo raus­ge­fah­ren sind, mein Opa war schon immer so ein Auto­narr, dann konn­ten dort »Fami­lien Kaffee kochen«. Und wenn ich mit Opa ein Stück Kuchen bestellte, sagte der immer: Nicht Oma sagen, denn Oma meinte, den Kuchen könne man auch von zu Hause mitneh­men, das ist Verschwen­dung.
Wir wurden beschei­den geklei­det. Dass wir dreckig und zerlumpt rumlie­fen, kann ich mich nicht erin­nern. Wir wurden sauber gehal­ten.

Unsere Clique war auch toll. Ja, aber es gab einige Probleme zwischen den Eltern, wegen der Deut­schen Chris­ten. In der Wohnung des Pfar­rers Werder wurde für 30–40 Perso­nen gekocht und Kaffee und Kuchen vorbe­rei­tet. Viele Menschen wurden dort durch­ge­schleust. Meine Mutter hat viel dort ausge­hol­fen. Mitte der drei­ßi­ger Jahre, mit acht bis zehn Jahren, habe ich noch nicht so viel mitge­kriegt. Ich kann mich erin­nern, dass Pfar­rer Werder gele­gent­lich ohne Talar zum Gottes­dienst kam. Natür­lich nicht bei der Konfir­ma­tion. Da ging der Zug über die Brun­nen­straße, da hat sogar ein Schupo gestan­den und die Konfir­man­den unge­hin­dert über die Straße gelas­sen, es werden 230 Konfir­man­den gewe­sen sein. Es musste in der alten, noch stehen­den, Frie­dens­kir­che gebib­bert werden, weil Herr Werder nicht in die Himmel­fahrt-Kirche einge­las­sen wurde. Pfar­rer Werder war eine Seele von Mensch, der sich in alle Probleme rein dachte, während seine Frau sehr streng war. Sie hatte zwar Erzie­he­rin gelernt, konnte aber nicht aus sich heraus gehen.

Es wurden bei uns, von Pfar­rer Werder orga­ni­siert, Feri­en­plätze orga­ni­siert. Man musste etwas zuzah­len und dafür war man dann in den großen Ferien vier Wochen von der Straße weg. Es wurden vier Grup­pen gebil­det. Ich war beispiels­weise mal mit 250 Kindern hinter Zossen, ein ande­res Mal in Falken­see, Grön­heide. Das war von der Kirche bezahlt worden. Außer Morgen- und Mittags­ge­bet wurden wir nicht christ­lich bekniet. Es wurde sehr fröh­lich zusam­men­ge­hal­ten, etwas Bota­nik wurde vermit­telt, Pfad­fin­der­spiele waren orga­ni­siert worden. Es war kirchen­na­hes Betreu­ungs­per­so­nal tätig, weit­ge­hend ehren­amt­lich. Die Pfar­rer kamen Sonn­tag Nach­mit­tag, sie hatten ja in der Gemeinde viel zu tun. Wir als Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren muss­ten unsere Betten selbst machen, beim Gemü­se­put­zen helfen, das Geschirr raus­brin­gen und abwa­schen. Wir muss­ten auch einkau­fen, z.B. mit zwei Wasch­kör­ben morgens Bröt­chen holen usw. Wir haben Beeren gesam­melt, die dann als Nach­tisch gereicht wurden. Dabei wurden wir dazu erzo­gen zusam­men­zu­hal­ten, es gab keinen Knietsch und Knatsch und keine Dresche dabei.

Zur Schul­spei­sung fällt mir noch ein: Da wurden wohl die häus­li­chen Verhält­nisse über­prüft, ich bekam kein Essen, weil ich ja im Lebens­mit­tel­la­den lebte. Ich war immer trau­rig, dass ich nicht, wie die ande­ren z.B. Kakao oder Suppe aus dem großen Kübel erhielt. Da habe ich immer mein Brot getauscht, weil mir das natür­lich viel besser geschmeckt hat.
Am S‑Bahnhof Gesund­brun­nen, wo heute Klein­ge­werbe ange­sie­delt ist, waren auch damals schon kleine Betriebe, Kohlen­hand­lun­gen usw. Da bin ich an der Bahn­mauer wunder­schön immer runter­ge­rutscht. An der Swine­mün­der Brücke war ja früher ein zwei­ter S‑Bahn-Eingang für die Leute auf der andern Seite. Da gab es auch hölzerne Fahr­kar­ten­schal­ter von der Brücke aus.

(Frage nach dem Krieg)

Wir sind nicht ausge­bombt worden. Dadurch, dass durch die Flak­türme im Humboldt­hain wohl eini­ges abge­fan­gen wurde, sind wir rela­tiv wenig betrof­fen worden, wenn auch einige Freun­din­nen, z.B. in der Gleim­straße, völlig ausge­bombt wurden. Brand­bom­ben wurden von den Haus­be­woh­nern gelöscht. Hier in der Swine­mün­der und Putbus­ser Straße war alles weg. In der Putbus­ser waren die ersten Ruinen über­haupt.
Durch die vielen Bomben­an­griffe hieß es natür­lich immer: Komm bloß gleich nach Hause, es kann gleich wieder Flie­ger­alarm geben. Das führte dazu, dass man sich gar nicht mehr sah. Ich bin dann oft mit der Oma in den Bunker im Humboldt­hain gelau­fen, weil wir immer dach­ten, dass die Eckhäu­ser (wir wohn­ten ja in einem Eckhaus) getrof­fen werden könn­ten, etwa um die verkehrs­wich­tige Millio­nen­brü­cke zu vernich­ten.
Andere sind immer zu Hause geblie­ben. Man ging in den Haus­kel­ler, viele Männer waren ja nicht mehr da. So war etwa in einem Haus hier ein beson­ders Nazi-treuer Mann, Luft­schutz­wart. Der hat den Frauen mit Kindern beim Einschla­gen von Bomben in der Nach­bar­schaft verbo­ten, zu wimmern und zu weinen: »Deut­sche Frauen weinen nicht, wenn die Männer drau­ßen sind.« Wenn Söhne oder Männer gele­gent­lich auf Urlaub nach Hause kamen, stell­ten sie fest, dass es hier viel schlim­mer ist als drau­ßen. Einige andere in diesen Keller­ge­mein­schaf­ten haben aber dann mit Umsicht und Vernunft gehol­fen.

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