Als Callboy bei Otto

Beim Aufräumen alter Unterlagen habe ich vor einiger Zeit einen Vertrag gefunden, den ich längst vergessen hatte. Geschlossen habe ich ihn vor 35 Jahren mit meinem schwulen Kollegen Johnny. Der hatte behauptet, genau zu wissen, dass ich irgendwann eine Frau heiraten würde, was ich aber energisch abstritt. Der Vertrag legt fest, dass wir uns 50 Jahre später wieder treffen würden. Wäre ich dann verheiratet, müsste ich ihm pro vergangenem Jahr 50 DM Strafe zahlen, insgesamt also umgerechnet rund 1.250 EUR. Andernfalls muss er es an mich zahlen. Derzeit sieht es so aus, dass ich mich im Jahr 2030 über einen finanziellen Zuschuss zu meiner dann vermutlich winzigen Rente freuen kann.

Der Kollege arbeitete 1980 genau wie ich beim Otto-Versand. Nicht in Hamburg, sondern in einem kleinen Großraumbüro, das in einer Passage zwischen der Joachimthaler und der Meinekestraße in Charlottenburg lag. Das Haus existiert noch, die Passage nicht. Dort befand sich ein Callcenter mit etwa 10 bis 12 Schreibtischen, auf denen „Computer“ standen. Es waren Kisten mit Bildschirmen, die etwa die Größe zweier Postkarten hatten. Grüne Schrift lief auf schwarzem Hintergrund, eine grafische Oberfläche gab es nicht, nur Text. Fest an den Geräten angebracht war außerdem eine Tastatur.
Doch es waren keine eigenständigen Computer, sondern die Teile hatten eine Verbindung zum Zentralrechner in Hamburg. Die lief über die Telefonleitung und wenn der Rechner mal Husten hatte (mindestens einmal am Tag), dann war die Verbindung unterbrochen und wir konnten nichts machen. Ich war fasziniert von dieser Technik und wünschte mir, auch später die Möglichkeit zu haben, mit Computern zu arbeiten. So kam es dann auch.

Normalerweise nahm ich mit einem Headset auf dem Kopf einen Anruf entgegen. Die Kundin (es waren fast immer Frauen) gab entweder ihre Bestellung auf oder beschwerte sich:
„Wo ist mein Kleid?“
„Wie bitte?“
„Ich möchte wissen, wo mein Kleid ist.“
Natürlich durfte man nun nicht das antworten, was angebracht gewesen wäre, wie „Vielleicht haben Sie es ja an“ oder „Sicher ist Ihr Mann damit gerade auf einer Transvestitenparty“. Stattdessen musste man freundlich sein und so tun, als wolle man das Problem gemeinsam mit ihr lösen.
Die Suche nach vermissten Bestellungen gehörte also genauso dazu, wie die psychologische Betreuung. Ob denn eine bestimmte Bluse besser zur Kundin passen würde, als eine andere. Dabei wusste ich weder, wie die Kundin aussah, noch das Kleid. Täglich gab es auch Geschichten von der Familie, von Freundinnen usw. Lauter Dinge, die mich kein bisschen interessierten.

Der Raum hatte auch einen öffentlichen Bereich, manche Kunden brachten bestellte Waren dort hin, um sie umzutauschen. Wenn eine Hose zu knapp war, wollten sie sie eine Nummer größer. Manch einer hat nicht verstanden, dass es sich um das Büro eines Versandhauses handelte, nicht um ein Kaufhaus. Und dass es dort keine Hose in anderer Größe gab. Ich lernte damals, gleichzeitig freundlich zu sein und meine wahren Gedanken nicht auszusprechen.
Geöffnet war von morgens um 8 bis 22 Uhr. Die Spätschicht war mir am Liebsten – schon damals spielten sich wesentliche Teile meines Lebens nachts ab. Zwischen 20 und 20.15 Uhr rief selten jemand an, da saßen alle vor der Glotze und schauten die Tagesschau. Liefen beliebte Filme im Fernsehen, war schon vorher klar, dass es eine ruhige Schicht werden wird.

Abends war außerdem der Chef nicht da. Tagsüber hatte ich ihn dafür umso öfter als Hals. Besser: Am Kopf. Immer wieder stellte er sich während der Arbeit hinter mich und streichelte mir über die Haare. Zwar kontrollierte er alle Angestellte auf diese Art, bei den anderen jedoch ohne das Anfassen. Ich fand das nicht angenehm, aber auch nicht weiter schlimm, zumal ich ihn eigentlich mochte. Mir war klar, dass er zu verklemmt war, um mehr als das zu fordern. Dafür wusste ich es aber auszunutzen, dass er mich so mochte. Wenn ich keine Lust auf eine Schicht hatte oder unbedingt den neusten Rechner benutzen wollte – kein Problem. Ich war wohl der einzige Angestellte, dem er auch mal Frühstück mitbrachte oder kleine Geschenke machte. Die anderen Angestellten bekamen das alles natürlich mit und machten sich darüber lustig, ganz besonders Johnny, der offen schwul lebte. Sie merkten aber auch, dass ich das ausnutzte, jedoch nicht gegen sie gerichtet. Deshalb hatte ich zu fast allen ein prima Verhältnis.

Irgendwann wollte ich eine Lohnerhöhung. Ich setzte mich in das Büro des Chefs und wir besprachen das. Er rückte immer näher, legte eine Hand auf meinen Oberschenkel und streichelte ihn langsam. Ich konnte fühlen, wie erregt und aufgeregt er war, hatte für mich aber auch klar, nicht mehr als das zuzulassen. Meine Verhandlungsposition war eindeutig die bessere und so bekam ich meine Lohnerhöhung wie gewünscht.

Als ich eines Tages keine Lust mehr auf den Job hatte, kündigte ich. Mein Chef war traurig, auch meine Kollegen. Aber er war auch sauer, weil ich ihn „im Stich“ ließ. Dieses Argument habe ich bis heute nicht verstanden. Anders als manche anderen Kollegen konnte ich zwar souverän mit dem Rechner umgehen, aber abhängig war der Otto-Versand von mir sicher nicht.
Einige Monate später brauchte ich wieder eine Arbeit, marschierte dort rein und bekam meine Anstellung sofort wieder. Diesmal hatte ich allerdings keine Lust mehr auf die Annäherungen, daher war es nur noch ein Spiel weniger Wochen, bis ich erneut arbeitslos war.

In 15 Jahren jedenfalls werde ich mich auf die Suche nach meinem damaligen Kollegen Johnny machen, um meinen Wettgewinn einzufordern.

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