Zehn Tage her sind die Anschläge von Paris, bei denen 130 Menschen getötet wurden. Nach allem was bisher bekannt ist waren die meisten der Täter junge Leute, die in Frankreich und Belgien aufgewachsen sind, in den Vororten von Paris und Brüssel. Sie wurden in Westeuropa sozialisiert, waren keine eingeschleusten IS-Terroristen aus dem Nahen Osten.
Die Überraschung ist also groß, sie gehörten “zu uns”. Nein, das taten sie eben nicht. Denn mehr noch als in Deutschland werden Menschen mit arabischer Migrationsgeschichte von der französischen und belgischen Gesellschaft abgelehnt und ausgegrenzt. Sie sind weit weniger integriert, als z.B. hier in Berlin die türkischen Einwanderer und ihre Kinder und Enkel. Viele von ihnen leben in den Pariser Vororten, die abschätzig “Banlieue” (Bannmeilen) genannt werden. Diese bestehen zum einen aus normierten Hochhausghettos, zum anderen aus heruntergekommenen kleinen Altbauvierteln, die teilweise bis in die 1980er Jahren noch nicht mal an die Kanalisation angeschlossen waren.
Wer hier seine Kindheit verbringt weiß, dass er sich mit einer solchen Adresse in der Pariser Innenstadt nirgends um einen Job bewerben braucht. Was die Rechten in Deutschland mit dem Kampfbegriff “Parallelgesellschaften” bezeichnen — hier existieren sie tatsächlich. In manche der Viertel kommt die Polizei nur mit Mannschaftswagen, und auch innerhalb der Wohnquartiere gilt vor allem das Recht des Stärkeren. Nicht viel anders sieht es in manchen Vororten von Brüssel aus.
Es ist klar, dass dort diejenigen Einfluss haben, die am besten organisiert sind, die über Kontakte und Geld verfügen. Zunehmend sind es extremistische Islamisten, die in Saint-Denis (Paris) oder Molenbeek (Brüssel) die Gesellschaften kontrollieren. Statt Jobperspektiven anzubieten, Freizeitstrukturen und Bildungseinrichtungen präsentiert sich der Staat fast nur noch durch die Polizei. Da ist es kein Wunder, wenn andere Machtverhältnisse entstehen. Menschen ohne Perspektive sind nicht nur bemitleidenswert, sondern auch leichte Beute für Seelenfänger, die einfache Lösungen anbieten.
Ein Teil der identifizierten Täter waren nachweislich vor ein, zwei Jahren noch unreligiös, mit einem “Islamischen Staat” hatten sie überhaupt nichts am Hut. Der Bruder einer der beteiligen Frauen sagte jetzt in einem Interview: “Sie hatte sich bis dahin nie mit Religion befasst, ich habe sie nie einen Koran aufschlagen sehen.”
Natürlich ist persönliche und gesellschaftliche Armut keine Rechtfertigung dafür, andere Menschen umzubringen. Aber es ist eine Erklärung, weshalb diese jungen Leute, die eigentlich Opfer waren, zu Tätern wurden.
Es ist sehr wichtig, diese Erklärung zu begreifen. Denn der Staat reagiert wieder nur mit Repression. In Paris und massiv diese Nacht in Brüssel wird auf diejenigen eingeschlagen, die potenziell verdächtig sind. Vielleicht sind ja wirklich Leute darunter, die aktuell Attentate planen. Die müssen natürlich daran gehindert werden. Aber es ist politischer Wahnsinn, wenn der Staat wie üblich nur mit Gewalt reagiert. Es sind doch Hunderttausende, denen damit weiterhin gesagt wird: “Ihr gehört nicht zu unserer Gesellschaft, wir wollen euch nicht. Für uns seid ihr alle potenzielle Terroristen und deshalb unterdrücken wir euch.”
Es ist die alte Weisheit, die aber von den Regierenden fast nie beherzigt wird: Unterdrückte Menschen wehren sich irgendwann. Terroristen wachsen nicht einfach so, sie werden fast immer von den Verhältnissen gemacht. In Deutschland hat das interessanterweise schon vor 130 Jahren Otto von Bismarck erkannt, der gewiss kein Sozialromantiker oder Gutmensch war. Trotzdem führte er eine allgemeine gesetzliche Krankenversicherung und später die Rentenversicherung ein, um gar nicht erst eine revolutionäre Stimmung in der Bevölkerung aufkommen zu lassen: “Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen.”
Leider hat der französische Präsident Hollande noch in der Nacht der Pariser Anschläge von Krieg gesprochen, den man führen werde. Er hat nicht gesagt, dass man versuchen will, die Ursachen für die Radikalisierung der Jugend zu erkennen und zu beseitigen.
Das ist populistisch und dumm und wird das Erstarken seiner politischen Widersacher von der rechtsextremen Front National kaum verhindern. So wie jetzt in Deutschland die CSU, AfD, Pegida und NPD die Flüchtlinge (die zum großen Teil vor den Extremisten geflohen sind) als potenzielle Terroristen hinstellen, stehen in Frankreich auch alle arabisch-stämmigen Bürger unter Generalverdacht.
Die Regierenden in Frankreich, Belgien oder Deutschland täten gut daran, die Polarisierung der Bevölkerung zu beenden und die Immigranten und deren Nachkommen endlich als Teil der Gesellschaft zu akzeptieren und entsprechend zu behandeln. Kriegserklärungen sind dabei mit Sicherheit der falsche Weg.
Schreibe den ersten Kommentar