Ein eigenes Zuhause

Der Mann ist schmut­zig, Gesicht und Hände, Mantel und Hose wurden schon lange nicht mehr gewa­schen. So wie er im Glit­zer­licht des Sony-Centers am Rand steht und die Hand aufhält, ist er das totale Gegen­stück zu den Touris­ten, Büro­men­schen und Kino­be­su­chern. Alle igno­rie­ren ihn, nicht mal ein Kopf­schüt­teln geben sie ihm, es ist, als würde er gar nicht exis­tie­ren. Ob er das als zusätz­li­che Demü­ti­gung empfin­det? Viel­leicht ist er mit den Jahren auf der Straße schon so abge­stumpft, dass es ihm nichts mehr ausmacht. Als der Wach­schutz kommt und ihn vom Gelände verweist, geht er mit seinem Ruck­sack und den Tüten betont lang­sam, ein klei­ner stil­ler Protest, ansons­ten aber schweigt er.

Warum wird er so behan­delt? Er macht nicht den Eindruck, als könnte er für irgend jeman­den eine Gefahr darstel­len. Man will ihn wohl einfach nicht dort haben, ihn nicht sehen, er stört das sauber funkelnde Glas­pa­ra­dies der Hotels, Restau­rants und Edel-Stores. “Eure Armut kotzt uns an” hieß mal eine sarkas­ti­sche Parole in den 90ern, aber genau das findet hier statt. Viel­leicht wollen die Menschen keine Obdach­lo­sen sehen, weil sie wissen, dass es sie auch selbst mal tref­fen könnte? Angst ist ein star­kes Gefühl, das schnell in Hass umschla­gen und zu Gewalt werden kann. Manche Passan­ten reagie­ren schon aggres­siv, wenn sie nur einen der soge­nann­ten Stadt­strei­cher sehen, dabei sind die norma­ler­weise ganz harm­los und spre­chen einen noch nicht mal an.

Anfang der 80er Jahre war ich lange unter­wegs. Deutsch­land, Europa, auch Asien. In den Fußgän­ger­zo­nen von München, Straß­burg und Kopen­ha­gen habe ich gelernt, dass zu offen­si­ves Auftre­ten schnell dane­ben­ge­hen kann. Leben auf der Straße heißt vor allem, mit sich allein zurecht kommen zu müssen, selbst wenn man eigent­lich die Hilfe ande­rer Menschen braucht. Dabei hatte ich es noch gut, mein Clochard­le­ben war selbst­ge­wählt und ich konnte es auch wieder been­den. Als ich mal eine Woche lang unun­ter­bro­chen im belgi­schen Regen stand, hatte ich von Gent und dem Leben auf der Straße genug. Auch wenn ich keine eigene Wohnung hatte, so gab es doch Orte, zu denen ich hin konnte und wo ich will­kom­men war. Damals habe ich erkannt, wie schlimm es sein kann, nirgendwo hinzu­ge­hö­ren, keinen eige­nen Platz zu haben. Und nieman­den, den es inter­es­siert, ob es einem gut geht.

Wir nehmen es heute als selbst­ver­ständ­lich hin, abends nach Hause kommen zu können, in eine trockene und warme Wohnung, in der man sich schnell noch­mal duschen und etwas zum Essen machen kann. Ein eige­nes Zuhause zu haben ist ein Schatz. Aber diese Sicher­heit kann inner­halb weni­ger Monate veschwin­den, jeder Halt zerbre­chen. Plötz­lich steht man da, ohne Wohnung, ohne Geld, ohne Eigen­tum, und vor allem ohne Perspek­tive. Auch die Stadt­strei­cher von heute hatten mal ein anders Leben, sie kommen oft aus bürger­li­chen Verhält­nis­sen, haben beruf­lich Karriere gemacht. Wer weiß schon, was sie aus der Bahn gewor­fen hat. Doch niemand von ihnen verdient es, deshalb abge­lehnt oder beschimpft zu werden. Im Gegen­teil: Gerade jetzt im Winter könnte man ihn am Imbiss zu einem heißen Tee oder Kaffee oder zu einer Wurst einla­den. Die zwei Euro wären gut ange­legt, denn man zeigt einem Hilfs­be­dürf­ti­gen, dass man ihn als gleich­wer­ti­gen Menschen respek­tiert.

In der vergan­ge­nen Nacht stand ich neben einer Park­bank hinter dem Sony-Center. Jede Nacht lag hier der Mann, nicht sehr alt, den ich am Anfang beschrie­ben habe. Manch­mal, wenn er noch wach war, habe ich ihm mein Pausen­bröt­chen gege­ben, er hat es immer abge­lehnt, aber dann doch geges­sen, nach­dem ich es auf seinen Ruck­sack gelegt habe und wegge­gan­gen bin. Nun war die Bank leer und ich mache mir Sorgen.

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2 Kommentare

  1. Hallo,

    auch ich finde die Art der Menschen unmög­lich die Leuete von der Straße so zu meiden. Ich denke mir auch, dass der Eine oder Andere wirk­lich Angst hat so zu enden und dann gemie­den zu werden. Die Leute geben so viel Geld für Quatsch aus da wäre ein wenig Essen oder Euros doch eine Klei­nig­keit. Ich selber habe schon meine Stamm­kun­den die ich unter­stütze, in der Bahn und auf den Bahn­hö­fen. Manch­mal kommt ein neuer Kunde dazu weil ich wieder mal an vergan­gene schlechte Zeiten denken muß.

    Doris

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